Der Vater meines Vaters
Wer war er, der Vater meines Vaters, mein Großvater Johannes Guyot? Im schwarzgerahmten Nachruf auf ihn, 5. Jahrgang 1910, Neue Evangelische Blätter, Organ der »Freien Landeskirchlichen Vereinigung für das Großherzogtum Hessen«, lese ich: »Am 2. Juni, abends 7 1 / 2 Uhr, ist der Begründer und erste Leiter der Freien Landeskirchlichen Vereinigung, D. Johannes Guyot, Pfarrer in Heppenheim a. d. B., nach kurzem Krankenlager im noch nicht vollendeten 49. Lebensjahr uns jählings entrissen worden. Noch zwei Tage vorher hatte er mit Frau und Freunden in gehobener Stimmung einen mehrstündigen Ausflug unternommen und dabei die Absicht ausgesprochen, am nächsten Tag einer Vorstandssitzung des Hessischen Diakonievereins beizuwohnen. Abends nach der Heimkehr hatte er noch Besuch empfangen, dann setzte gegen 10 Uhr ein Schüttelfrost ein, am nächsten Tag trat eine Gallenentzündung, am darauffolgenden ein heftiges Cerebralfieber hinzu, und der schwerkranke Körper unterlag unaufhaltsamer Auflösung. Er hatte es längst gewusst, dass seine Lebensbahn nur noch kurz bemessen sei und eines Tages plötzlich abbrechen werde …« Weiter ist dort von »klaglosem Leiden«, heiterer »Fassung« und »Gottergebenheit« die Rede, auch vom 25-jährigen Amtsjubiläum des Vorjahrs und der ihm dargebrachten »innigen Verehrung«.
Schon aus diesen paar Zeilen habe ich etwas über ihn dazugelernt, noch ein Amt, eine Gründung: Von der Freien Landeskirchlichen Vereinigung habe ich bisher nichts gewusst. Nur sehr fragmentarisch konnte ich Fragen nach ihm beantworten: Pfarrer in Heppenheim, davor in Darmstadt, Johannes-Gemeinde, Gründer des Hessischen Diakonievereins, er wurde nur so alt wie Anton P. Tschechow. Höchste Zeit für die Aufgabe, über ihn zu sprechen, zu einer retrospektiven Zeitreise aufzubrechen. Schon der kleine liebevolle altertümliche Nachruf hat meine Neugier zu Recherchen inspiriert.
Aber auch jetzt mit gründlichem Bescheidwissen habe ich ihn als den Menschen, der er inmitten seiner unermüdlichen vielseitigen Aktivitäten privat war, nicht kennengelernt. Bis auf etwas äußerst Sympathisches: Bei der nachgeholten Suche nach ihm bin ich auf seine leidenschaftlichen Plädoyers für die Toleranz gestoßen. Zwar geht es in den Aufzeichnungen von damals um ihn als den Mann in seinem Beruf, doch gleichzeitig erfahre ich damit viel über sein Naturell. Toleranz und deren Vermittlung, Inspiration, Ideenreichtum, Engagement und Wille, sie ließen ihn, instabiler Gesundheit zum Trotz, in seinem kurzen Leben so erstaunlich vieles, und das mit in die Zukunft reichender Nachwirkung, vollbringen.
Wer aber war er als der Vater seiner fünf Kinder? Hatte er Humor und viele Interessen neben der Theologie wie mein Vater, und war er nicht streng und ein Freund der Kinder wie er, den Kinderunglück, klein und vorübergehend, noch unglücklicher machte als das Kind (für das nur er den idealen Trost wusste)? Wie war er als Mann seiner Frau? Sie, meine Großmutter, kenne ich besser, von ihr kann ich mir ein Bild machen. Es ist überliefert von meiner Mutter, der zwar unser mit uns selbst beschäftigter Kinder-Egoismus keine Chance gab (so wenig wie meinem Vater), in zusammenhängenden Geschichten von ihr zu erzählen, aber das Wenige und überhaupt nicht Geringfügige über sie wirkte intensiv, und meine Phantasie ergänzte es zur Gesamterscheinung einer ungewöhnlichen Frau mit charismatischer Ausstrahlung. Es spricht für die Gutartigkeit meiner Mutter, immerhin eine Schwiegertochter, die eine Schwiegermutter neidlos rühmte, also gar nichts Selbstverständliches tat, wenn sie oft voll dankbarer Bewunderung anlasslos mitten im gewöhnlichen Alltag schwärmte: Was für eine gütige, liebevolle, wunderbare Frau eure Großmutter doch war! Sie hatte sie erst als Witwe kennengelernt, ihren Mann konnte sie uns deshalb nicht charakterisieren. Mein Vater wird zu diskret gewesen sein und auch mit seinem Sinn für Kinder verstanden haben, dass die, vertieft in ihre Gegenwartsangelegenheiten des eigenen kleinen wichtigen Lebens, nicht rufen würden: Erzählt doch! Erzählt von euren Eltern! Wie waren die Vorfahren? Vater, sprich von deinem Vater!
Nach all dem, was ich jetzt von ihm weiß, hätte mein Vater das sicher getan. Mein ältester Bruder, traditionsbewusster als ich, allerdings auch erst später in seiner Biografie, hat sich auf die Spuren des Großvaters gesetzt, unter anderem dessen Reise nach Pragela in den provençalischen Waldenser-Tälern wiederholt, von wo aus in der Hugenotten-Zeit auch unsere protestierenden Ahnen in sichere Regionen emigrierten, unsere Guyots nach Hessen, und er hat in einer dicken Dokumentenmappe alles gesammelt, was er an Gedrucktem über Jean Guyot, wie er damals genannt wurde, auftreiben konnte. Wegen meiner vielen Kenntnislücken fühle ich mich mit diesem Faktenmaterial an meinem Schreibplatz sicher.
