Im April 2017 meldete sich der Präsident des öffentlichen Fernsehens in Spanien (RTVE), José Antonio Sánchez, in der Casa de América in Madrid mit einer merkwürdigen Rede zu Wort. Eingeladen hatte man ihn, um einige Worte zum Abschluss eines Kooperationsabkommens zwischen den Fernsehsendern und dem seit 1990 mit dem Ausbau der Beziehungen zu Lateinamerika beauftragten Kulturinstitut zu sagen. Doch Sánchez nutzte die Gelegenheit zum Rundumschlag und behauptete, dass die spanische Eroberung des Aztekenreichs keineswegs als kolonialistischer Akt, sondern vielmehr als zivilisatorische und missionarische Leistung zu werten sei. Schließlich hätten die Spanier Kirchen, Schulen und Krankenhäuser in die Neue Welt gebracht sowie ein barbarisches und blutrünstiges Staatsgebilde besiegt. Damit brachte Sánchez wieder einmal eine Debatte in Gang, die nicht zuletzt von nationalen Sensibilitäten geprägt ist. Vor allem in Mexiko meldeten sich in zahllosen Kommentaren die Verteidiger der prähispanischen indigenen Kulturen zu Wort. Ihrer Ansicht nach waren die spanischen Eroberer die wahren Barbaren, hatten sie doch ein kulturell hochstehendes, blühendes Imperium zerstört.[1]
Die Kontroverse ist viele Jahrhunderte alt und immer noch aktuell und das nicht nur im spanischen Sprachraum. Mit dem Eroberungszug gegen Tenochtitlan, der Hauptstadt des Reichs der Mexica oder Azteken, wie man sie später nennen sollte, wurde 1519 der Grundstein für das spanische Imperium auf dem Festland Amerikas gelegt.[2] Erstmals unterwarfen Europäer einen hochorganisierten Staat außerhalb der ihnen bis dahin bekannten Welt. Damit schufen sie die Basis für die ersten weltumspannenden Kolonialreiche. Schon im 16. Jahrhundert sahen spanische Chronisten und Historiker ihr Land als legitimen Nachfolger des Römischen Reichs, das durch sie sogar noch übertroffen werde.[3] Daraus resultierte die Grundannahme der Überlegenheit der christlichen Europäer und der Inferiorität anderer Ethnien, die zu einer quasi natürlichen Ordnung der Dinge stilisiert wurde.
In der europäischen Geschichtsschreibung standen diese Aspekte stets im Vordergrund, wenngleich sich die ursprünglich triumphalistische Bewertung der Ereignisse im Lauf des 20. Jahrhunderts ins Gegenteil gewandelt hat. Was damals geschah, wurde hunderte Male in populären Darstellungen, Romanen, Gedichten, Liedern und Opern besungen und in wissenschaftlichen Abhandlungen analysiert. Allein die akademische Fachliteratur füllt ganze Bibliotheken. In der Tat war die Eroberung Tenochtitlans 1519 bis 1521 ein beispielloses Ereignis, handelte es sich doch wahrscheinlich um eine der größten Städte der Welt und die Hauptstadt eines großen und für die Europäer völlig fremdartigen Reiches.[4] Umgekehrt war es auch für die Verlierer, die Mexica, die ihre Herrschaft in Mesoamerika über Jahrzehnte immer weiter ausgebaut hatten, ein tiefer Einschnitt.
Für die Europäer der Renaissance, die der Augenzeugenschaft und persönlichen Erfahrung hohen Wert beimaßen und sich nicht mehr einseitig auf die klassischen Autoritäten verließen, waren die Nachrichten aus der Neuen Welt schon seit 1492 von großem Interesse. Doch die Sensation der Kolumbusfahrt war 1519 schon wieder Geschichte, der Genuese mehr als ein Jahrzehnt tot. In Mexiko gab es nun wieder ständig Neues zu entdecken und über Dinge zu berichten, von denen man in Europa nie zuvor gehört hatte, denn selbst die Bibel wusste nichts von diesen Ländern.[5]
Die Kunde verbreitete sich zunächst vor allem durch die Briefberichte des Hernán Cortés, des Anführers der spanischen Conquistadoren, der darin voller Staunen die ihm fremden und neuen Dinge beschrieb. Seine Schilderungen der Rituale, der Kunst, der Küche und des Schmucks der Mexica erregten Aufsehen. Wichtiger noch: Er stellte die soziale Gliederung der Mexica-Gesellschaft auf eine Stufe mit der spanischen, indem er von ‹señor›, ‹vasallo› und ‹señorio› sprach. In der lateinischen Übersetzung seiner Berichte findet sich sogar der großgeschriebene Begriff ‹Don› für den Herrscher der Mexica, Moteuczoma II. Xocoyotzin.[6] Cortés’ Betonung der Disziplin und beeindruckenden sozialen Ordnung in der Mexica-Gesellschaft macht den Gegensatz zu den früheren Erfahrungen des Kolumbus besonders deutlich. Sein erster Bericht von 1519 rief geradezu den Eindruck hervor, dass auf Augenhöhe mit einem fremden Herrscher verhandelt wurde, ganz so wie die katholischen Könige Spaniens es erwartet hatten, als sie Kolumbus 1492 auf die Reise schickten.[7] Doch Kolumbus hatte in der Karibik eben keine Staatswesen und mächtigen Könige entdecken können. Kaiser Karl V. wies Cortés denn auch an, die neuen Untertanen ebenso gut zu behandeln wie die Vasallen in Europa.[8]
