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E-Book

Claudio Abbado

Der stille Revolutionär

AutorWolfgang Schreiber
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl321 Seiten
ISBN9783406713125
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Claudio Abbado war der stille Revolutionär unter den großen Dirigenten. So leise er auftrat und auf jeden autoritären Habitus verzichtete, so ausdrucksmächtig war seine Musik. Dabei lebte er ganz in der Gegenwart, dirigierte für Arbeitet und setzte sich unermüdlich für die musizierende Jugend ein. Wolfgang Schreiber folgt in dieser ersten umfassenden Biographie dem an Glanzpunkten überreichen Lebensweg Abbados, der in der Musikwelt zwischen Mailand und London, zwischen Chicago und Berlin unauslöschliche Spuren hinterließ.


Wolfgang Schreiber ist einer der bekanntesten deutschsprachigen Musikkritiker. Er war von 1978 bis 2002 Feuilletonredakteur der "Süddeutschen Zeitung" und hat Claudio Abbados Weg ab den 1970er Jahren aus der Nähe verfolgt.

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Leseprobe

2

Kindheit und Jugend
(1933–1949)


Ich war ein Kind, das großes Glück hatte:
Ich wurde mitten in die Musik hineingeboren.

Claudio Abbado[1]

«Das klingende Haus»


Claudio Abbados Leben kennt den verheißungsvollen Auftakt, durch den musikalische Talente ihr Glück schmieden: Vater und Mutter sind Musiker, die Geschwister musizieren, das «klingende» Elternhaus macht das Verstehen der «Sprache» aus Noten und Klängen kinderleicht, deren Geheimnisse sich spielerisch entschlüsseln und erlernen lassen.

Die frühe Lebenszeit bis ins Alter bewahren wie eine Art heimlicher Gegenwart – Claudio Abbado ist das gelungen. 1986 erschien in Italien «La casa dei suoni» (Das klingende Haus), ein Musikbuch für Kinder.[2] In kurzen Begleittexten zu Illustrationen von Paolo Cardoni[3] teilt Abbado Erinnerungen mit an sein Mailänder Elternhaus, an frühe Begegnungen mit der Kammermusik, an Erlebnisse gemeinsamen Musizierens und erste Besuche in der Mailänder Scala. Und der Autor erklärt seinen jungen Lesern ganz nebenbei, was es mit der Musik als ernster Kunst auf sich hat, auf welche Weise die Töne und Klänge entstehen, wie die Streich-, Blas- und Schlaginstrumente gehandhabt werden oder auch, wie ein Orchester und wie die Aufgaben des Dirigenten beschaffen sind. Er zeigt ihnen ferner, was Oper und Symphonie zu bieten haben. Sehr wichtig ist ihm die Gewissheit, dass alle Musik auf eine bestimmte Art und Weise ganz und gar «real», dass sie mit dem Leben verbunden ist: «Einen Rat nur möchte ich meinen Lesern, den Musikern und Zuhörern von morgen, mit auf den Weg geben: Haltet euch immer den engen Zusammenhang zwischen der Musik und der Wirklichkeit vor Augen. Denn jede Musik ist ein Echo und ein Abbild ihrer Zeit.»

«Es ist des Lernens kein Ende» – Robert Schumanns finaler Merksatz in seinen «Musikalischen Haus- und Lebensregeln» scheint Claudio Abbados ganzes Musikertum bestimmt zu haben. Am 26. Juni 1933 wird er in Mailand geboren – als drittes von vier Kindern einer bürgerlichen Familie, in der die Musik, die Künste und die Wissenschaften zu Leitmotiven eines guten Lebens geworden sind. Der acht Jahre ältere Bruder Marcello wird Pianist und später Direktor des Mailänder Konservatoriums «Giuseppe Verdi», die Schwester Luciana spielt Geige und tritt in den Mailänder Musikverlag Ricordi ein, gründet das Festival Milano Musica. Der jüngere Bruder Gabriele geht seinen Weg als Architekt.

Claudio (l.) mit den Geschwistern Marcello, Luciana, Gabriele und der Mutter

Claudio und seine Schwester Luciana

Michelangelo Abbado, Claudios Vater, im Jahr 1900 in der piemontesischen Stadt Alba geboren, ist Geiger. Er unterrichtet als Professor am Mailänder Konservatorium und gründet später ein Kammermusikensemble, mit dem der junge Claudio musizieren wird. Als Kind hört und beobachtet er eines Tages heimlich durch einen Türspalt, wie der Vater auf der Violine ein Stück spielt, das ihn fesselt: Johann Sebastian Bachs berühmte Chaconne für Geige allein: «Diese Sprache war sicher sehr schwierig, aber außerordentlich schön. Lange Zeit hörte ich ganz still zu, ohne mich bemerkbar zu machen, denn ich hatte Angst, den Zauber zu zerstören.»

