Im Gefängnis
Waren Sie schon einmal in einem Gefängnis? In der Vergangenheit wurde ich immer wieder einmal eingeladen, bei Gefängnisgottesdiensten mitzuwirken. Die Begegnungen mit Gefangenen sind oft beklemmend, denn ein Gefängnis gehört mit Sicherheit zu den Orten, an denen man am wenigsten sein möchte. Um als Außenstehender ein Gefängnis betreten zu können, bedarf es einer längeren Vorbereitung: Man muss angemeldet sein und seinen Personalausweis an der Pforte abgeben. Dann schließt sich hinter einem das Eingangstor und das nächste wird geöffnet und gleich hinter einem wieder verschlossen. Überall sind Kameras und Wachleute, aus den Gängen schallt der Lärm von Männerstimmen und der Essensausgabe. In den meisten Gefängnissen gelangt man über einen Innenhof hinüber in den Trakt, in dem die Kirche des Gefängnisses untergebracht ist. Auf meinem Weg dorthin mustern mich die Insassen, die zum Teil schon vor der Kirche oder im Gottesdienstraum stehen, neugierig. Der Sakralraum wirkt meistens wie eine kleine Oase in der Tristesse des Gefängnisalltags, und das ist auch gut so. Obwohl sich die Gefangenen vorher anmelden müssen, wenn sie an den Gottesdiensten teilnehmen möchten, sind diese meist recht gut besucht. Das hat in der Regel weniger damit zu tun, dass diese Menschen besonders fromm oder hungrig nach »geistlicher Nahrung« sind, sondern vor allem auch damit, dass sie sich hier relativ frei bewegen und begegnen können. Man trifft die anderen außerhalb des vorgesehenen Rahmens, kann Tauschgeschäfte anbahnen und hat, wenn Gäste da sind, zumindest einen minimalen Außenkontakt. Viele der Insassen singen gerne, zum Beispiel Gospels oder Shantys, und in manchen Gefängnissen gibt es eine Art Kirchenchor. Vielleicht ist es auch die Musik und der Klang der eigenen Stimme, verbunden mit einem trostvollen Lied, die einen über die momentane, eigene Befindlichkeit hinausträgt, die das Singen in den Gefängnisgottesdiensten so beliebt macht.
Von einem Gesang »hinter Gittern« berichtet uns auch die Apostelgeschichte in Kapitel 16. Dort wird berichtet, dass man den Apostel Paulus und seinen Begleiter Silas in den Sicherheitstrakt eines Gefängnisses geworfen hatte. Da saßen sie nun, in Ketten gelegt, im Dunkeln, hungrig und durstig. Kein angenehmer Ort und eigentlich eine Situation, in der man laut aufschreien und sich beim Leben oder beim lieben Gott bitter beschweren möchte. Doch etwas anderes geschieht: Um die Mitternachtszeit begannen die beiden zu beten und Gott zu loben. Das taten sie laut und sicher auch mit Gesang, denn die anderen Gefangenen hörten sie.
Wenn wir Lieder singen, strecken wir uns nach der Freiheit aus, und wenn wir Gott loben, dann strecken wir uns nach einer Freiheit aus, die über unsere Tränen und unseren Schmerz hinausgeht. Wir spüren dann vielleicht, dass wir nicht allein sind. Im Hebräischen, der Ursprache der Bibel, bedeutet das Wort »näfäsch« sowohl »Kehle« als auch »Seele«. Wenn wir also mit unserer Kehle ein Lied anstimmen, dann schwingt unsere Seele mit. Das gilt ganz besonders dann, wenn wir ein Dank- oder Loblied singen, denn wir wenden uns dann ganz bewusst an den Ursprung unserer Seele, an den Schöpfer. Somit war das Singen von Paulus und Silas viel mehr als das berühmte »Pfeifen im Wald«, wenn man Angst hat. Es war Ausdruck ihrer Freiheit – mitten im Gefängnis.
Man muss sich den Glauben und das Vertrauen der beiden einmal vor Augen führen: Welchen Grund hatten sie, Gott zu loben? Ich glaube, ich wäre ziemlich sauer gewesen und hätte mich bei Gott heftig beklagt. Aber das Vertrauen darauf, »dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten sind« (Römer 8,28), war so stark, dass sie sich bei Gott bedankt haben für die Situation, in der sie waren. Während sie also kein Klagelied, das sie bestimmt auch auf den Lippen gehabt hätten, angestimmt haben, sondern es bewusst durch ein frohes und dankbares Lied ersetzt haben, wurden sie selbst von dieser Freude und Hoffnung erfasst.
