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Wo will ich noch hin mit meinem Leben?
Wo will das Leben noch mit mir hin?
Zwei Fragen und keine Antworten.
Nicht mal eine.
Ich bin 65 und habe zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, ich sollte ihm eine Richtung geben. Dabei gibt das Alter von ganz allein eine grobe Peilung an. Mit Mitte sechzig ist das Ende in Sicht. Zielgerade. Dabei scheint es egal, ob diese Strecke nur zwei oder noch zwanzig Meter/Jahre lang ist.
Zwanzig Jahre sind lang, wenn man sie mit Leben füllt, oder? In den letzten zwanzig Jahren bin ich nach Amerika gezogen, habe dort gelebt und gelernt, bin beruflich der Länge nach hingeschlagen, wieder aufgestanden, gefeiert worden, zurückgekommen, habe mich verliebt, verheiratet, Bücher geschrieben, Angst gehabt, persönlichen Schrecken erlebt, alte Freunde verloren, neue gefunden. In der Rückschau war das unglaublich viel. Viel Leben.
Warum zögere ich dennoch zu glauben, dass die nächsten zwanzig Jahre genauso voll, bunt und intensiv sein werden? Vielleicht weil es keine zwanzig mehr sein werden. Vielleicht nur zehn. Oder gar nur eines? Nicht mal das?
Lebe jeden Tag so, als ob es der letzte Deines Lebens wäre. Zehn Euro fürs Phrasenschwein.
Hat was von Schlussverkauf, von Hektik, Raffgier, Mitnehmen, was man kriegen kann. Das große Ramschen am Lebensabend, bevor nichts mehr geht. Ich tröste mich damit, dass es sich in meinem Fall möglicherweise erst mal nur um den späten Nachmittag des Lebens handelt. Das Gefühl, dass noch was kommen soll, kommen muss, ist nur vage. Aber es ist da, es plagt mich, schiebt mich, drängt mich in eine Richtung, die ich nicht erkennen kann. Als hätte ich Scheuklappen auf. Werde aber den Eindruck nicht los, dass es gut wäre, mich endlich auf den Weg zu machen. Wohin? Ich habe keinen Plan.
Wenn ein Autor gut ist, dann sagt er nichts. Er flüstert es. Wenn ich mein Flüstern höre, bin ich mir nicht wirklich sicher, ob ich es aufschreiben sollte.
Ich bin mir nicht ganz geheuer. Beim Strandspaziergang nur der Ozean an meiner Seite, mein Blick geht ins Ungefähre, ich bin mit mir selbst unterwegs. Schaue mir beim Gehen zu und frage mich, wie lange das noch gut gehen kann. Wie viel Sorglosigkeit, wie viel Unbeschwertsein erlaubt sind, bevor der Leichtigkeit, dem Luftballonherzen in mir, die Luft ausgeht. Als würde mein Inneres mir zustimmen wollen, schickt es einen Seufzer nach oben. Er ist nicht nur tief, er ist auch laut. Ein leiser Schrei. Ich laufe am Strand entlang und schreie einmal kurz auf.
Ungewollt, es macht jemand in mir, den ich nicht kenne. Es ist mir peinlich, ich bin mir peinlich.
Eine ältere Frau am Strand, die laut seufzt. Zu laut.
Wenn man könnte, würde man, nur ein einziges Mal, wissen wollen, was in Zukunft ist? An einem Januartag in einem Jahr? In fünf, in zehn Jahren? Und wenn man wüsste, dass man dann schon nicht mehr ist, würde man sofort damit anfangen, anders zu leben?
Vor ein paar Monaten ist der Vater eines Freundes gestorben. Bei der Beerdigung las der Pfarrer einen Psalm aus der Bibel, von dem ich gleich wusste, der ist für mich bestimmt. Verwegener, aber sehr sicherer Gedanke. »Bedenket, dass ihr sterben müsst, auf dass ihr klug werdet.« Als hätte da mal eben einer ganz lässig den Sinn des Lebens, den Sinn meines Lebens, auf den Punkt gebracht. Die Furcht, sterben zu müssen, jetzt, wo es mir manchmal scheint, als habe ich halbwegs begriffen, wer ich bin, wie ich bin (von lautstarken Strandseufzern abgesehen), begleitet mich wie ein sanfter Schatten.
Mit dem Sterben ist es wie mit dem Altwerden. Keiner sagt einem, wie es sein könnte. Alle schreiben sie Ratgeber, aber eigentlich sind sie alle ahnungslos. Ich weiß mir keinen Rat, das wäre mal ein kluges Bekenntnis, ein ehrlicher Buchtitel.
Ehrlich gesagt will ich auch von anderen gar nicht wissen, wie es am besten gehen könnte. Mit dem Sterben und dem Altwerden. Mit 65 Jahren geht man mit nicht mehr ganz so federnden Schritten auf die 70 zu. Ob ich da unversehrt ankomme, ob ich da überhaupt ankomme, woher soll ich das wissen?
Ich habe Furcht zu sterben. Ziemlich banal, hat vermutlich jeder, falls er sich auf den Gedanken überhaupt einlässt, das Ende zu bedenken. Ich habe Furcht, weil es zu früh sein könnte. Weil ich unbedingt noch bleiben will. Jetzt, wo ich ganz vorsichtig die Erziehung des Lebens zu begreifen beginne. Sie ist nicht autoritär, nicht anti, nicht Summerhill und nicht Waldorf. Sie ist für mich seit mehr als sechzig Jahren eine Mischung aus erstaunlichen Nackenschlägen, die sich abwechseln mit beruhigenden Streicheleinheiten. Der Rhythmus erschließt sich mir nicht, vielleicht ist es tatsächlich eine Abfolge von sieben guten und sieben schlechten Jahren.
