I.
Als hoffnungsvolle Herausforderung, gar als Verheißung galt noch vor etwa drei Jahrzehnten die Vorstellung, dass die Welt eine Welt würde. Zugleich galt und gilt die Eine Welt als große gemeinsame Aufgabe für die Menschheit, den wechselseitigen Abhängigkeiten und Bedrohungen mit einem neuen Denken und globaler Verantwortung für den Oikos zu begegnen (von Albert Einstein über Günther Anders und Fritjof Capra bis zum Club von Rom, zu Ivan Illich oder Michail Gorbatschow), von den Kirchen gebündelt ausgesprochen in den Abschlussdokumenten der »Ökumenischen Versammlungen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung«.
1989/90 wurde zu einer zunächst glückhaft erfahrenen Zäsur: ein gewaltig-gewaltloser Aufbruch in die Demokratie im Ostblock, das friedliche Ende der Apartheid in Südafrika, die Beilegung von Bürgerkriegen in Angola, Kambodscha, Namibia.
Inzwischen sprechen wir fast nur noch von »Globalisierung«: Die ganze Welt ist nach dem Ende der Blockkonfrontation offen. Sie ist ein einziger großer Markt für Waren, Dienstleistungen und Kapital geworden. Die politisch, ökonomisch und kulturell zerrissene Menschheit steht vor völlig neuen Herausforderungen und existentiellen Gefährdungen.
Das religiös erschlaffte Europa trifft vehement auf historisch verwandte oder hierorts fremde Religionen mit deren ungebrochenen Gewissheiten, weil diese sich keinem Aufklärungsschub stellen mussten.
Die Suche nach europäischer und nach deutscher Identität kommt neu auf: Wer sind wir, woher kommen wir, was wollen wir? Bleiben im Westen Christentum, Antike und Aufklärung aneinander gekoppelt? Wo sind die blinden Flecken der Aufklärung? Und wie gehen wir Europäer mit der neuen Religiosität, wie gehen wir mit unserer so wunderbaren wie schreckenerregenden Christentumsgeschichte um?
Fortgesetzte konfessionelle »Kleinstaaterei« bei ohnehin abnehmender Akzeptanz des Christlichen überhaupt, verbunden mit geistiger Enge, lässt durchaus die Befürchtung zu, dass der Protestantismus sich aus der öffentlichen Wahrnehmung der Weltgesellschaft verabschiedet und gar als eine Fußnote der Geschichte bewertet werden wird.
Da die Traditionsvermittlung im Protestantismus gemeinhin mehr über Personen als über Institutionen samt deren ritueller Inszenierung verläuft, hat die evangelische Welt in einer von Massenmedien beherrschten Weltgesellschaft weit geringere Wirkungschancen als die katholische Weltkirche. Sich katholischem Gebaren anzugleichen, das wäre gewiss keine sinnvolle Reaktion, zumal protestantisches Kirchentum einen großen Schatz zu bewahren hat: Mitbestimmung mündig gemachter Einzelner, Unmittelbarkeit zu Gott, Konzentration auf die biblische Botschaft in ihrer Vielfalt, Freiheit der Entscheidung und Verantwortungsübernahme vor Ort. Die mit katholischen Christen – vor allem von der Basis her – gemeinsam erkannte Aufgabenstellung der Kirchen aus dem konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung ist nicht nur geblieben; sie hat sich verschärft. Und Ökumene verlangt heute nach gemeinsamem Zeugnis: angesichts weltweiter Verarmung mit neuen sozialen Konflikten, angesichts neuer Kriege und erneuter Aufrüstungsspiralen, angesichts der Flüchtlingsströme, der Umweltzerstörung, des Ressourcenverschleißes und der Klimakatastrophen sowie der globalen Verletzung elementarer Menschenrechte. Es bedarf dringend konzertierter Aktivitäten für ein einklagbares internationales Rechtsgefüge mit mehr wirtschaftlicher Gerechtigkeit für arme und armgemachte Länder. Das alles stellt unsere christliche Kirche vor besondere Herausforderungen. Dazu gehört eine partnerschaftliche ökumenische Selbstverständigung darüber, was heute zum gemeinsamen Auftrag der Kirche Jesu Christi in der einen Welt Gottes spirituell, sozial-ethisch und lebens-praktisch gehört, auch wenn es die Kirche weiterhin in verschiedenen Kirchen gibt. Das »Salz der Erde« und »Licht der Welt« zu sein, spricht Jesus den Seinen zu.
In diesem Zuspruch steckt ein einzulösender Anspruch: kritisches Element und motivierende Hoffnung in der Welt und für die Welt zu sein. Ökumene in der Einen Welt braucht einen Gleichklang, bei dem sich die geistigen und geistlichen Kräfte darauf richten, dass die friedensstiftende Funktion der christlichen Religion in einem respektvollen Umgang mit anderen Religionen und Kulturen zum Tragen kommen kann. Die politische Suche nach einem fairen globalen, rechtlich abgesicherten Interessenausgleich ist vor Ort und auf allen politischen Entscheidungsebenen zu unterstützen. Jedem erneuten Missbrauch der Religion zur Legitimation oder gar Anstachelung von Gewalt und Terror ist gemeinsam zu wehren.
