EINLEITUNG
»Clever essen« muss nicht unbedingt auf Gewichtsabnahme abzielen. Sie kann eintreten, wenn Sie meine Ernährungs- und Verhaltensempfehlungen umsetzen, sie ist aber nicht das primäre Ziel. Clever essen für den Darm ist eher ein Ernährungsprogramm wie vegetarische oder Mittelmeerkost. Es geht nicht um Kalorien oder Einschränkung; es geht um Nahrungsmittelauswahl und Veränderungen der Lebensweise, die helfen können, wenn Ihr Darm Probleme macht oder wenn Sie ihn einfach gut in Schuss halten wollen.
Der Darm ist ein Organ, das wenig Aufmerksamkeit erhält. Als ich Medizin studierte, wollten sich viele meiner Kollegen dem Gehirn zuwenden und Neurochirurgen werden oder sich als Kardiologen auf das Herz spezialisieren. Keiner kam je auf die Idee, seine berufliche Laufbahn dem Darm zu widmen. Dabei ist er einzigartig – ein bisher ziemlich unerforschter Teil unseres Körpers, der mich neuerdings in seinen Bann gezogen hat. Dank umfangreicher neuer Forschungen verändert das zunehmende Wissen über die Welt in unserem Darm unsere Vorstellung von der Funktionsweise unseres Körpers.
Der Darm entzieht der Nahrung Energie, ist aber auch für einen Großteil der Immunabwehr zuständig und produziert mehr als zwei Dutzend Hormone, die von unserem Appetit bis zu unserer seelischen Verfassung alles beeinflussen.
Ganz besonders fasziniert mich, dass tief im Darmgewebe eine sehr dünne Schicht Gehirn verborgen ist. Das sogenannte enterische Nervensystem besteht ebenso aus Neuronen wie das Gehirn. Mit mehr als 100 Millionen Nervenzellen weist der Darm etwa so viele auf wie das Gehirn einer Katze. Die Neuronen sind hier jedoch nicht wie im Gehirn zusammengeballt, sondern als dünnes Geflecht über den gesamten Gastrointestinaltrakt verteilt, von der Kehle bis zum Rektum. Dieses »zweite Gehirn« hält sich nicht mit Geometrie oder Steuererklärungen auf, sondern steuert Dinge wie Verdauung und mäßige Darmschmerzen.
Wenn wir von »Bauchgefühl« sprechen, bringt das deutlich zum Ausdruck, wie eng Darm und Gehirn miteinander verflochten sind. Ich werde mich in diesem Buch eingehend mit der »Darm-Hirn-Achse« und den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen dazu befassen.
Ihr Darm ist ein technisches Wunderwerk, und ich hoffe, dass Sie meine Begeisterung teilen werden, wenn Sie dieses Buch gelesen haben. Doch in vielerlei Hinsicht gehören die eigentlichen Akteure der Verdauung nicht wirklich zum menschlichen Körper – das sind die ein bis zwei Kilo Mikroben, die in Ihrem Darm leben und das Mikrobiom bilden.
Bis vor kurzem war die Welt des Mikrobioms dunkel, feucht und geheimnisvoll. Die Lebewesen dort unten haben niemals Tageslicht gesehen. Es sind mehr als 50 Billionen, mindestens 1000 verschiedene Arten – eine schier unglaubliche Vielfalt. Wie so oft bei neuen wissenschaftlichen Entdeckungen kam es zu Fehlinterpretationen und Übertreibungen der Forschungsergebnisse. Der Hype, der heute um diese Mikroben gemacht wird, ist mindestens ebenso groß wie die Missachtung, die man ihnen früher entgegenbrachte. Neuere Forschungen zeigen, dass wir nicht zu »90 Prozent Bakterien« und zu »10 Prozent Mensch« sind, wie viele Bücher und Artikel behaupten, sondern wohl eher 50:50.1 Einer der Forscher, die dieses Gerücht entkräfteten, meinte, die Anteile wären so gleich, dass »jeder Stuhlgang das Pendel zugunsten der menschlichen Zellen ausschlagen lassen könnte«.
Noch wichtiger ist, dass zwar manche Lebensmittel dieses Mikrobiom bestens gedeihen lassen (darum enthält dieses Buch Rezepte), doch nur wenige mit dieser Masche vermarktete Produkte einen soliden wissenschaftlichen Hintergrund haben. Ich werde Ihnen erklären, welche Präbiotika, Probiotika und Ergänzungspräparate wirklich halten, was sie versprechen.
Dass wir so wenig über das Mikrobiom wissen, liegt zum Teil daran, dass man dessen Bewohner, die Mikroben, bis vor kurzem nicht untersuchen konnte. Wir wussten, dass sie den Darm vor gefährlichen Eindringlingen schützen, dass sie einige Vitamine synthetisieren und dass sie von Ballaststoffen leben, die unser Körper nicht verdauen kann.
Nun wissen wir, dass dies längst nicht alles ist:
- Sie tragen zur Regulierung unseres Körpergewichts bei. Wie wir in späteren Kapiteln sehen werden, können die Mikroben in Ihrem Darm darüber entscheiden, wie viel Energie Ihr Körper aus der Nahrung gewinnt; sie steuern Hungersignale; sie beeinflussen Ihr Verlangen nach Nahrungsmitteln; und sie bestimmen, wie hoch die Blutzuckerspitzen nach einer Mahlzeit sind. Kann Ihr Mikrobiom Sie dick machen? Mit Sicherheit. Können Sie Ihr Mikrobiom so beeinflussen, dass es vom Gegner zum Verbündeten wird? Mit Sicherheit – und ich zeige Ihnen, wie.