Wenn es dunkel ist, kann alles schiefgehen. Im Kopf. Mit so einer Reise. Mit dem Leben. Mit der Zukunft. Gestern beim Wein mit Freunden erzählten sie von einer Verwandten, die auf einem Parkplatz vor dem Supermarkt aus dem Auto stieg, den Einkaufszettel in der Hand. Wenige Sekunden später konnte sie nicht mehr sprechen, keinen Satz, kein einziges Wort, nicht mal ein »Hilfe« brachte sie zustande. Der Tumor in ihrem Kopf, von dem sie nichts ahnte, weil sie nichts spürte, hatte das Sprachzentrum erreicht.
Was wäre, wenn? Wenn es mir morgen beim Delfingucken am Strand so ginge wie der Frau auf dem Parkplatz?
Angekommen am Ferienort mit dem undeutlichen Gefühl, nie weg gewesen zu sein. Über das Phänomen Zeit haben sich klügere Leute den Kopf zerbrochen. Ich stehe nur erstaunt vor der Tatsache, dass zwölf vergangene Monate woanders ein Nichts sind, wenn sie beim Anblick von Vertrautem so schnell aus dem Gedächtnis zu tilgen sind: die Dünen, der Strand, der Rotwein in der Kneipe an den Gleisen der stillgelegten Eisenbahnstrecke.
Und wenn das mit dem Leben tatsächlich so schnell geht, bin ich in gefühlten sechs Monaten achtzig. Und dann?
Beim Strandlaufen fange ich an, Steine zu sammeln. Nicht irgendwelche, sondern die mit den geometrischen Linien und den klaren Farben, dunkelrotbraungelb. Und schon hat mich die Frage nach dem Wann-woher-wohin am Wickel. Wie alt ist so ein kleiner Kiesel? Wo kommt er her, was würde er preisgeben, könnte man die Botschaft seiner Zeichnung entziffern?
In hundert Jahren wird ihn irgendein anderer Mensch in der Hand halten.
Am Strand hockt ein Kormoran, die Flügel weit ausgebreitet, als habe ihn jemand an ein unsichtbares Kreuz genagelt. Er watschelt Richtung Wasser, als ich näher komme. Ein Vogel, der nicht mehr fliegen kann, von den Wellen wird er hin- und hergeworfen wie eine Gummiente, die in einen Duschstrahl gerät.
Der Kormoran ist noch immer da, steht an Land mit tropfnassem Gefieder, ein jämmerlicher Anblick. Ich frage im Guesthouse nach Hilfe. Verständnisloser Blick.
Mother Nature will do what she has to do. Wie im richtigen Menschenleben auch.
Ich trödele in den Tag, denke, dass ich lange hier bleiben möchte. Und zähle doch schon die Tage bis zur Abreise. Schönes kann ich schwer ertragen.
Wir essen bei den »Girls«. Zwei lesbische Frauen, die vor ein paar Jahren hinter einer Tankstelle in einem Anbau ein Restaurant eröffnet haben. Ein dunkler Schuppen, in dem die Luft steht. Im besten Fall kriegt man einen Fensterplatz, ein kleiner Guckkasten mit Blick auf Zapfsäulen. Öffnen verboten, sonst riecht man das Benzin. Aber das Essen ist erstklassig, der Laden ist jeden Abend gerammelt voll. Die Küche ist ein Glaskasten mitten im Restaurant. Roxanne, die eine Hälfte der Girls, wirbelt auf ein paar Quadratmetern, drei, vier Frauen gehen ihr zur Hand. Die andere Hälfte der Girls, Cherry, weiß nicht mehr, dass sie mal die andere Hälfte war. Für Vorspeisen und Desserts war sie zuständig, das hat sie längst vergessen. Auch wie man sich bewegt, wie man lacht, sich umarmt.
Zwei Jahre nach der Eröffnung der Girls ist sie ausgefallen, jetzt sitzt sie zu Hause. Wartet, dass es dunkel wird und Roxanne nach Hause kommt. Vielleicht weiß sie auch schon nicht mehr, wie Warten geht. Was Warten ist.
Dass Roxanne ihr Girl war.
Der Kormoran ist immer noch da. Leichte Beute für einen alten Hund, der von seinem Besitzer gerade noch zurückgepfiffen wird. Ich wünsche mir insgeheim, er wäre weniger gehorsam gewesen, hätte seinen Instinkten vertraut und zugebissen.
Einladung bei Gerhard, dem Innkeeper.
Der sich sein Stück Paradies am Indischen Ozean von einer Abfindung kaufte, die er bekam, als er keine Lust mehr auf den ganz normalen Alltag hatte, auf das Leben als Angestellter einer Bank in Johannesburg. Lange Jahre gehörte er zu einer kleinen, aber feinen Truppe, die auf besondere Investments spezialisiert war. Beim Millenium-Jahreswechsel war er noch bei der südafrikanischen Task-Force, die um Mitternacht wie gebannt auf die Computer der großen Banken starrte, jederzeit mit dem Zusammenbruch der Systeme rechnend. Irgendwann danach verließ ihn die Lust. Drei Wochen lang war er jeden Morgen mit dem Warum-tue-ich-das-Gefühl aufgestanden. Und dann war es gut. Mit den vielen Zweifeln. Zu viele, als dass er sie noch länger hätte bändigen mögen. Ausgezweifelt und aufgehört. Nicht zum Jahresende, nicht in drei Wochen, drei Monaten. Nein, heute.
Morgen, hatte er beschlossen, beginnt ein anderer Tag in einem anderen Leben. In seinem neuen Leben ist er mit Freude Innkeeper, steht morgens in der Küche des Guesthouse, denkt...