Religionsfreiheit schließt gegenseitige Toleranz ein, die ihre Grenze an den Intoleranten findet. Provozierende Karikaturen gehören zur zu schützenden Meinungsfreiheit, das demonstrative Verbrennen heiliger Bücher anderer Religionen nicht.
Christliches Sendungsbewusstsein mit dem Anspruch von Überlegenheit oder gar einziger Wahrheit ist nicht nur unangemessen, sondern kontraproduktiv. Die Schnittmengen für das ethisch Gemeinsame der Völkergemeinschaft und für »gemeinsame Sicherheit« sind auszuloten. Dafür können christliche Kirchen als vorpolitische Kraft wichtige Vermittlungsdienste leisten, wie sie dies in der Ost-West-Konfrontation hatten tun können.
Nur aus geistlicher Substanz erwächst öffentliche Relevanz. Geistige Enge und dogmatische Abgrenzung mindern öffentliche Akzeptanz. Wenn die verschiedenen christlichen Kirchen unter sich eher das Trennende als das Gemeinsame suchen oder sich gar gegenseitig die volle Anerkennung verweigern, sich nicht einmal zur eucharistischen Gastfreundschaft bereit finden, werden sie nicht nur an Überzeugungskraft, sondern an innerer Legitimation einbüßen.
Ökumene wäre an ihr (erreichbares) Ziel gelangt, wenn sich unter allen Christen ein »WIR-Gefühl« entwickeln würde und wenn Christen trotz aller Unterschiede zueinander und anderen gegenüber sagen könnten: Wir Christen!
Danach erst käme zur Geltung, was wir als Katholiken, Orthodoxe oder Protestanten sind.
Das wäre gewiss kein Relativismus, sondern gegenseitige Anerkenntnis aus dem versöhnenden Geiste Jesu Christi.
Die Autorität, Substanz und Legitimation aller christlichen Kirchen bleibt – bei allen historisch gewachsenen Unterschieden – zentral an das Lebensgeschick und den Lebensweg, an Auftrag und Verheißung des Jesus Christus gebunden.
II.
Was als winzige Abspaltung vom Judentum, inspiriert von einem charismatischen Rabbi aus der Provinz Galiläa mit den zwölf von ihm berufenen Jüngern und einigen tapferen Frauen begann, wurde zu einer kontinuierlich anwachsenden, die Sprach- und Kulturgrenzen überschreitenden Volksbewegung von unten, die von den römischen Machthabern über zwei Jahrhunderte aufs Blutigste verfolgt wurde, bis es im Jahre 312 durch Kaiser Konstantin zur Erhebung des Christentums zur Staatsreligion kam – und dies weniger aus theologischen als vielmehr aus machtpolitischen Gründen. Das Christentum wurde zur Reichs-Religion, zum Bindeglied des römischen Imperiums in seiner Sterbephase.
Bald standen Westrom gegen Ostrom, der Patriarch von Konstantinopel gegen den Papst in Rom. Das Schisma reicht bis heute. Durchgängiges Konfliktthema der Christentumsgeschichte blieb das Verhältnis von Menschlichkeit und Göttlichkeit Jesu, von staatlicher und geistlicher Autorität, Kaisertum und Papsttum, von sozialer Gestalt und sozialer Utopie, von realem »Reich der Welt« und erhofftem »Reich Gottes«. Genau diese nicht aufgelöste Spannung macht das Geheimnis des Erfolges Europas ebenso aus, wie es die Religions- und Expansionskriege erklären hilft.
Aufgeklärtes politisches Handeln versöhnt die Macher mit den Träumern, die kühlen Pragmatiker mit den glühenden Visionären, die Freiheit des Einzelnen mit den Verpflichtungen für die Gemeinschaft, das Realisierbare mit dem Wünschbaren – stets die Mittel-Zweck-Relationen austarierend, nicht die Priorität des je Aktuell-Konkreten gegen das Überzeitliche ausspielend. Die lang erkämpfte rechtliche Trennung von geistlicher und weltlicher Macht, der wohlweisliche Abschied von der Staatsreligion kennzeichnet das »aufgeklärte Europa«. Das Gegenüber der beiden Mandate erwies sich als eine alles in allem produktive Partnerschaft – solange der Staat sich nicht selber absolut setzte oder gar vergötzte (im 20. Jahrhundert in der Gestalt von Faschismus oder Bolschewismus) und insofern die Kirchen sich nicht von den Errungenschaften der Aufklärung trennten und nicht wieder in dogmatisch-fundamentalistisch-totalitäre Fallen laufen. Leszek Kolakowski hat die schwer erkämpfte, aber doch durchgängige Fähigkeit zur Selbstkritik als das bestimmende europäische Kennzeichen, als das Erfolgsgeheimnis Europas ausgemacht. So gehören z. B. das Bebauen und das Bewahren, das Herrschen über die Welt und das Schützen der Welt ebenso zusammen wie die nötige Autorität eines rechtlich verankerten Gewaltmonopols des Staates mit der Freiheit und Gewissensbindung des Einzelnen miteinander korrespondieren. So haben beispielsweise die Widerständler des 20. Juli 1944 ihr – spätes – Wagnis des Tyrannenmordes auch ethisch genau bedacht. Die Kirchenasylgemeinden stellen sich aus Barmherzigkeit in konkreten Fällen gegen geltende Abschiebegesetze. Johannes Paul II. hat im Januar 2003 vor dem Diplomatischen Korps davon gesprochen, dass Krieg...