- Das Mikrobiom schützt den Darm nicht nur vor Eindringlingen, es lehrt und steuert unser gesamtes Immunsystem. Wir beobachten seit einem halben Jahrhundert einen massiven Anstieg allergischer Erkrankungen wie Asthma und Neurodermitis, die durch ein überaktives Immunsystem hervorgerufen werden. Auch die Autoimmunerkrankungen haben sehr stark zugenommen, von entzündlichen Darmerkrankungen bis zu Typ-1-Diabetes – auch sie gehen in erster Linie auf ein Immunsystem zurück, das außer Kontrolle geraten ist. Ich werde Ihnen zeigen, wie ein anderer Mix von Darmbakterien diese Erkrankungen entschärfen kann.
- Das Mikrobiom verwandelt die Nahrungsteile, die unser Körper nicht verwerten kann, in eine Vielzahl von Hormonen und chemischen Stoffen. Und diese scheinen entscheidend für unsere seelische Verfassung, unseren Appetit und unsere Gesundheit allgemein zu sein. Eine Änderung Ihres Bioms kann Ängste und Depressionen mindern.
Doch tragischerweise haben wir in unserer Ahnungslosigkeit ziemlichen Schaden in unserem Mikrobiom und an den dort lebenden Mikroben, unseren »alten Freunden«, angerichtet. »Alte Freunde« deshalb, weil sie sich mit uns über Millionen von Jahren entwickelt haben und weil so viele von ihnen für unsere Gesundheit unverzichtbar sind. Wir haben nicht nur die Regenwälder dezimiert und zahlreiche Tierarten ausgerottet, wir haben auch an den Populationen in unserem Inneren schweren Schaden angerichtet. Glücklicherweise können wir diesen »alten Freunden« zu neuem Leben verhelfen. Ich werde Ihnen zeigen, wie.
Ich werde mich auch mit den neuesten Therapien für eine Reihe von Darmstörungen beschäftigen, von Glutenunverträglichkeit bis zum Reizdarmsyndrom. Viele Menschen haben mit diesen Erkrankungen zu kämpfen, zum Teil deshalb, weil Ärzte sie nicht erkennen und falsch behandeln. Sie werden häufig als »psychosomatisch« abgetan – also als Folge von Angst oder Depression. Dasselbe sagte man auch von Magengeschwüren. Magengeschwüre sind offene Wunden an der Magenschleimhaut.
Im Jahr 1994, als ich eine TV-Dokumentation über Geschwüre drehte (die ich wenig phantasievoll als Ulcer Wars, »Geschwürkriege«, bezeichnete), waren sie häufig und galten als unheilbar. Man nahm allgemein an, sie würden durch Stress und die damit verbundene überhöhte Magensäureproduktion verursacht. Die ärztliche Standardempfehlung lautete, mild gewürzte Speisen zu essen, den Stress zu reduzieren und ein Medikament zur Verringerung der Säureproduktion zu nehmen. Wenn das nicht half, was oft der Fall war, wurde mitunter operativ ein Teil des Magens entfernt.
Doch im westaustralischen Perth gab es einige Ärzte, die nicht davon überzeugt waren, dass Magengeschwüre durch Stress verursacht wurden. Sie vertraten die Ansicht, die meisten Magengeschwüre würden durch Infektion mit dem bis dahin unbekannten Bakterium Helicobacter pylori verursacht.
Zum Beweis trank einer der Wissenschaftler, Dr. Barry Marshall, 1984 ein Fläschchen mit Helicobacter. Wenige Tage später setzte, wie er lächelnd erzählte, das Erbrechen ein. Er ließ eine Endoskopie vornehmen; ein dünner Schlauch wurde durch den Mund in seinen Magen eingeführt. Von seiner nun entzündeten Magenschleimhaut wurden kleine Proben genommen. Diese zeigten, dass sein Magen nun von Helicobacter besiedelt war.
Barrys Frau Robin war sehr besorgt, dass er schwer erkranken würde, und bestand auf Beendigung des Experiments. Barry nahm eine Handvoll Antibiotika, die, wie er vorher gezeigt hatte, Helicobacter abtöten konnten, und sein Magen war bald wieder normal.
Zehn Jahre später wiesen die meisten Experten, die ich für meine Doku interviewte, Barrys Arbeit entschieden zurück, obwohl umfangreiche Untersuchungen gezeigt hatten, dass eine kurze Antibiotikagabe Magengeschwüre heilen konnte. Einer meinte, er könne nicht glauben, dass wesentliche Fortschritte aus einem »akademischen Provinznest« wie Perth kommen konnten. Ein Darmfachmann, der eine Kritik meiner Dokumentation für das British Medical Journal verfasste, beschrieb sie als »einseitig und tendenziös«.
Normalerweise dreht man einen Dokumentarfilm, er wird gesendet und fertig. Nicht so bei Ulcer Wars. Ich erhielt Zehntausende Briefe (damals gab es weder Internet noch E-Mail) von Menschen mit schlimmen Schmerzen, denen Standardtherapien nicht halfen. Ich versandte schließlich Tausende Infoblätter über den wissenschaftlichen Hintergrund und Barrys Antibiotika-Protokoll.
Einige der Antworten habe ich aufbewahrt. Eine stammte von einem Mann namens Brian, dessen Geschwür nicht auf die Standardtherapie angesprochen hatte und dem man geraten hatte, seinen geliebten hochkarätigen Job aufzugeben und den Großteil seines Magens entfernen zu lassen. Er ging mit meinem Infoblatt zum Arzt und bat um Antibiotikabehandlung. Sein Arzt stimmte widerwillig zu, und das Magengeschwür war nach wenigen Wochen vollständig geheilt. Er schrieb mir in der Folge regelmäßig und...