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E-Book

Chatwins Guru und ich

Meine Suche nach Patrick Leigh Fermor

AutorMichael Obert
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783492977210
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Generationen von Reisenden verehren ihn, für Bruce Chatwin war er der »letzte Guru«, und auch Michael Obert bewegt sich in der Tradition des ältesten schreibenden Vagabunden: Patrick Leigh Fermor. 1933 wanderte der Engländer zu Fuß von Rotterdam nach Istanbul; für Obert steht er am Anfang seines eigenen Umherschweifens. Als er erfährt, dass Fermor noch leben soll, macht er sich auf die Suche nach dem fast Hundertjährigen. Es ist eine Pilgerfahrt mit ungewissem Ausgang. Obert reist von Berlin über Wien nach Pressburg, durch Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Albanien bis auf den südlichen Peloponnes. Dabei erkundet er einen ihm fremden Teil der Welt. Seine Begegnungen münden in ein ebenso persönliches wie poetisches Porträt Osteuropas. Wird der Reisende am Ende seinen Mentor finden?

Michael Obert, 1966 in Breisach am Rhein geboren, studierte Betriebswirtschaft und arbeitete längere Zeit im mittleren Management, bis er zu einer zweijährigen Reise durch Lateinamerika aufbrach. Anschließend begann er ein neues Leben als Buchautor und Journalist. Seine ausgedehnten Reisen führten Michael Obert nach Mittel- und Südamerika, in den Südpazifik, nach Asien und Afrika. In seiner Reiseerzählung »Regenzauber« erzählt er von seiner siebenmonatigen Reise von der Quelle bis zur Mündung des Niger, wofür er mit dem Globetrotter-Buchpreis ausgezeichnet wurde. Zuletzt von ihm erschienen: »Die Ränder der Welt. Patagonien, Timbuktu, Bhutan & Co.« sowie »Chatwins Guru und ich. Meine Suche nach Patrick Leigh Fermor«. Wenn Michael Obert nicht auf Reisen ist, lebt er in Berlin.  

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Leseprobe

BERLIN


Dass ich los muss, aufbrechen, ihn suchen – sofort. Ich wusste es im Moment, als ich erwachte und in tiefster Dunkelheit die Augen aufschlug, ohne eine entfernte Ahnung davon zu haben, wo ich mich befand. Ein kaum hörbares Summen vibrierte im Raum, wie von einem Falter, der sich aus seiner Puppe befreite, die staubigen Flügel straffte und sie ganz in der Nähe meines Ohrs zum ersten Mal vibrieren ließ. Das Geräusch riss ab, ich sah verschwommen ein Fenster, Licht fiel herein, streifte mich und erlosch wieder, während jemand langsam, sehr langsam an meinen Linsen drehte, bis meine Netzhäute ein scharfes Bild empfingen. Vor dem Fenster erkannte ich kahle Zweige, die sich vom Nachthimmel abhoben: ein Baum, die Buche, die Buche in meinem Hinterhof – ich lag in meinem Bett, zu Hause.

Die Uhr zeigte kurz vor vier, Ostermontag, Tag der Auferstehung. Ich schob das Leintuch beiseite und stieg aus dem Bett. Es war eine ganz selbstverständliche Bewegung, und dennoch schien etwas Besonderes in ihr mitzuschwingen, das versponnene Netz eines Plans, der sich mir nur ansatzweise erschloss. Würde es dort, wo ich hinreiste, regnerisch sein? Windig oder kalt? War das wichtig? Ich packte, wie ich immer packte, mechanisch, wie in Trance, stopfte die üblichen Sachen in meinen Seesack, der seinen Platz neben dem Schrank hatte, ohne jemals ganz ausgepackt zu werden, ließ die Verschlüsse zuschnappen, nahm die Bücher aus dem Regal – seine Bücher –, verstaute sie in der Außentasche und sah meine Papiere durch; dann schor ich meinen Kopf, schnitt Finger- und Fußnägel, duschte den Schlaf von der Haut, ließ alles Unnötige zurück und trat hinaus auf die Straße.