Vater Michelangelo erteilt Claudio mit Strenge erste Geigenstunden. Doch erst die weißen und schwarzen Tasten des Klaviers können den Knaben begeistern. Die sizilianische Mutter Maria Carmela Savagnone, 1899 in Palermo geboren und von französischen Nonnen erzogen, ist selbst Pianistin und Klavierlehrerin, sie liebt die Dichtung und führt ihren Sohn Claudio mit großer Güte und Einfühlung in die Kunst des Klavierspielens ein. Sie erzählt ihren Kindern gern Märchen und erfindet für sie Geschichten. Sie schreibt auch selbst Texte und veröffentlicht Kinderbücher. «Die Mama bezauberte mich mit ihren Geschichten über Sizilien, ihre Heimat, und über das ferne Persien. Auch ihre Phantasie war für mich Musik; ich bat sie, mir alle Geheimnisse der Klänge zu erklären, die Papas Leben erfüllten, und sie wusste mir diese Welt aufregender zu gestalten als ein Märchen.»

Es ist die musische Familie in der Mailänder Via Fogazzaro, unter deren Fittichen die künstlerischen Anlagen und charakterlichen Eigenheiten des Musikers Claudio Abbado erwachen: Offenherzigkeit und geistige Interessen lassen ihn sein Künstlerleben lang frei, emanzipiert und tiefgründig denken und empfinden, wohl stärker, als es im Musikmetier der virtuosen Hochbegabungen und prominenten Überflieger die Regel ist. Das Lesen wird zum Lebenselixier eines Knaben, der auf Fotografien schmächtig, in sich gekehrt, sanftmütig versonnen, fast fragil erscheint. Und dann strömen ihm aus dem Grammophonapparat im Elternhaus die wundersamen Musikstücke von Bach und Mozart, Beethoven und Brahms, von Rossini und Verdi entgegen – mit Hilfe der sich rasch drehenden, geheimnisvoll kratzenden Scheiben aus schwarzem Schellack. Noch Jahrzehnte später erinnert sich Claudio Abbado an die drei Schellackplatten, die ihm am wichtigsten waren: «eine mit dem Sänger Schaljapin als Boris, ein Violinkonzert von Mozart mit Yehudi Menuhin und eine mit Beethovens ‹Coriolan›, dirigiert von Willem Mengelberg. Ich habe diese Platten als kleines Kind Hunderte Male gehört.»[4] Mussorgskis «Boris Godunow» blieb im Zentrum seiner Opernwelt.

Ein Freund der Mailänder Musikerfamilie, der kluge hochgebildete Dirigent aus Bergamo, Gianandrea Gavazzeni, der im Teatro alla Scala regelmäßig am Pult stand, als Musikschriftsteller tätig war und als Pianist zur Kammermusik der Familie Abbado beitrug, hat der gastfreundlichen Lebensart im Hause Abbado eine Erinnerung gewidmet: «Die Familie des geigenden Freundes ist die ordentlichste und organisierteste, die mir je begegnet ist. Aber es ist eine Ordnung, die keine Schwere kennt, denn sie ist heiter und fröhlich, hat einen eigenen spontanen Rhythmus ohne Strenge und ohne Posen.» Gavazzeni beeindruckte besonders Claudio Abbados Mutter als Gastgeberin, «die vollkommenste Musikerfrau unserer Zeit», die, «hätte sie zweihundert Jahre früher gelebt, eine Anna Magdalena Bach hätte sein können».[5]

Das Opernhaus seiner Heimatstadt, das in der Welt berühmte Mailänder Teatro alla Scala, besucht Claudio Abbado zum ersten Mal als Siebenjähriger, in Begleitung der Familie. Dort hört er in einem Symphoniekonzert unter der Leitung Antonio Guarnieris die Orchestertrilogie «Nocturnes» von Claude Debussy. Die gleißende Sinnenfreude der Musik nimmt den Knaben mit ihrem instrumentalen Farbenglitzer und der Anmut tänzerischer Rhythmen vollkommen gefangen: «Besonders beeindruckte mich die Musik … mit dem Klang der Trompeten, der, wie von fernher kommend, mächtig anschwillt wie ein Zauberton … Jener Abend im Teatro alla Scala war sehr bedeutungsvoll für mich. Ich war fasziniert von der Möglichkeit, mit so vielen Musikern gemeinsam zu spielen, und von der Wichtigkeit des kleinen Mannes, der sie alle lenkte, als ob sie an einem Faden hingen.» Damals notierte er in seinem Tagebuch das Verlangen, «dass auch ich eines Tages diese Musik dirigieren würde».

