1 Was bedeutet das sich wandelnde Medienangebot für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen?
Seit 1990 hat ein tief greifender Wandel Deutschland (und andere Industrienationen) erfasst, in dessen Folge elektronische Informations- und Unterhaltungsangebote und damit auch Computerspiele für Kinder sehr viel leichter zugänglich geworden sind. Ein kleines Gedankenexperiment mag diese These verdeutlichen: Waren es in den frühen Jahren vor allem junge Erwachsene, die „PacMac“, „Auto-Simulator“ und andere Videospiele in eigens dafür eingerichteten Spielotheken oder anderen zwielichtigen Orten mit Altersbeschränkung spielten, oder Heranwachsende, die sich zu diesem Zeitvertreib in den Computerecken der Kaufhäuser herumtrieben, so sind es heutzutage Kinder, die Computerspiele ganz bequem zu Hause öffnen, eine kleine aber wachsende Minderheit sogar am eigenen Rechner. Damit hat sich ein erheblicher Wandel in Hinblick auf die Erreichbarkeit von Computerspielen für Heranwachsende vollzogen. Eine erste Generation ist am Aufwachsen, die die Welt ohne das elektronische Informations- und Unterhaltungsmedium „Computer“ gar nicht mehr kennt. Was sich genau bei der Ausstattung der Haushalte mit den elektronischen Bildmedien Computer, Spielkonsole und Internet über die Jahre gewandelt hat, wie die konvergierenden Informations- und Unterhaltungsangebote dieser Medien von Kindern (und Jugendlichen) angenommen werden und wie sich das Freizeitverhalten von Mädchen und Jungen mit dem Alter verändert, wird in diesem Kapitel ausgelotet. Ziel ist es, vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels erste Annäherungen an die Frage zu finden, was diese medialen Neuzugänge in der Ökologie der Kindheit für die (Persönlichkeits-)Entwicklung der Heranwachsenden bedeuten.
Die empirische Basis für die Beschreibung von Eckpunkten des raschen Wandels im Bereich der elektronischen Bildmedien liefert die Studie „Kinder und Medien“ (KIM), die im Auftrag des medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest 1990, 1999 und von diesem Zeitpunkt an nahezu jährlich eine Stichprobe von jeweils etwa 1200 Kindern zwischen sechs und dreizehn Jahren und ihre Erziehungsberechtigten (meist Mütter) mit einem Fragebogen untersuchte (Feierabend & Klingler, 1999, 2001, 2003a; Feierabend & Rathgeb, 2006). Neben jährlich wechselnden Schwerpunkten fragten die KIM Studien wiederholt nach Besitz, Ausstattung und Nutzung von verschiedenen elektronischen Medien, auch vor dem Hintergrund alternativer Freizeitinteressen der Heranwachsenden. Aus dieser Serie von weitgehend parallelen Querschnittuntersuchungen lässt sich somit ein methodisch überzeugendes Bild des medialen Wandels zeichnen, das aufgrund der (nahezu) repräsentativen Stichproben der KIM Studien einer fortlaufenden Berichterstattung über die Veränderungen im Bereich der Ausstattung und der Nutzung elektronischer Medien gleich kommt. Wie noch darzustellen sein wird, erfolgte dieser Wandel in rasantem Tempo. Daher werden diese Studien, die erst verspätet und zum Teil noch gar nicht in Zeitschriften erschienen sind, im folgenden nur als KIM Studien mit dem Jahr ihrer empirischen Erhebung zitiert.
Im Zentrum dieses Kapitels steht der gesellschaftliche Wandel im Bereich der Bildschirmspielgeräte und seine Aneignung durch Mädchen und Jungen zwischen sechs und dreizehn Jahren. Gelegentlich werden wir Alterstrends anhand der Telefonbefragung „Jugend, Information und (Multi-)Media“ (JIM) der gleichen Auftraggeber und Autoren (z. B. Feierabend & Klingler, 2003b; Feierabend & Rathgeb, 2005a) bis ins Jugendalter weiterverfolgen, mehr zum Thema Jugendentwicklung findet sich in Kapitel 9. Wann immer es angemessen ist, werden wir die deutschen Befunde an Hand der „Kaiser Family Foundation Millenium Study“ (KFF) untermauern, die 1998 ein für die USA repräsentatives Sample von 2065 Schülerinnen und Schülern zwischen 8 und 18 Jahren mit einem Fragebogen und eine Unterstichprobe von etwa 600 Heranwachsenden mit einem Medientagebuch untersuchte (Roberts et al., 1999; Rideout, Roberts & Foehr, 2005). Einblick in die Medienverhältnisse in Großbritannien sowie einen Vergleich zwischen neun europäischen Ländern bietet die Studie von Livingstone (2002), die zwischen 1997 und 1998 größere Gruppen von Heranwachsenden zwischen 6 und 18 Jahren befragte. Dennoch werden diese beiden Querschnittdatensätze nur ergänzend herangezogen, zum einen, weil sie wegen der raschen Veränderungen bereits in Teilen veraltet sind, und zum anderen, weil sie durch die einmalige Erhebung lediglich einen Moment des Wandels erfassen.