Als ich die kalte Nachtluft einsog, verspürte ich etwas wie Erleichterung. Ein Reinigungs-wagen bog um die Ecke, zwischen den Rädern schrubbten runde Bürsten über den Gehweg. Über den Fassaden ragten steile, dunkle Dächer einer tief hängenden Wolkendecke entgegen, die tagelang keinen Sonnenstrahl durchlassen würde. Und dann regnete es. Die ersten Tropfen zersprangen auf dem Asphalt wie Glaskugeln. Im Sommer hätte sich der Regen in einen trügerischen Dunst verwandelt, um aus dem Innersten der Straße eine schmerzhafte Euphorie aufsteigen zu lassen. So jedoch lag im gespannten Zittern der kleinen Perlen, die hier und da in der Nacht glitzerten, lediglich eine Ahnung von den kreisenden Zyklen der Dinge, von Anfängen und Enden, die sich immerzu wiederholten und sich gegenseitig jagten, bis sie nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren.

Dieses Mal würde es ein Anfang sein, eine Geburt – meine Geburt.

Meine Schritte beschleunigten sich, ich gehe, ah, wie gut das tut, dass ich gehe, Ampeln blinken orangerot, der eisige Wind weht Müll über verwaiste Kreuzungen, einem U-Bahn-Schacht entströmt der schale Geruch von Schweiß und schlechtem Atem, von Menschenmassen mit hängenden Mundwinkeln. Ich bin unterwegs, es regnet, es ist Nacht; mit einem Mal überkam mich das überwältigende Gefühl, der einzige Mensch in dieser großen Dunkelheit zu sein. Im Osten, am Ende der Häuserfluchten, schien ein bleigrauer Streifen am Himmel auf. Ich lief ihm entgegen, den halb vollen Seesack geschultert, an der Schwelle zwischen Nacht und Tag, einem Übergang, an dem alles geschehen konnte.

 

Der Frau hinter dem Schalter am Ostbahnhof standen die Strapazen der Ostermast ins Gesicht geschrieben. Aufgetriebene Backen pressten ihre Lippen zu einem rot bemalten Vogelmund zusammen, ihr sonst akkurat frisiertes Haar war um den Scheitel verklebt. Sie trug eine hellblaue Bluse und ein seidenrotes Halstuch, die Schulterpartien ihrer dunklen Jacke waren mit etwas bestäubt, das aussah wie zerriebene Haferflocken.

»Wohin?«, fragte sie gequält, als ich vor sie trat.

Ja, wohin eigentlich? Streng genommen konnte ich mir nicht einmal eine Fahrt mit der S-Bahn leisten. Ich hatte ein Jahr lang über eine Reise zum Popocatépetl geschrieben, über meine Begegnung mit den Bauern, die am Fuß dieses aktiven mexikanischen Vulkans leben und in ihren Träumen mit der Naturgewalt kommunizieren – ein Buch, das am Ende niemand drucken wollte. Ich war völlig abgebrannt, meine Beziehung zerbrochen, meine Wohnung löste einen Hustenreiz aus, sobald ich sie betrat, und auf meinem Schreibtisch stapelten sich unerledigte Aufträge für schlecht bezahlte Reportagen.

Mein Leben lag wieder einmal in Scherben, und das Reisen, dieses ewige Herumziehen, so schien mir, war verantwortlich dafür. Doch anstatt zu arbeiten, eine annehmbare Wohnung zu finden und wieder auf die Beine zu kommen, wollte ich mir nun eine Fahrkarte kaufen, um einen steinalten Briten zu suchen, von dem ich nicht wusste, ob er sich dort aufhielt, wo ich ihn vermutete, ob er überhaupt noch am Leben war, ob ich –

»Wohin?«, knurrte die Bahnfrau.

»Nach Griechenland«, hörte ich mich sagen.

Der feste Klang meiner Stimme überraschte mich. Ich wiederholte das Wort, um mich zu vergewissern, dass ich es selbst ausgesprochen hatte, und dann lachte ich laut und rief: »Nach Griechenland! Nach Griechenland!«

Die Bahnfrau warf einen verunsicherten Blick in die leere Schalterhalle; dann zwinkerte sie mir verschwörerisch zu und flüsterte: »Mit dem Flugzeug wären Sie in zwei, drei Stunden dort.«

Ich dachte daran, dass er den ganzen Weg zu Fuß gegangen war, dass seine Wanderung mehr als ein Jahr gedauert hatte. Ich konnte unmöglich das Flugzeug nehmen, nein, fliegen kam nicht infrage. Die Frau seufzte und begann, ihre Tastatur zu bearbeiten. Zerriebene Haferflocken lösten sich aus ihrem Haar und rieselten auf ihre Schultern. Schweiß perlte auf ihrer Stirn.

»10 Uhr 46«, sagte sie. »Ankunft in Athen um 5 Uhr 19, morgen früh, nein, nicht morgen, übermorgen.«

Ich schob ihr meine Kreditkarte hin, während sie versuchte, den Fahrpreis zu ermitteln.

»Der Computer findet das Teilstück für Serbien und Mazedonien nicht«, behauptete sie nach einer Weile. »Ich kann Ihnen leider keine Fahrkarte ausstellen.«

»Und jetzt?«

Sie überlegte kurz.

»In zwanzig Minuten fährt ein Zug nach Wien«, sagte sie schließlich und schenkte mir ein strahlendes Lächeln. »Das ist zumindest schon mal Ihre Richtung.«

Der Zug fuhr mit einem Ruck an, wenig später explodierten die Lichter des Ostbahnhofs in den Regenschlieren am Fenster, ein regelrechtes Feuerwerk über einem Geflecht glänzender Schienenstränge, die sich wieder und wieder teilten, um sich in der Dunkelheit zu verlieren. Wer sich nicht gut fühlt, sollte eine Reise unternehmen. Ganz plötzlich. Ohne jemandem davon zu erzählen. Einfach ein paar Sachen in den Seesack stopfen und in einen Zug steigen, -irgendwohin. Beim Gedanken an den gleichförmigen Gesang der Züge, die mich über den Balkan nach Griechenland tragen würden, spürte ich ein Kribbeln unter den Rippenbögen. Die Luft roch auf einmal nach fremden Ländern, nach abgeschiedenen Orten und stillen Winkeln, nach dem Meer.

Liegt die Kraft einer Reise nicht darin, dass sie das Leben reinigt? Dass sie unnötigen Ballast zerstäubt und den Kopf klar und leicht macht? Ich brauchte nichts weiter zu tun, als mich dem Schaukeln dieses Zugs hinzugeben, mich forttragen zu lassen, hinaus aus dieser Stadt, nach Osten, immer weiter nach Osten. Ich atmete auf, streckte mich und betrachtete die Lichtblumen, die draußen über die Fassaden flirrten, Lilien, Anemonen, Hibiskusblüten aus irisierendem Licht – und dann stellten sich mir Fragen wie diese: Knallst du jetzt völlig durch?

Vor dem Zugfenster verschwammen auf einmal die Straßen. Ein dichter Nebel legte sich auf meine Augen, meine Lider sanken herab, und ich tauchte in eine Blindheit ein, die nicht schwarz war, sondern von einem rauschenden Weiß, eine gleißende Finsternis, die mich zu Tode erschreckt hatte, als sie mich zum ersten Mal ereilte. Jetzt tastete ich routiniert nach der Außentasche meines Seesacks, fand darin die Thermosflasche, öffnete sie, tränkte mit dem warmen Sud zwei kleine Mullkompressen und legte sie auf meine geschlossenen Lider. Als ich die Flasche zurücksteckte, streifte meine Hand die beiden Bücher. Ich zog sie blind heraus und strich über ihren Leineneinband, und plötzlich kam es mir vor, als wäre ich auf meine Reise zugesteuert, seit ich diese Bücher zum ersten Mal in die Hand genommen hatte. In Zentralamerika. Vor fast zwanzig Jahren.

Unter den Kompressen legte sich eine angenehme Wärme um meine Augäpfel, und die weiße Welt hinter meinen Lidern verlor etwas von ihrer schmerzenden Intensität, während der abgegriffene Leineneinband der Bücher die erste jähe Abreise meines Lebens in mir heraufbeschwor: ein exzellent bezahlter Jungmanager, der einer steilen Karriere in der sogenannten...

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