Mein Versäumen der Erzählt-doch-Bitten an die Eltern, immerhin Hauptpersonen vom ersten Lebensmoment an, es macht mir kein schlechtes Gewissen: Ich halte mich an die vom Großvater vererbte Toleranz. Und seit wir uns in der überhaupt nicht das Denken erleichternden Ära der genomdechiffrierten Bioethik und -politik befinden, könnten wir ja zu Dreivierteln das an uns, womit wir nicht ganz einverstanden sind, das Defizitäre, plötzlich wie einen Gewissensschutz genetisch nennen. Aber nein, ausgerechnet von diesem Großvater kann ich mein unzulängliches Interesse an den biografischen Wurzeln nicht geerbt haben. Er hat, im Gegensatz zu mir, die existenziellen Fragen »Woher komme ich, wohin gehe ich« nicht nur transzendierend, sondern ganz konkret irdisch gestellt und auch beantwortet. Als er schon aus seiner Traditionsbeeinflussung in seine theologische Zukunft blickte, hat mich, auf meine Kinderart auch zukünftig, auch theologisch, die einschüchternde Vergänglichkeit beschäftigt, denn habe ich nicht, ohne mir dessen bewusst zu sein, doch unterschwellig nach ihm und nach Gott gefragt, wenn die Zirkusvorstellung, die Theateraufführung gerade erst begonnen hatten (und damit der Glückszustand): Wie lang dauert es denn noch? Ist es auch nicht schon bald vorbei? Ich weiß nicht, wie er als Kind war, mein Vater konnte es, selbst noch ein Kind bei seinem Tod, nicht wissen. Ich weiß aber, dass Jean, das Kind, in seiner Dorfgemeinde mit ihren drei verschiedenen Konfessionen Zerstrittenheit erlebte, wodurch er den Wert der Toleranz erkannte.
Während ich als Kind mich in der Außenwelt Nazizeit im Pfarrhaus wie in einem Widerstandsnest sicher genug für Kritik und Rebellion unter anderem gegen die Intoleranz fühlte. Der Lehrstoff unterschied sich, das Lernziel, in Wahrheit unsere Veranlagung, war das gleiche. Der bis jetzt ferne Großvater und die charismatische Großmutter rücken mir näher. Vor allem durch das in jeder Lebensminute nützliche, in seiner Vereinfachung unübertreffliche Glaubensbekenntnis des Sören Kierkegaard, das den komplizierten Stoff zusammenfasst: »Ich glaube, weil mein Vater es mir gesagt hat.« Wenn ich wiederum Toleranz als Erbe unterstelle, dann ging es Jean bei seinem Vater wie mir mit meinem, der »es« mir nicht in kinderermüdenden Belehrungen, sondern durch sein Wesen, durch die liebevolle sanftmütige Art und Weise, in der er mit uns umging, »gesagt hat«, gleichberechtigt zusammen mit seiner Frau, meiner Mutter, die trotzdem, wenn auch nicht in Demutshaltung, zu ihm aufblickte: Sie tat es aus Liebe. Und deren Klima war es, die mit lebenslänglicher Nachwirkung zwischen Gott und uns vermittelt hat. In der Kindheit war uns diese höchste Instanz, als der liebe Gott fast familiär, unüberdacht vollkommen selbstverständlich. Und genau so selbstverständlich, obwohl das Fundament, in dem mein Großvater gewiss ein Baustein ist, nicht wankte, wurde mit dem Erwachsensein das Aufrechterhalten des Himmelspakts schwieriger: Der Zweifel mischt sich ein, ihm muss, täglicher Bemühungsprozess, widersprochen werden.
Von jeher schien mein Vater mir so einmalig und von niemandem zu übertreffen, dass ich mir meinen Großvater nicht wie ihn vorstellen kann. Ich weiß nicht, ob auch er ein Familienmensch war: Für meine Mutter, für uns Kinder wäre mein Vater durchs Feuer gegangen. Ob er Humor hatte? Gern mit seinen Kindern spazieren ging, wie mein Vater mit uns Kindern (die wir, so lang er lebte, für ihn blieben), Goethe zitierend und unsere verballhornenden Unterbrechungen mit amüsiertem Seufzen sogar genoss? Ob auch sein Vater gemeinsame Ferien organisierte? Gewiss kamen damals noch nicht aufwendige Sommerwochen am Meer vor. Wie viel Zeit wir doch gehabt hätten, die Eltern nach ihrer Vergangenheit auszufragen! Es ist seltsam und fast ungerecht: Je wohliger geborgen, vertrauensvoll zufrieden ein Kind unter der Regie seiner Eltern ganz und gar ein Kind sein kann, in Ruhe gelassen von Gedanken über deren Probleme, desto weniger beschäftigt es sich mit ihnen. Je glücklicher das Kind durch glücksvermittelnde Eltern, desto uninteressierter ist es daran, sie zu erforschen: Es geht ihnen ja gut, sie haben keinen Streit, man muss sich nicht um sie kümmern. Sie sind die pure, erst später beim Nachdenken über sie wunderbare, unwiederholbare Selbstverständlichkeit, wie Komplizen, irdische Vollstrecker dieses selbstverständlichen lieben Gottes, von dem sie »gesagt« haben. Ich stelle mir vor, so bedingungslos wurde auch mein Vater als Kind geliebt, nie gekränkt, nie in die Enge getrieben, gestraft, und insofern verwöhnt und nicht auf die Brutalität des Lebens vorbereitet. Oder gerade doch? Es ist...