1.1 Die wachsende Geräteausstattung und ihre Aneignung durch die Heranwachsenden
Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Zunahme elektronischer Medien wie Video-Recordern, CD-Playern und Handys in deutschen Haushalten (aufgrund des Preisverfalls) ist die Ausstattung der Familien mit Geräten, die zum Abspielen von Computerspielen geeignet sind, in den vergangenen 15 Jahren rapide gewachsen. Abbildung 1.1 zeigt diese sehr dynamische Entwicklung. Wie von der Diffusionstheorie vorhergesagt, verbreitete sich der Besitz von Spielkonsolen, PCs und Internet-Anschlüssen in Deutschland in Form einer S-förmigen Kurve, die zunächst recht gemächlich, dann immer schneller und zum Sättigungspunkt hin wieder langsamer anstieg (Livingstone, 2002). Besaßen Anfang der 90er Jahre noch magere 9 % der Haushalte mit schulpflichtigen Kindern in Deutschland eine Spielkonsole, so können sich mittlerweile Schulkinder in über der Hälfte der Haushalte in Deutschland an die Spielkonsole setzen, ohne die eigene Wohnung zu verlassen. Der PC fand noch schneller Einzug in deutsche Wohnungen: Während 1990 lediglich 23 % der Haushalte mit Schulkindern einen PC besaß, so verfügte 2005 schon 83 % der Haushalte mit Kindern dieser Altersgruppe und 89 % der Haushalte mit Jugendlichen (JIM 2005) über einen (oder mehrere) Computer (Feierabend & Rathgeb, 2005a). Diese Zahlen liegen wesentlich über dem nationalen Durchschnitt von 67 % der Haushalte in Deutschland, die einen Computer ihr eigen nennen (Statistisches Bundesamt, 2006). Familien mit Kindern und Jugendlichen sind damit Vorreiter, was die Ausstattung des Haushalts mit Computern, Notebooks und Laptops angeht; manche Kaufentscheidungen mögen durch den Wunsch von Eltern motiviert sein, ihren Kindern durch den Rechner Bildungschancen zu eröffnen (KIM 2005; ähnlich Livingstone, 2002 für Großbritannien).
Computer und Laptop haben die Spielkonsolen seit einigen Jahren deutlich überflügelt. Vor allem in den fünf Jahren seit Beginn des neuen Jahrtausends stieg die Zahl der Haushalte mit Computerausrüstung Jahr für Jahr um mehr als fünf Prozentpunkte an. Als neuester technischer Zugang zur Welt der Computerspiele ist das Internet zu sehen, in dem zunehmend Online-Spiele angeboten werden, die alleine oder zusammen mit anderen gespielt werden können. Die Ausstattung mit Modems und anderen Arten des Zugangs zum www hinkt zwar im Vergleich zum Besitz von PCs noch etwas hinterher, aber gerade in den letzten Jahren hat sich die Ausstattung mit Netzzugängen deutlich verbessert. Im Jahre 2005 verfügten immerhin schon fast drei Viertel der Haushalte mit Kindern im Schulalter über einen Netzzugang. Bei den Jugendlichen waren es mit 89 % noch einmal bedeutend mehr (JIM 2005; Feierabend & Rathgeb, 2005a); auch gegenüber dem nationalen Durchschnitt von 58 %. Sowohl bei der Computerausstattung als auch im Bereich der Internet-Anschlüsse erweisen sich Familien mit heranwachsenden Kindern damit als Trendsetter (Pinquart & Silbereisen, 2004).
Abb. 1.1: Geräteausstattung von Haushalten mit Kindern zwischen sechs und dreizehn Jahren in Deutschland im Zeitvergleich (Quelle: KIM Studien)
Da die Diffusion der jeweils neuen Medien in einer Gesellschaft von den einkommensstarken zu den einkommensschwachen Familien hin verläuft (Livingstone, 2002), ist zu erwarten, dass diese neuen Medien in Haushalten mit niedrigem Familieneinkommen weniger weit verbreitet sind. Dies ist nach den KIM Studien (2005) im Bereich der Computer und Internet-Anschlüsse auch der Fall (allerdings nicht bei den Handys, die in allen Schichten etwa in gleichem Maße verbreitet sind!). Gleichwohl haben elektronische Bildmedien auch in einkommensschwachen Familien Einzug gehalten. Auch wenn die jährlichen Zuwachsraten nicht so steil ausfallen wie in den wohlhabenderen Haushalten, so konnte nach der KIM Studie 2003 immerhin schon die Mehrheit (54 %) der Familien mit einem Netto-Einkommen unter 1500 Euro im Monat einen Computer ihr eigen nennen. 30 % der Familien mit geringerem Verdienst hatte einen Internet-Anschluss (gegenüber 57 % aller Familien). Spielkonsolen lassen sich in diesen Familien allerdings fast ebenso häufig (42 %) finden wie im Durchschnitt aller Familien (49 %) (KIM 2003; ähnlich Livingstone, 2002 für Großbritannien). Damit fällt die (prognostizierte) Kluft in Hinblick auf die Zugänglichkeit von Computerspielen geringer aus als erwartet. Auch in den USA beeinflussten sozioökonomische Indikatoren wie Einkommen oder Bildung der Eltern die tatsächliche Nutzung von Fernsehen, Computern und Spielkonsolen „überraschend wenig“ (Roberts et al., 1999; Rideout et al., 2005; ähnlich Livingstone, 2002 für Großbritannien). Die Beschäftigung mit Computerspielen ist insofern eine Freizeitoption, die von Kindern aus allen sozialen Schichten fast im gleichen Maße wahrgenommen werden kann (Livingstone, 2002). Einen Computer oder eine Konsole in der Familie zu haben, ist für Kinder dann von Bedeutung, wenn sie darauf spielen dürfen und zwar am besten, ohne das Gerät mit den Eltern oder den Geschwistern teilen zu müssen. Ungehinderter ist der Zugang auf jeden Fall, wenn Kinder einen Computer oder eine...