2 Das Unbewusste im Unternehmen
2.1 Unbewusste Strukturen auf der Systemebene
Die Übertragung von psychoanalytischen Konzepten innerpsychischer Funktionsprinzipien auf die Ebene sozialer Interaktion ist zum einen mit der ichpsychologischen Tradition verbunden, in der die Anpassung des Individuums an die soziale Umgebung untersucht wurde, zum anderen aber, und dies wesentlich wirkmächtiger, mit der objektbeziehungstheoretischen Modellbildung von Wilfred Bion und dem aus ihr abgeleiteten Tavistock-Ansatz ( Kap. 1.2.2). Die Gruppe ist nach Bion mehr als die Summe ihrer Mitglieder; in ihr bildet sich eine unbewusste Funktionsmatrix ab, eine autonome Abwehr ( Kap. 4.3), um im Zusammenspiel das Aufkommen unangenehmer Anforderungen zu verhindern, basierend auf den »Grundannahmen« Kampf-Flucht, Abhängigkeit und Paarbildung ( Kap. 1.2.2 ; vgl. auch von Ameln u. a.et al., 2009, Kap. 4). Wie sich das Vorherrschen dieser Grundannahmen auf der Ebene der Organisation auswirken kann, beschreiben Heintel und Krainz (1994) aus einer systemischen Perspektive als Formen der »Systemabwehr: die Suche nach Schuldigen, das Sich-Ergeben in das Schicksal oder den Aktionismus.« Diese drei Ausprägungen könnten in einer Bion’schen Terminologie als Ausdruck der Grundannahmen Kampf-Flucht, Abhängigkeit bzw. Paarbildung gesehen werden. Bei der letzteren Systemabwehr ist zu erinnern, dass Bion die Paarbildung als Erwartung des Messias schildert; Heintel und Krainz sprechen hier vom Management-Prinzip »erst schießen, dann zielen«, das in Krisensituationen eine Bewegung vortäuscht, statt die anstehende Aufgabe (nach Bion: die Arbeitsgruppenebene) genau ins Auge zu fassen. Solche Pseudo-Aktivitäten sind in Unternehmen nicht selten anzutreffen; sie binden Kräfte und geben »Schwung«, ähnlich der Paarbildung in der Therapiegruppe, ohne aber eine reale Lösung herbeizuführen.
2.1.1 Die primäre Aufgabe
Das Konzept der primären Aufgabe spielt eine wesentliche Rolle im Tavistock-Ansatz. Dieser Ansatz lässt zunächst die Umfeldbedingungen (Märkte, Lieferanten, Kunden, Wettbewerb) außer Acht und fokussiert auf die Arbeit, die in der Organisation primär zu erledigen ist.
Die primäre Aufgabe hilft, die Operations einer Organisation zu verstehen, nicht jedoch den Prozess, der zur Strategiefindung führt. Ein Architekturbüro hat beispielsweise die primäre Aufgabe, Planungen für Häuser zu entwickeln. Die Strategie unter verschiedenen Partnern kann jedoch darin bestehen, entweder eine Gesellschaft mit gleichen Partnern oder eine Gesellschaft mit einer Koryphäe als Namensgeber zu entwickeln. Beide Strategien widersprechen sich und schließen einander aus. Jede Strategiealternative birgt Risiken aus Sicht ihres Vertreters. Unter gleichen Partnern mag der Partner, der eine Koryphäe ist, das Risiko der Marketing-Investitionen in eine neue Marke scheuen. Verlässt die Koryphäe das Unternehmen, könnten die Investitionen in diesen Namen umsonst gewesen sein. Das Beispiel zeigt, dass die Ängste nicht aus der primären Aufgabe entstehen, sondern aus der Uneindeutigkeit der Strategiewahl. Hirschhorn (2009 [1997]) führt an dieser Stelle das primäre Risiko ein. Es besteht darin, die falsche primäre Aufgabe auszuwählen, die dann schließlich nicht erfüllt werden könnte. Dieses Risiko leitet sich nicht aus den Umfeldbedingungen des Unternehmens ab, sondern aus den Handlungsalternativen und den daraus resultierenden Ängsten. Eine Lösung im genannten Fallbeispiel wäre das Aufzeigen dieser Ängste und die Verhandlung eines Kompromisses (Hirschhorn, 2009 [1997]).
Wenn Menschen ein primäres Risiko eingehen, spielt Ambivalenz eine große Rolle. Wenn sich Manager für keine klare Richtung entscheiden können, wenn es eine offensichtliche Differenz zwischen der primären Aufgabe und der Tätigkeit der Mitarbeiter gibt, wenn Mitarbeiter empfinden, dass das Unternehmen sich treiben lässt – dann kann man annehmen, dass das Unternehmen nicht in der Lage ist, das primäre Risiko auszuhalten (Hirschhorn, 2009 [1997]). Die Symptome funktionalisieren dann den Organisationsalltag in ihrem Sinne (Kretschmar, Senarclens de Grancy 2017a, S. 30). Hier gilt es, die Widersprüchlichkeit verschiedener Strategien und die Ängste, die mit der nicht gewählten Strategievariante in Zusammenhang stehen, bewusst zu machen. Weiterhin sollte die Leistungsbehinderung klargemacht werden, die aus dieser Ambivalenz entsteht. Die Bearbeitung von Angst und Hass bezüglich nicht favorisierter Strategiealternativen der Entscheider hilft dem Klienten, einen Kompromiss zu finden, mit dem die primäre Aufgabe erfüllt und die Ängste ausgehalten werden können (Hirschhorn, 2009 [1997]).