Für die Bewohner Mesoamerikas war der Eindruck kaum weniger neu und überraschend. Auch für sie eröffnete sich mit dem Anblick der Spanier eine neue Welt. Die helle Haut, die manchmal hellen Haare, die Körperbehaarung, die Kleidung, die Hüte und Gerätschaften, Lebensmittel und Getränke, alles war für sie neu. Besonders beeindruckten sie die Form der Schiffe und die Nutztiere, hatte man Pferde und Hunde in Mesoamerika doch noch nie gesehen. Bewaffnung, Fahnen und christliche Symbole wie vor allem das stets präsente Kreuz erregten ebenfalls Interesse. In ihren Annalen stellten sie diese Neuheiten bildlich in Glyphen dar, einer Bildersprache, die das Pendant zur Schriftsprache der Spanier war.[9]
Man begegnete sich also mit Staunen, aber auf Augenhöhe, wenngleich das den Beteiligten nicht bewusst war. In der Tat war ja die globale Dominanz der Europäer noch bis Ende des 18. Jahrhunderts keineswegs gegeben. Denn zu dem Zeitpunkt wurden noch rund 80 % des weltweiten Bruttosozialprodukts in Asien erwirtschaftet. Ausgedehnten Kolonialbesitz hatten die Europäer bis dahin nur in Amerika, während sie andernorts nur über Handelsstationen verfügten.[10] Außerdem bildeten imperiale Expansionen in der Frühen Neuzeit keine Seltenheit. Sowohl das osmanische, das chinesische, das russische und das Songhay-Reich in Westafrika als eben auch bis zur Ankunft der Europäer die Reiche der Inka und der Mexica erweiterten ihre Herrschaftsgebiete in diesem Zeitraum entscheidend.[11] Allerdings handelte es sich dabei um Landimperien, während sich den Europäern weitab von der Heimat jenseits des Ozeans völlig neue Horizonte öffneten. Die neuen Erfahrungen, die sie dort machten, und das Wissen, das sie von dort mitbrachten, waren für die Weltbilder der Renaissance, die darauf auch humanistische Ideale projizierte, von zentraler Bedeutung.[12]
Der Kulturkontakt spielte sich nicht im friedlichen Einvernehmen, sondern im Zeichen kriegerischer Eroberung ab. So legten die Conquistadoren in ihren Selbstdarstellungen größten Wert darauf, wie die Helden der damals sehr beliebten mittelalterlichen Ritterromane mit einer verschwindend kleinen Truppe ein großes Reich besiegt zu haben. Dieser Mythos ist bis in heutige Schulbücher hinein weitergegeben worden.[13] Immer wieder stellten Autoren die Frage, wie ein paar hundert Männer unter dem Kommando des Abenteurers Cortés Tenochtitlan erobern konnten. Doch diese Frage ist zumindest teilweise falsch gestellt, denn sie geht von Vorannahmen aus, die mehr als zweifelhaft sind. War es denn tatsächlich nur die kleine Schar verwegener Spanier, die den Triumph im heldenhaften Kampf gegen die Übermacht der Feinde errang? Waren nicht auch andere Faktoren ausschlaggebend?
Ein Ziel dieses Buches besteht darin, neue Fragen aufzuwerfen. In welchem Kontext bewegten sich die Akteure? Welche Welten erzeugten sie im Rahmen der meist blutigen Begegnungen mit dem Fremden? Der in der Historiographie jüngst häufig geäußerten Forderung nach mehr Aufmerksamkeit für die Akteure, die soziale Räume erst schaffen, soll hier Rechnung getragen werden.[14] Denn die gewaltsame Zerstörung und Neufestlegung dieser sozialen und ethnischen Räume betraf alle Beteiligten, Sieger und Besiegte. Diese stehen mit ihren individuellen Perspektiven im Mittelpunkt, spiegeln sie doch die Vorstellungen von Welt zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt. Es geht darum, ihre Handlungs- und Gestaltungsspielräume auszuloten.[15] Dabei zielt diese Studie nicht auf das klassische biographische Erkenntnisinteresse an einem logisch erklärbaren Individuum, sondern vielmehr auf die Dezentrierung der Hauptakteure. Zum einen versuchen diese, wie die biographische Forschung betont, den «Eindruck der Kohärenz»...