II.
Jesus Christus: Jungfrauengeburt und Gottessohnschaft
Evolution (davon war bisher die Rede) und Inkarnation (davon soll im folgenden die Rede sein) – wie soll das zusammengehen können? Evolution, so wurde in unserem Jahrhundert immer deutlicher, ist ein universaler Begriff, der die ganze Wirklichkeit von Welt, Leben und Mensch, von Kosmogenese, Biogenese und Anthropogenese umfaßt. Also konkret:
– die Kosmogenese: Evolution meint nicht erst die biologische Entwicklungsgeschichte, sondern die gesamte Entwicklung des Kosmos, jene Welt-Geschichte, die mit dem Urknall vor rund 15 Milliarden Jahren begonnen hat;
– die Biogenese: Auch die ersten Lebensformen haben sich aus den vorausgehenden Entwicklungsphasen der unbelebten Materie entwickelt, wie dies die Mikrobiologie schon weithin zu erklären vermag;
– die Anthropogenese: Erst recht hat der Mensch selber sich aus niederen Lebensformen entwickelt und entwickelt sich, freilich in ungeheuer großen Zeiträumen, möglicherweise noch weiter, falls er sich nicht selber zerstört, so daß der heutige Mensch keineswegs schon als Ziel der Entwicklung, Gipfel der Evolution, »Krone der Schöpfung« zu verstehen wäre.
Dies alles aber bedeutet nun: Keine grundsätzliche Zäsur im Evolutionsprozeß! Keine Trennung dieser Welt in zwei Hälften: als ob in der einen ausschließlich die Naturgesetze regierten und in der anderen der unmittelbare Eingriff eines göttlichen Schöpfers. Deshalb die Frage: »Was soll in einer solchen kosmisch-biologisch-anthropologischen Evolution eine göttliche Inkarnation, in einem derart universalen Geschehen ein absolut partikulares Ereignis? Oder kann man sich vielleicht eine Menschwerdung denken, die nicht die naiv-religiöse Behauptung eines mirakulösen göttlichen ›Inter-venierens‹, ›Dazwischen-kommens‹ voraussetzt? Eine Inkarnation, die den kausalen Ablauf nicht unterbricht, die kein unvermitteltes ›übernatürliches‹ Hinabsteigen in den sonst ungestörten naturgesetzlichen Prozeß bedeutet?« Doch da zeigt sich im Apostolischen Glaubensbekenntnis schon eine erste, fast unüberwindliche Schwierigkeit:
1. Glauben an eine Jungfrauengeburt?
Auch was diesen Glaubenssatz betrifft, so haben viele Menschen weniger Glaubensdefinitionen als Glaubensdarstellungen im Kopf: Bilder von der Inkarnation, von Mariä Verkündigung und Jesu Geburt. Wer kennt nicht das klassisch gewordene Bild von der Verkündigung an Maria, das ein halbes Jahrhundert vor Michelangelos Fresken – zwischen 1436 und 1445 – im damals neuen Kloster San Marco zu Florenz ein Dominikanermönch groß und doch innerlich geschlossen an die Wand einer Mönchszelle gemalt hat, er, Fra Giovanni da Fiesole, nach seinem Tod Fra Angelico genannt.
»Beato Angelico«: Der einzige Künstler, den die Kirche je »beatus«, »selig« gesprochen hat. »Beatus« natürlich nicht, weil er auf dem Übergang vom schönen, weichen, höfisch verfeinerten Stil der abklingenden Internationalen Gotik zur italienischen Frührenaissance den Goldgrund durch die Landschaft ersetzt hat und die Flächenhaftigkeit durch wissenschaftlich korrekte Perspektivität und Plastizität der Figurengestaltung, oder weil ihm die dekorativen Details weniger wichtig waren als die klassische Einfachheit. »Beatus« vielmehr, weil er mitten im lebenslustigen Florenz des Cosimo di Medici in unberührter, stiller Beschaulichkeit für die Meditation der Mönche malte.
Vor einer perspektivisch vollendet dargestellten Säulenhalle, der des Hofes von San Marco ähnlich, und in einer ganz eigenen Harmonie heller Farbtöne sieht man auf dieser Zellenwand zwei liebenswürdige, einander in Zwiesprache zugeneigte Gestalten: links in feingerafftem Rosa mit farbenprächtigen Flügeln der Engel, rechts auf einem Schemel sitzend in blaßrotem Gewand und blauem Mantel die Jungfrau Maria – in demütigem Erschrecken über des Engels Gruß und was er zu bedeuten habe: »Du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, Du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären und Du sollst ihm den Namen Jesus geben« (Lk 1, 30f). »Vezzoso« sei diese Kunst, hieß es schon früh, lieblich, anmutig, und »ornato«, geschmackvoll, und von großer »facilità«, Leichtigkeit, Mühelosigkeit. Eine Verbindung jedenfalls von mittelalterlich-naiver Gläubigkeit und einer vornehm einfachen frührenaissanceschen Szenerie. Ein »hortus conclusus«, ein mit Brettern von den hochstämmigen Bäumen im Hintergrund abgeschlossener blühender Garten: Symbol offensichtlich für die ohne männliche Zeugung erfolgte Empfängnis Jesu durch Maria, die Jungfrau. Ein Bild zwischen Tag und Traum …
»Aber«, höre ich da den Zeitgenossen sagen, »das ist doch mehr Traum als Tag! Mehr Bild als Sinn! Mehr Mythos als Logos! Sie wollen doch nicht, daß wir – wie die Natur auf Fra Angelicos Bild – gleichsam den Atem anhalten, um den weihevollen Augenblick nicht zu stören? Sie wollen uns mit diesem gewiß selten schönen Andachtsbild aus dem Quattrocento doch nicht im 20. Jahrhundert zum Bekenntnis an ›Jesus Christus … empfangen durch den Heiligen Geist (conceptus de Spiritu Sancto), geboren von der Jungfrau Maria (natus ex Maria Virgine)‹ verlocken?«
Vielleicht aber kann ich hier als Theologe angesichts der schwierigen Problematik die Psychologie, und vor allem Tiefenpsychologie, zu Hilfe rufen? Aber – soll ich, darf ich?