Die erste Oper, die der Achtjährige in Begleitung von Vater und Mutter erlebt, ist Giuseppe Verdis «Aida». Dem Berliner Gesprächspartner Frithjof Hager schilderte Abbado später, wie er «nach der Vorstellung allein auf der Straße» stand und die Eltern ihn fragten, «warum ich nicht mit ihnen gehen wollte. Dass mich aber diese Oper erschüttert hatte, das wollte ich keinem anderen zeigen.»[6]

Noch stärker und folgenreicher als der frühe Besuch im Opernhaus wird für den Knaben die fortwährende Nähe zur Musik und zum Musizieren im Elternhaus. Die Hauskonzerte sind es, die sein Hören schulen, seine Hörexkursionen ins Innere der Musik, die Zauberwelt der Klänge und all der Verästelungen von Tönen und Tonbewegungen, in die Kammermusik. Der mühelose Zugang zur Musik und die Lust auf ihre umfassende Aneignung werden für einen jungen Menschen zum Antrieb, sein Leben der Musik und dem Musizieren zu widmen. Die besondere Zuneigung gilt der Kammermusik.

Selbst musizieren, Kammermusik spielen in kleinen Gruppen und variablen Formationen, das verschafft selbst denen, die bloß zuhören, einen unmittelbaren, persönlichen Zugang zur Musik – das Glücksgefühl des Wahrnehmens und Entzifferns einer klingenden Grammatik und von «Botschaften», deren verwobene Tonmotive und Melodien, deren Rhythmen und Klanggesten wirklich zu...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Frontispiz2
Titel3
Impressum4
Inhalt5
1. Der Club der Freunde9
2. Kindheit und Jugend (1933–1949)13
«Das klingende Haus»13
«Lesen macht geheimnisvoll»21
3. Studium in Mailand und Wien (1949–1958)31
Ausflüge in die Literaturgeschichte: Salvatore Quasimodo32
Siena-Kurs: Zubin Mehta und Daniel Barenboim34
Erste Liebe35
Wien: der Lehrer Hans Swarowsky36
4. Erste Preise und Pult-Eroberungen (1958–1968)47
Dozent für Kammermusik in Parma49
Aufbruch in die Neue Welt: Leonard Bernstein in New York50
Beginn der Dirigentenkarriere54
5. Der Opern-Kanon: Teatro alla Scala (1968–1986)57
Mailänder Innovationen63
Claudio Abbados «Kernrepertoire» der Oper73
6. «Musica/Realtà»: Claudio Abbado, Luigi Nono und Maurizio Pollini81
7. Claudio Abbado und seine Jugendorchester101
8. Viele Ämter am Pult (1972–1985)111
9. Das London Symphony Orchestra (1979–1987)117
10. «Im Palast der Gefühle»: Wiener Staatsoper (1986–1991)127
«Wien modern»134
Programmgestaltung137
Neue Liebe145
Abschied von Wien147
11. Berliner Philharmoniker I (1989–1998)155
Das Orchester und seine Dirigenten157
Die Wahl159
Das erste Jahr in Berlin167
Probenstil und Musizierideal: auf Wilhelm Furtwänglers Spuren170
«Musik über Berlin»179
Gastspiele, Reisen und Salzburger Osterfestspiele185
Der Siemens Musikpreis193
12. Claudio Abbados Berliner Themenzyklen195
Zyklus 1: Hölderlin (1993)198
Zyklus 2: Faust (1994)201
Zyklus 3: Griechische Antike (1994/95)202
Zyklus 4: Shakespeare (1995/96)205
Zyklus 5: Alban Berg/Georg Büchner (1996/97)207
Zyklus 6: Der Wanderer (1997/98)209
Zyklus 7/8: «Tristan und Isolde – Der Mythos von Liebe und Tod» / «Amore e morte» (1998/99)212
Zyklus 9: «Musik ist Spaß auf Erden» (2000/01)216
Zyklus 10: Parsifal (2001/02)219
13. Berliner Philharmoniker II (1998–2002)223
Schock der Berliner Verzichterklärung223
Das Berliner Abschiedskonzert228
14. Das Orchester aus Freunden: Luzern (2003–2013)235
Das Lucerne Festival Orchestra236
Immer wieder Berlin248
15. Italien und Lateinamerika251
Das Orchestra Mozart252
Heimkehr an die Mailänder Scala256
Engagement in Lateinamerika: «El Sistema»259
16. Spätes Musizieren – verinnerlichtes Hören265
Symphonisches Weltbild272
Schallplattenproduktion274
17. Tod und Verklärung277
Begegnung mit einem Charakter284
Anhang291
Anmerkungen293
Diskographie307
Bildnachweis311
Personenregister313
Zum Buch321

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