Hirschhorn zeigte 1997 die Grenzen des Tavistock-Ansatzes auf und schlug wichtige Ergänzungen vor. Das Risiko der Analytiker sei es, auf diejenigen Phantasien zu fokussieren, mit denen Mitarbeiter ihre Sicht der Welt konstruieren, und dabei den aktuellen Druck zu ignorieren, dem Organisationen ausgesetzt sind. Mitarbeiter reagieren auf die primäre Aufgabe mit ihren psychischen Ressourcen. Aber die Aufgabe selbst ist durch Realitäten beeinflusst, auf die die Organisation nur sehr begrenzt Kontrolle ausüben kann. Darüber hinaus repräsentiert die primäre Aufgabe eher die Praktiken der Mitarbeiter als ihre Überzeugungen. Hier muss zwischen der behaupteten und der tatsächlichen Aufgabe unterschieden werden. In diesem Sinne könnte die primäre Aufgabe als eine Kombination primärer Tätigkeiten definiert werden, die den Unternehmenszielen dienen (Hirschhorn, 2009 [1997]).
2.1.2 Spaltung zwischen Führung und Management
Krantz und Gilmore befassten sich 1986 mit der Spaltung zwischen Führung und Management auf Grund von Ängsten vor Veränderungen. Entsprechend der Spaltung im psychoanalytischen Sinn wird ein Teil der Organisation idealisiert und der andere Teil abgewertet. Dieser soziale Abwehrmechanismus taucht in der Variante des Kults um die operativ eingesetzten Management-Tools und Techniken sowie in der Variante der Idealisierung der charismatischen Führung auf. Idealisierte Anwendung von Management-Techniken kann nicht mit einer abgewerteten Führung gelingen. Ebenso kann Führung (Leadership) nicht gelingen, wenn die Management-Techniken abgewertet werden (Krantz & Gilmore, 1986).
In der ersten Variante erheben sich die Management-Techniken zur Magie. In hoher Methodengläubigkeit werden Techniken, die sich in anderen Projekten bewährt haben, auf alle möglichen Settings angewendet. In vielen Fallbeispielen wird gezeigt, dass die Management-Techniken geeignet sind, Mitarbeiter, die an sie glauben, zu vereinen. Dabei wird aber oft Ziel und Mission des Veränderungsprozesses aus den Augen verloren. Wenn charismatische Führung abgelehnt wird, gelingt die Einbindung der Mitarbeiter nicht und die Umsetzung der Veränderung im Sinne des ursprünglichen Ziels wird verfehlt. Solche Projekte werden nach außen oftmals als erfolgreiche Anwendung der Management-Techniken verkauft. Befragt man die Mitarbeiter, so kommt es zu einigen Überraschungen, was da im Betrieb wirklich wie verändert wurde. In der zweiten Variante gibt es zwar eine gute Führung durch einen »Erretter«. Diese Führung ignoriert jedoch formale Prozesse und vertraut mehr auf ihre Intuition als auf genaue Analyse. Mit dem Feiern eines neuen Helden geht die Abwertung der Administration einher (Krantz & Gilmore, 1986).
Beispiele für Ängste, welche die beiden Varianten der Spaltung hervorbringen, sind die Angst vor größerer Komplexität, mehr Wettbewerb, mehr Kundenverantwortung, höheren Anforderungen, Verlust von Sicherheit oder Autonomie. Paradoxerweise führt Zusammenarbeit zu mehr Ängsten als Konkurrenz. Um diese Ängste und die daraus resultierende Abwehr zu vermeiden, sollten Manager mit ihrer Veränderung substanziell zur primären Aufgabe des Unternehmens beitragen. Sie müssen nicht nur Visionen haben, sondern auch einen guten Bezug zu administrativen Prozessen (Krantz & Gilmore, 1986).
2.1.3 Das Unternehmen als psychischer Rückzugsort
Ein weiterer Aspekt des Tavistock-Ansatzes ist, dass Unternehmen das primäre Risiko und weitere Risiken aushalten müssen, wenn es nicht zu Abwehrmechanismen kommen soll. In diesem Sinne müssen Unternehmer und Unternehmen auch ein gewisses Containing anbieten.
In Analogie zur Mutter-Kind-Beziehung formulierte Bion (1962) das Konzept des Containings. Dieses Modell hatte er aus seiner Theorie über die früheste Interaktion zwischen Mutter und Kind entwickelt. Das Baby...