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Meister der Dämmerung

Peter Handke. Eine Biographie

AutorMalte Herwig
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl416 Seiten
ISBN9783641052058
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Peter Handke wurde 2019 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er ist einer der umstrittensten und produktivsten Autoren der Gegenwart. Sein Bild in der Öffentlichkeit ist von Extremen geprägt: Hohepriester der Kunst, einsamer Mönch, Serbenfreund. Wie viel Wahrheit steckt hinter diesen Bildern? Auch sein Leben erscheint als Gratwanderung zwischen Extremen: zwischen Einsamkeit und Liebe, Menschenscheu und Ruhmsucht, Sprache und Politik, Traum und Welt. Malte Herwig führte lange Gespräche mit dem Dichter, dessen Verwandten, Weggefährten und Kontrahenten, und er erhielt Einsicht in unveröffentlichte Texte Handkes. So entstand eine aufschlussreiche und kontroverse Biographie.
  • Um ein umfangreiches Kapitel und viele neue Fotos ergänzt und aktualisiert
  • Mit zahlreichen Abbildungen: unveröffentlichte Fotos, Faksimiles von Tagebuchseiten sowie Zeichnungen und Skizzen von Handke.
  • Die einzige umfassende Biographie des umstrittenen Dichters.


Malte Herwig, geboren 1972 in Kassel, studierte Literatur, Geschichte und Politik und promovierte an der Universität Oxford. Er arbeitete als Autor für das Magazin der »Süddeutschen Zeitung«, »Spiegel« und »Stern« und veröffentlichte mehrere Bestseller, darunter »Die Flakhelfer. Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden« (2013), »Die Frau, die Nein sagt« (2015) über die Malerin und Picasso-Muse Françoise Gilot und »Meister der Dämmerung« (2020), die Biografie des Literaturnobelpreisträgers Peter Handke. 2019 erfand Herwig den preisgekrönten Podcast »Faking Hitler« über die gefälschten Hitler-Tagebücher. Zuletzt erschien von ihm 2021 »Der große Kalanag« über den Zauberkünstler Helmut Schreiber.

@malteherwig

www.publicorum.com

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Leseprobe

KAPITEL 3 RUHM Die neuen Erfahrungen (S. 80-81)

Die sechziger Jahre werden sein Jahrzehnt. Er ahnt es früh. Es gibt diesen immer wieder zitierten Satz aus einem Brief an die Mutter von 1963: »Du brauchst Dir über mich keine Sorgen machen, ich bin schon ziemlich zäh, und außerdem werde ich sicher weltberühmt.«1 Als der Einundzwanzigjährige das schreibt, ist der Durchbruch noch nicht abzusehen, der ihn in seinem annus mirabilis 1966 auf einen Schlag weltberühmt machen wird. Nichts als Größenwahn eines selbstbewußten Jungschriftstellers? Oder der Galgenhumor eines schreibenden Bettelstudenten? Ob er das wirklich ernst gemeint hat, fragen ihn noch Jahrzehnte später die Interviewer. Und er entgegnet, es sei eher eine »Hoffnungslosigkeitsmelodie« gewesen, er habe sich verloren gefühlt.

»Ich habe nie gedacht, daß ich je eine Chance hätte, nie. Ich habe mich mit den Hornissen einfach retten wollen. Im Studium habe ich die schwarze Wolke des Nichts vor mir gesehen. Ich habe immer Kafka bewundert, der es geschafft hat, sein Studium zu vollenden und in den Beruf zu gehen. Ich konnte das nicht. Dabei war ich ein guter Jurastudent, ich habe sehr viel auf eigene Faust gelernt, aber ich habe keine Antwort bekommen von den Professoren. Man braucht ja irgendwie eine Erotik.

Dann habe ich die Hornissen geschrieben. Man muß sich vorstellen, was das damals bedeutete, aus dem Winkel, aus dem ich kam, ein Buch bei Suhrkamp zu machen.«3 Das ist keine Koketterie. Handke hat damals auch unglaubliches Glück, einfach indem er den richtigen Menschen begegnet. Seine Texte (die immer zunächst einmal seine Texte sind) passen auf wundersame Weise in die Zeit des Umbruchs und der Experimente Ende der sechziger Jahre. Und obwohl er seine Menschenscheu nie ganz verlieren wird, findet er im Schriftstellersein eine Rolle, die es ihm ermöglicht, eine Balance zu finden zwischen Einsamkeit und Geselligkeit, Fanatismus und Gelassenheit, Kunst und Leben. Was mag Weltruhm einem Menschen bedeuten, der in seinen ersten vierundzwanzig Jahren eine nahezu permanente Revolution der eigenen Wahrnehmungen und Lebenserfahrungen erlebte?

Der Sprung von Griffen nach Frankfurt und zum Suhrkamp Verlag ist damals, 1966, größer als der anschließende von Suhrkamp auf die Weltbühne, und es scheint kein Zufall, daß Handke ausgerechnet Kaspar Hauser zum Helden eines seiner frühen Theaterstücke macht: das berühmte Findelkind, das in der Zivilisation ausgesetzt und einer unablässigen »Sprechfolterung« unterzogen wird. Die neuen Erfahrungen, die Handke in der Zivilisation macht, könnte auch ein Kaspar Hauser in sein Tagebuch eingetragen haben.

Das fängt schon mit dem Wechsel auf das Bundesgymnasium in Klagenfurt an: »Dieses neue Leben war ein richtiger Schock für mich. Bei einem Wandertag kamen wir an eine Bahnunterführung. Da wollte ich ganz einfach über die Gleise rennen. Ich wußte nicht, daß man durch eine Unterführung gehen kann. Die anderen haben mich furchtbar ausgelacht.« Mit siebzehn lernt er, wie man in eine Straßenbahn steigt, mit neunzehn telefoniert er zum ersten Mal aus einer Telefonzelle.4 Als er das erste Mal in einem Kauf haus eine Rolltreppe betritt, hat er Angst. Für den empfindsamen Dorfbub aus Griffen sind diese banalen Alltagssituationen im wahrsten Sinne des Wortes »Sensationen«, starke Gefühlseindrücke.

In dem Gedicht Die neuen Erfahrungen beschreibt Handke sie 1967 mit einer Intensität, die selbst dem vom Alltag Abgestumpftesten wieder die Augen öffnen kann: das erste Schamgefühl, die erste Todesangst. Und neben der eindringlichen Wiedergabe solcher Grundgefühle findet man auch die präzisen, durchdringenden Beobachtungen von Bewegungen und Gegenständen, die für sein ganzes späteres Werk so charakteristisch sein werden: Von der tropfenden Vase beim Leichenschmaus bis hin zur überschwappenden Kaffeetasse im Transeuropa-Express beginnen ihm die Dinge und Wörter zu tanzen ? it’s all Rock’n’ Roll.

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