2. Christusglaube im Zeitalter der Psychotherapie
Bekanntlich hatte Freud einen großen Konkurrenten in der Psychotherapie, der mehr mit der Religion anzufangen wußte als er selber, der wegen der materialistischen Naturwissenschaften zum Atheisten geworden war: den Schweizer Carl Gustav Jung, den Begründer der »Komplexen Psychologie«. Jung hat sich in vielen Schriften gerade auch der christlichen Glaubenssymbole angenommen, um sie auf die hier manifest gewordenen psychischen Tiefenstrukturen hin zu befragen. So auch beim »Symbol« der Jungfrauengeburt. Für Jung ist das »göttliche Kind«, geboren aus der Jungfrau, ein Urbild, eine jener Vorstellungen, die sich im Unbewußten niedergeschlagen haben, uns seit Urzeiten genetisch überkommen und allen Menschen gemeinsam sind, eines der Abbilder ursprünglich von instinktiven, psychisch notwendigen Reaktionen auf bestimmte Situationen – vergleichbar mit anderen Urbildern: der Mutter, dem strahlenden Helden, dem bösen Geist, dem Drachen, der Schlange. In Jungs Terminologie: Das Bild vom göttlichen, heilenden, rettenden Kind ist ein Archetyp, ein Urmuster der Seele. Es drückt sich in verschiedenartigen Bildern und Erlebnissen, Abläufen und Auffassungen aus, und dies besonders im Zusammenhang erlebnisstarker Erfahrungen des Menschenlebens wie Geburt, Reife, Liebe, Gefährdung, Errettung und Tod.
Den berühmten Begriff »Archetyp« hatte Jung nicht erfunden. Er war von Haus aus ein theologischer Begriff und stammte aus der gnostischen Geheimlehre des spätantiken Corpus Hermeticum. Jung übernahm ihn vor allem aus den Schriften des angeblichen Paulus-Schülers Dionysios Areopagites (er vermittelte im 5./6. Jahrhundert dem Westen die östliche Mystik) und aus dem Werk Augustins, der Platons ewige Ideen als »ideae principales« im göttlichen Intellekt verankert hatte. Aber während die idealen Urbilder Platons und Augustins von höchster lichter Vollkommenheit sind, so haben die Archetypen Jungs, der seine Einsichten aus seiner therapeutischen Praxis wie aus der Beschäftigung mit den religiösen Traditionen alter Völker schöpfte, eine bipolare, ambivalente Struktur; zeigen sie doch sowohl eine lichte wie eine dunkle Seite.
Was nun besagt der Archetyp »göttliches Kind, geboren von einer Jungfrau«, das in allen Zeiten und in allen Völkern, in Märchen und Mythen, in der Kunst und in der Religion vielfältigsten Ausdruck gefunden hat? Nach Jung ist das göttliche Kind für unsere Träume und Mythen das große Symbol für das »Nichterzeugte«, Nichtgemachte in unserer individuellen oder auch kollektiven Psyche. Dieser »jungfräulichen« Gestalt ist die Gestalt des Mannes, das heißt die Vernunft, der Verstand, entgegengesetzt. Die Sprache des Unbewußten ist ja nun einmal eine gefühlsbestimmte Bildersprache. Mythen, Sagen, Märchen sind ja so etwas wie objektivierte Träume. So auch beim göttlichen Kind. Es ist ein Archetyp und wie alle anderen Archetypen eine unerschöpfliche Quelle uralten Wissens um die tiefsten Zusammenhänge von Mensch, Welt und Gott!
Kein Wunder, so gesehen, daß sich das Symbol des göttlichen Kindes, geboren aus der Jungfrau, auch schon in der Bibel findet. Allerdings auffälligerweise noch nicht in der Hebräischen Bibel. Denn in der berühmten Immanuel-Wahrsagung des Jesajabuches (7, 14) ist nur von einer »jungen Frau« (hebräisch »alma«) die Rede, die einen Sohn gebären wird, dem sie den Namen »Immanuel« = »Gott mit uns« gibt. In der griechischen Übersetzung der Hebräischen Bibel allerdings wird »alma« (fälschlicherweise) mit »parthénos« = »Jungfrau« wiedergegeben, und so ist diese Stelle auch ins Neue Testament eingewandert als alttestamentlicher »Beleg« für die Jungfrauenschaft der Mutter des Messias. So steht denn die Vorstellung vom göttlichen Kind und der Jungfrau in den wundersamen Eingangshallen zu den Großevangelien des Mattäus und Lukas, die beide im Neuen Testament allein eine Kindheitsgeschichte Jesu bieten mit Stammbaum und Nennung der Eltern, mit Geistzeugung und jungfräulicher Geburt.
So kann es denn kaum erstaunen, daß nicht wenige Theologen und Theologinnen in Europa und Amerika...