Vom Erzählen – Erinnere dich!
Die Bibel als große Erzählung
Am 28. Mai 1871 endeten die Tage der Pariser Kommune mit der Erschießung der 147 letzten aktiven Kommunarden an der südlichen Mauer des Friedhofs Père Lachaise. Es war das Ende eines ersten und sehr begrenzten Versuchs, Freiheit und Gleichheit, Freiheitsrechte und soziale Menschenrechte in einen alternativen Gesellschaftsentwurf umzusetzen. Die nur zeitweise geschwächten alten Mächte schlugen mit aller Härte zurück – am Ende blieben bis zu 30.000 Tote und 40.000 Inhaftierte oder in die Kolonien Deportierte, derer seitdem in jedem Jahr an der »Mur des Fédérés« gedacht wird.
Ein solches Gedenken hat vor allem den Sinn, die Visionen und Träume derer, die ihr Leben und ihre Freiheit verloren, nicht untergehen zu lassen. Es geht um nichts weniger als um Menschheitserfahrung, Menschheitswissen und Menschheitssehnsucht. Es geht nicht um die Glorifizierung eines geschichtlichen Modells, das an der feindlichen Übermacht ebenso wie an eigenen Widersprüchen gescheitert ist. Die Art des Erinnerns und des Erzählens braucht diese Ehrlichkeit ebenso wie die hartnäckige und zärtliche Bewahrung der Hoffnung derer, die ihr Leben für sie aufs Spiel setzten: »Ich halte dich in meinem Arm umfangen, wie ein Saatkorn ist die Hoffnung aufgegangen – wird sich nun der Traum erfüllen derer, die ihr Leben gaben für das kaum erträumte Glück: leben ohne Angst zu haben!«1 Dieses kleine Lied, ein letztes Zusammenspiel von Hanns Eisler und Bertolt Brecht, passt zu einer Szene, die sich außerhalb der offiziellen Gedenkfeiern an der »Mauer der Kommunarden« abgespielt hat. Auf den Stufen an der Mauer saß eine kleine russische Familie. Die Mutter hatte ihre beiden etwa zehn Jahre alten Zwillinge im Arm, der Vater hockte vor ihnen und erzählte traurig und liebevoll von den Kommunarden, ihrem Leben, Leiden und Sterben – ohne jedes revolutionäre Pathos. Die beiden Mädchen hörten aufmerksam und bekümmert zu, doch mit dem Gefühl des Aufgehobenseins in der Wärme dieser kleinen Gemeinschaft des Erinnerns und Erzählens. Was immer sie in ihrem späteren Leben dachten und erlebten – etwas von diesem Augenblick wird in ihnen den Zorn gegen jedes Unrecht und zugleich die Sehnsucht nach Gerechtigkeit wachhalten, die ihnen mit so viel Zärtlichkeit ins Herz gelegt wurde.
Es ist also nicht nur wichtig, dass erzählt wird, sondern auch, wie erzählt wird – das gilt für jede Botschaft. Für die in der Tradition Israels entstandenen Schriften gilt, dass die Erinnerung zugleich eine Vergegenwärtigung von Heilungs- und Befreiungserfahrungen sein soll, als die heilvolle Wegweisung durch die Tora, als die befreiende Zuwendung Gottes zu seinen Menschen und ihre gnädige Bewahrung. Das alles wird freilich nur dann als heilvoll und befreiend empfunden, wenn es erlebt und gelebt werden kann. Die Gnadenbotschaft bleibt eine abstrakte Formel, wenn sie in einer ungnädigen Form und einer nicht in Frage gestellten gnadenlosen Realität verkündet wird. Und sie wird unglaubwürdig, wenn sie die Widersprüchlichkeit menschlichen Lebens, die die Bibel nicht verschweigt, nicht ernst nimmt. Tatsächlich ist in den biblischen Texten von dem Ganzen des menschlichen Lebens die Rede, von den guten und schlechten Seiten der Menschen, von ihren Möglichkeiten und ihrem Scheitern, auch und gerade bei der Gestaltung ihrer Welt. Und doch wird bis zuletzt die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass diese Welt als Schöpfung Gottes wieder einmal so gut werden soll, wie sie am Anfang gewesen sein muss, dass Menschen umkehren, aus falschen Programmierungen aussteigen können. Das ist auch die erste und entscheidende Botschaft Jesu: »Kehrt um, das Reich Gottes ist im Kommen begriffen.« (Mk 1,15) »Dass Gott in der Welt und Weltlichkeit durch deren glühende Reinigung und bildnerische Vollkommenheit verwirklicht werden will, dass die Welt das verwüstete Haus ist, das für den Geist gerichtet werden soll, und dass, solange dies nicht geschehen ist, der Geist nicht hat, wo er sein Haupt hinlege, dieses abgründige Wissen ist Jesu tiefstes Judentum.«2 Die Welt, das »verwüstete Haus«, das ist das große Thema derer, die heute neu über das Scheitern der großen Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts nachdenken. Ton Veerkamp hat in seiner »Politischen Geschichte der Großen Erzählung« gefordert, nicht von der »anderen Welt«, sondern von »der Welt anders« zu reden, und zugleich der Trauer Raum gegeben, dass die Versuche, diese Welt anders zu machen, gescheitert sind.3 Der Messias und die messianischen Bewegungen sind erledigt. Was bleibt? Zunächst bleibt das »verwüstete Haus« für weite Teile der Menschheit die Realität, die die Ideologie des Neoliberalismus und ihre Vertreter, die sich eine Zeit lang als Sieger der Geschichte verstehen durften – und es allen Krisen zum Trotz immer noch tun! –, hinterlassen haben: »eine Weltordnung, die für Menschheitshoffnungen jeder Art keinen Ort mehr hat«4. Denn der Verlust der Hoffnung, dass die Welt ein gutes Haus für alle Menschen, alle Geschöpfe Gottes werden kann, die Ökumene, wie sie Philip Potter5 vorschwebte, hat am Ende diejenigen, die daran glaubten und in unterschiedlicher Weise zu realisieren versuchten, ohne Haus und Heimat zurück gelassen.