Paulus und Silas haben sich ganz bewusst für das sprichwörtlich halb volle Glas entschieden und nicht für das halb leere. Darin besteht das Phänomen des Glaubens, dass die äußeren Umstände die innere Freiheit im Grunde nicht antasten können. »Ist Gott für uns, wer will dann gegen uns sein?« (Römer 8,31). Aus dieser inneren Freiheit sind die Gospels und Spirituals der versklavten Schwarzen entstanden, man hat sich und die anderen an die eigentliche Heimat erinnert und daran, dass es eine Freiheit gibt, die nicht in Ketten gelegt werden kann.
Paulus und Silas machen also das Beste aus ihrer Situation, indem sie sich positiv stimmen und sich darüber klar werden, dass ihre Situation das Ergebnis dessen ist, was sie von Herzen bejahen und wollen: Sie haben sich dafür in aller Freiheit entschieden, Jesus Christus nachzufolgen und seine befreiende Botschaft zu verkünden. Deshalb wurden sie eingesperrt. Die Gefangenschaft ist also das Ergebnis ihrer Freiheit. Mit ihrem Gesang bringen die beiden jedoch zum Ausdruck: »Da, wo ich bin, da will ich sein!« Wenn sich also Paulus und Silas in einem düsteren Gefängnisloch zu solch einer scheinbar paradoxen Haltung durchringen können, um wie viel mehr müssten wir auch zu einer solchen Haltung finden können, wie auch immer unsere Lebensumstände im Augenblick sein mögen: »Da, wo ich bin, da will ich sein!«
Im Sommer 2011 veröffentlichte die Deutsche Bahn das Ergebnis einer Untersuchung unter ihren Mitarbeitern. Daraus ging hervor, dass 70 Prozent aller Arbeitnehmer dieses Unternehmens lustlos und unmotiviert ihrer Arbeit nachgehen. Anscheinend wollen also 70 Prozent der Arbeitnehmer nicht da sein, wo sie sind.
Vielleicht denken auch Sie: Die haben recht! So, wie es in meiner Familie aussieht, und bei dem Klima an meinem Arbeitsplatz, will ich wirklich nicht mehr so weitermachen wie bisher. Sie sind dann in bester Gesellschaft mit vielen Menschen, die da, wo sie sind, nicht sein wollen – zumindest auf den ersten Blick. Mit dieser Einstellung bringen sie sich selbst und andere in eine schlechte Stimmung. Offensichtlich wäre die einfachste Lösung, gar nicht mehr zur Arbeit zu erscheinen und sich einen anderen Arbeitsplatz zu suchen. Aber auf diese Alternative angesprochen, kommen zumeist die Gegenargumente: »Wenn ich meinen jetzigen Job kündige, dann muss ich mir ja einen neuen suchen. Von Harz IV will und kann ich ja nicht leben, schließlich muss ja auch noch unser Haus abbezahlt werden. Das gäbe dann ein finanzielles Fiasko. Wer sagt mir außerdem, dass der neue Job besser ist, denn sooo schlecht ist mein jetziger Arbeitsplatz nun auch wieder nicht, und die Kollegen sind ja eigentlich ganz nett. Außerdem würde mir meine Frau die Hölle heiß machen, wenn ich einfach so von der Arbeit wegbliebe« und so weiter.
Auf einmal merken wir, wie »teuer« es uns zu stehen käme, wenn wir tatsächlich etwas an unserer jetzigen Situation ändern wollten. Deshalb wäre es folgerichtig und klug zu sagen: »Da, wo ich bin, da will ich sein! Alles andere wäre mir zu teuer und aufwendig und würde nicht dem entsprechen, was ich eigentlich will.« Wenn ich also nach ausführlichem Nachdenken feststelle, dass ich an meiner momentanen Situation nichts ändern möchte, wäre es doch klug, meine Lebenssituation positiv einzuschätzen und zu bejahen. Fahren Sie also nach Hause und sagen Sie es, schreiben Sie es sich an den Spiegel, an den Kühlschrank, an die Kaffeemaschine, ans Lenkrad und an Ihren Monitor: »Da, wo ich bin, da will ich sein!« Sie werden erstaunt sein, wie sich nicht nur Sie selbst, sondern auch Ihr ganzes Umfeld dadurch verändert.
Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, sodass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen und von allen fielen die Fesseln ab. (Apostelgeschichte 16,24)
»Da, wo ich bin, da will ich sein!« – Was geschieht, wenn wir die Situation, in der wir uns momentan befinden und aus der wir im Moment – aus welchen Gründen auch immer – nicht entfliehen können, bejahen und nicht beklagen, willkommen heißen und nicht verfluchen? Nach meiner Erfahrung geschehen drei Dinge, eventuell sogar gleichzeitig: