Pura vida, pura natura
Das wahre Leben in unberührter Natur
Tiere, Pflanzen, Lebensräume
Kurz vor 6 Uhr ist die Nacht zu Ende. Durch die Ritzen der Holzhütte dringt strahlend helles Licht, und draußen tobt bereits das Leben. Alle Vögel des Urwalds scheinen sich zum Morgenständchen versammelt zu haben. Die krächzenden Rufe des Tukans, der seinen bunten Schnabel weit aufreißt und dabei keck den Kopf in den Nacken wirft, sind leicht herauszuhören. Zarter ist der gleichmäßige Gesang des Oropéndola Montezuma. Frech kreischend mischen sich Papageien ein, die ständig einen Familienkrach auszutragen scheinen. Ein Specht hämmert wie wild im Takt dazu. Bunt schimmernde Kolibris liefern mit ihrem schnellen Flügelschlag eine schwirrende Hintergrundmusik. Solch fröhlich vielstimmiges Konzert steht mit wechselnden Solisten in Costa Rica an jedem Morgen auf dem Programm.
Tukane fallen durch ihren großen Schnabel auf
Und all die anderen Vögel, große und winzige, mit roter oder gelber Brust, mit grüner oder blauer Haube, mit langem Schnabel oder langem Schwanz, mit glänzend schwarzen, strahlend weißen, leuchtend bunt gefärbten Federn: 850 Vogelarten, das sind zehn Prozent aller Vögel der Welt, leben ganz oder zeitweise in Costa Rica. Wenigstens einige davon kennen- und auseinanderhalten zu lernen, gehört zu den abwechslungsreichen Urlaubsbeschäftigungen in dem Land, das sich seiner Natur wegen zu einem der beliebtesten Reiseziele entwickelt hat. Pura natura, die reine, die unberührte Natur zu erleben ist wichtigstes Reisemotiv. Zur natura haben Deutsch-Schweizer Reiseagenturen die spanische naturaleza verkürzt.
Von Gold ging die Kunde, als Kolumbus 1502 die »reiche Küste« entdeckte. Doch nach Gold suchten die spanischen Eroberer vergeblich. Den wahren Reichtum des Landes entdeckten 500 Jahre nach Kolumbus die neuen Eroberer, die Touristen aus aller Welt: Costa Rica ist reich an Naturschätzen und -schönheiten, ein Paradies für Naturfreunde und solche, die bereit sind, es zu werden. In Costa Rica wird man es bestimmt.
Das kleine Land, mit 51 000 Quadratkilometern ein wenig größer als Niedersachsen, hat einmalig günstige Voraussetzungen. Die schmale Brücke zwischen den gewaltigen Landmassen von Nord- und Südamerika, zwischen Atlantik und Pazifik wurde zum Sammelbecken für Tiere und Pflanzen aus allen Teilen der Welt. Der Höhenzug der Kordilleren, der das Land vom Nordwesten nach Südosten, von Nicaragua bis Panama durchschneidet, ist genauso verantwortlich für die Vielfalt der Lebensräume, Vegetationsstufen und Klimazonen wie die Winde, die vom Atlantik und Pazifik unterschiedlich viel Regen mitbringen. An der schmalsten Stelle trennen die beiden Weltmeere lediglich 119 Kilometer.
Llanos de Cortes-Wasserfall in Bagaces (Guanacaste-Provinz)
Costa Rica ist Heimat für mehr Tierarten, als ganz Europa aufzuweisen hat. Auf einem einzigen Hektar Regenwald versammeln sich bis zu 500 000 Pflanzen und Millionen von Lebewesen. Anders als in mitteleuropäischen Wäldern wachsen Tropenbäume nicht in Familien dicht beieinander. Fast jeder Baum gehört einer anderen Spezies an.
Über 2000 Schmetterlingsarten wurden in Costa Rica identifiziert. Das sind rund zehn Prozent des bekannten Vorkommens in aller Welt. Es gibt 220 Arten von Reptilien, darunter 135 Schlangen. Frösche und Kröten bringen es auf 160 Arten. Von den über 200 Säugetierarten sind etwa die Hälfte Fledermäuse. Sechs der acht Spezies von Meeresschildkröten, die es derzeit noch gibt, wählen Costa Ricas Küsten zur Eiablage. Die erforschte Pflanzenvielfalt liegt bei weit über 12 000 verschiedenen Arten. Allein von den Orchideen sind über 1200 verschiedene Blüten bekannt. Die Zahl der registrierten Baumarten liegt bei 1300. Doch das ist längst nicht alles.
Täglich machen Biologen neue Entdeckungen. Im ganzen Land sind parataxómonos unterwegs, um Insekten und Pflanzen zu sammeln, die dann im Institut für Biodiversität registriert und ausgewertet werden. Man hofft, vielleicht weitere nützliche Wirkstoffe für die Medizin zu finden. Millionen Lebewesen, so die Schätzungen, sind noch nicht bekannt. Wissenschaftler unterscheiden in Costa Rica zwölf Lebensräume in acht Vegetationszonen, durch Höhenlage und Niederschlagsmenge definiert. Drei wesentliche sind Regenwald, Nebelwald und tropischer Trockenwald, daneben gibt es Mangrovenwälder und Sumpflandschaften und dazwischen Abstufungen und Übergänge, die mit jeweils anderen Pflanzen und Tieren eigene Ökosysteme entwickelt haben.
Der tropische Regenwald mit seiner immerfeuchten Wärme von 24 bis 28 Grad Celsius beherbergt den größten Artenreichtum, der sich auf fünf ineinander verwobene Stockwerke verteilt. Aus dem dichten Kronendach ragen bis zu 70 Meter hohe Baumriesen heraus, darunter kämpfen niedrige Bäume, Sträucher, Schlingpflanzen, Klettergewächse, Bromelien und Orchideen ums Licht. Der Boden, den kein Lichtstrahl erreicht, ist nahezu frei von Pflanzenwuchs. Jeder Baum bewirtet andere Pflanzen, die wiederum Insekten, Frösche, Schlangen, Vögel und viele weitere Tiere ernähren.
Bullenreiten während der Semana-Santa-Fiesta in Santa Cruz
Eine ganz eigene Faszination hat der Nebelwald in höheren und kühleren Regionen, wo die Feuchtigkeit stehenzubleiben scheint – ideale Bedingungen für Bromelien und Orchideen, Moose und Flechten, Farne und Lianen. Üppig wachsen Philodendron und andere Zierpflanzen, die zu Hause im Blumentopf eher dahinkümmern. Leuchtend rote Farbtupfer setzen Ingwerblüten, die bananenähnlichen Heliconien, die zarten Blüten der Lobelie. Der Nebelwald kommt dem Dschungel unserer Abenteuerfantasien ganz nah. Mit der Höhe nimmt die Artenvielfalt jedoch ab.
Der tropische Trockenwald mit seinen Savannen und Kakteen ist nur im Nordwesten des Landes anzutreffen. In der trockenen Jahreszeit werfen die Bäume ihr Laub ab und schmücken sich stattdessen mit prachtvollen Blüten wie der flammend rote Korallenbaum Poro-poro.
Nationalparks, Reservate und Landwirtschaft
Costa Rica hat rund 25 Prozent der Landesfläche als Nationalparks, Wild- und Forstreservate, biologische Reservate oder Indígenas-Reservate, auch Territorios Indígenas, unter besonderen Schutz gestellt. Während Nationalparks der Öffentlichkeit durch eine kontrollierte Infrastruktur zugänglich gemacht werden sollen, sind biologische Stationen vorwiegend für die Forschung gedacht. Ob eine Region Nationalpark, Wild- oder Forstreservat wird, hängt auch von den Eigentumsverhältnissen ab. Um einen Nationalpark einzurichten, muss der Staat Privatbesitz aufkaufen. Dafür fehlt meist das Geld. Auch in bestehenden Parks haben (noch) nicht alle Landeigentümer Entschädigungen erhalten. In den Reservas gilt ein Abholzungsverbot, doch dürfen die Bewohner ihren Grund und Boden weiterhin nutzen. Und dazwischen gibt es vielerlei Interessen und Möglichkeiten, Verbote zu umgehen.
Sein Lebensraum sind die tropischen Regenwälder und die Mangroven: Ozelot
Korruption gehört in Costa Rica zum Alltag. Touristen kommen am ehesten damit in Kontakt, wenn sie von der Verkehrspolizei, Policía del Tránsito, bei tatsächlichen oder angeblichen Verkehrsübertretungen ertappt werden. Auch dieses paradiesische Land, dessen Naturschutzprogramme als vorbildlich gelten, ist nicht ohne Probleme. Costa Rica hat eine der höchsten Abholzungsraten der Welt. Edelhölzer sind gefragt für Möbel und als Baumaterial, anderes Holz wird verfeuert oder verrottet am Straßenrand, weil sich offenbar doch nicht genügend Abnehmer finden.
Land wird urbar gemacht für Landwirtschaft und Weiden. Internationale Konzerne brauchen immer größere Anbauflächen für Bananen, Ananas und Ölpalmen. Straßen werden durch den Regenwald gebaut, Erdölleitungen durch die Berge gelegt, Minen mit schwerem Gerät ausgebeutet. Flüsse werden umgeleitet und aufgestaut zur Energiegewinnung. Die Natur rächt sich mit Erosion, Erdrutschen und Überschwemmungen.
Ein leuchtend blauer Himmelsfalter (Morpho peleides)
Die Probleme sind erkannt, die Notwendigkeit zum Erhalt des Regenwalds für unser aller Weltklima ist unumstritten. Doch zwischen politischer Absichtserklärung und praktischen Maßnahmen, zwischen wirtschaftlichem Fortschritt und Naturschutz klaffen gewaltige Lücken. Das ist in Costa Rica nicht anders als in anderen Ländern. Aber es gibt viele ermutigende Aktivitäten und Unternehmungen zum Erhalt und zur Wiederherstellung der Waldregionen. Im ganzen Land werden zahlreiche Wiederaufforstungsprojekte durchgeführt, die zwar nie die Artenvielfalt des natürlich gewachsenen Walds erreichen können, jedoch Lebensraum für einige bedrohte Tiere schaffen und den Menschen durch gezielte Bewirtschaftung ein Auskommen bieten.
Groß ist das private Engagement, oft unter Beteiligung internationaler Organisationen. In Monteverde hat sich eine Umweltschutzliga gebildet, die Farmland zur Wiederaufforstung aufkauft, Bauern in der umweltverträglichen Nutzung berät und Aufklärungskurse für Schüler und Lehrer veranstaltet. Tourismus ist die wichtigste Einnahmequelle dieser Organisation, die auch den »Ewigen Regenwald der Kinder« ins Leben gerufen hat.
In Rara Avis, einer der ältesten privaten Einrichtungen, hat der US-amerikanische Biologe Amos Bien bewiesen, dass die Bevölkerung mit den Schätzen des intakten Regenwalds mehr Geld verdienen kann als mit Viehzucht auf abgeholzten Flächen. Orchideen, Baumsamen und...