Ist damit auch der »Text der Großen Erzählung« verschwunden, sind alle großen Erzählungen endgültig vorbei, auch die Bibel als der »politische Entwurf des jüdischen Volkes für eine Gesellschaft, in der niemand Sklave und niemand Herr sein soll«?6 Wenn das die Einstellung unserer Vorväter und Mütter im Glauben gewesen wäre, gäbe es die Erzählungen von Jesus, dem ermordeten Messias nicht. Sie hielten daran fest, dass mit ihm die Möglichkeit, die »Welt anders« zu machen, Gestalt angenommen hat, und sie blieben dabei, auch als die erhoffte Wiederkunft des Messias ausblieb. Hatte Paulus noch gehofft, mit dem Kommen des Messias erlöst zu werden aus der Welt der Gewalt, dem »Leib des Todes«, ruft Johannes zwei Generationen später die Gemeinde Jesu auf, in dieser Welt der Angst und Gewalt Gegenkultur zu leben, in Liebe, Solidarität und Gewaltlosigkeit. In dem noch mächtigsten Imperium der Gegenwart, den Vereinigten Staaten von Amerika, haben christliche Gemeinden diese »counter culture« zu ihrem Programm gemacht. Frei von den Zwängen einer Staats- oder Volkskirche ist es ihnen möglich – wenn sie es wollen –, mit radikalen Aktionen gegen eine Politik und Wirtschaft der Gewalt zu zeigen, dass die Welt eine andere werden kann.7 In diesem Kontext entstand die Erkenntnis, dass die Schriften des frühen Christentums durchweg politischen, imperiumskritischen Charakter haben und dass darin ihre widerständische Kraft begründet liegt: die Hoffnung auf den Sieg des Lebens gegen den Tod in der eigenen Lebenspraxis sichtbar zu machen. Vor allem dieser Versuch der ersten Christengenerationen, im Imperium anders zu leben, hat bewirkt, dass der ermordete Messias nicht »im Tode geblieben«, nicht totzukriegen ist. Zugleich haben sie, die in diesem Glauben lebten, die Hoffnung bewahrt, dass es eine andere Welt geben wird, wenn der Messias kommt und Gott selbst »jene Konflikte überwinden wird, die jetzt zu unserem Dasein gehören: Wahrheit und Lüge, Güte und Bosheit, Leben und Tod«8, aber auch die großen und immer noch antagonistischen Widersprüche zwischen Herrschaft und Knechtschaft, Autonomie und Egalität, Millionenprofiten und millionenfacher Ausbeutung. Doch was bleibt zu tun, wenn der Messias nicht kommt? »Wir haben nur uns ... Von uns hängt es ab, ob die großen Erzählungen ... nicht völlig, nicht absolut in Vergessenheit geraten. Es kommt kein Messias, die Bücher, die wir nicht öffnen, bleiben verschlossen ... Es ist das jüdische ›wer, wenn nicht wir‹. Wer, wenn nicht wir, die noch Klartext reden: wo die Lüge absolut ist, das harte Geschäft der Ideologiekritik betreiben. Im Bewusstsein, dass Theologie, jedenfalls hier, nur noch ein aufklärerisches Projekt sein kann. Und ... für dieses aufklärerische Projekt einzustehen, auch dann, wenn uns die Hoffnung, der Messias käme doch noch, genommen ist. Die Verpflichtung, Tora zu tun, bleibt.«9 Doch es geht nicht nur darum, dass aufgeklärt, Tora getan, weiter erzählt wird, es geht auch darum, wie es getan und erzählt wird. Die Freude an der Tora, das Gebot Gottes als Herzensanliegen, die Lust und Liebe zu den Werken der Gerechtigkeit, die Befreiung von Knechtschaft und Zwang können nicht nur gedacht, sie sollen in guter Weise erfahren, erlebt, geschmeckt, gefühlt werden, nur so kann man sie bewahren und für sie einstehen. Die Art, wie die große Erzählung in den Befreiungsbewegungen – und vor allem in dem großen Versuch einer sozialistischen Revolution und Gesellschaft – so oft erzählt wurde, hat ihr ebenso geschadet wie ihre gewalttätige Auslöschung durch die alten Mächte dieser Welt, die das Menschenhaus auch weiter verwüsten. Das gilt freilich auch für alle religiösen Varianten des Erzählens der großen Erzählung. Der engstirnige weltanschauliche Unterricht in Marxismus-Leninismus konnte einem den Sozialismus ebenso vermiesen wie der freudlose fundamentalistische Bibelkreis das Christentum. Das liebevolle Erzählen des russischen Familienvaters an der Mauer der Kommunarden aber wird ebenso im Herzen bleiben wie der...