II. VERSCHWORENE GESELLSCHAFT
Ich bin nicht verrückt –
meine Wirklichkeit ist nur eine andere als deine.
Lewis Caroll, Alice im Wunderland
Verworren
Mit 27 Jahren bekam meine Mutter innerhalb von drei Monaten zwei Kinder. Meine Schwester und mich.
Unsere leibliche Mutter hatte ein Jahr davor beschlossen, dass ein Familienleben doch nicht ihren Vorstellungen entsprach und meinen Vater mit uns beiden Kindern, damals sieben und drei Jahre alt, sitzen gelassen. Sie hatte einen Sohn geboren, damit war ihre Pflicht getan. Ursprünglich wollte sie, damals junge Journalistin, durch ihre Heirat wohl ihrer strengen, reichen Familie entkommen und eine Künstlerehe führen. Mein Vater Hans war zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens nur ein junger Juwelier gewesen, mit kreativer Begabung und dem Talent, Menschen für sich einzunehmen. Doch verhalf ihm dies schon bald zu Erfolg und er erwartete, dass sie den Platz an seiner Seite in einer Gesellschaft einnahm, die kaufkräftige Kunden verhieß. Sie gab ihren Beruf auf, erlernte das Goldschmiedehandwerk und brachte es innerhalb weniger Jahre zum Meister darin. Mein Vater machte sie zum Kompagnon in der Werkstatt und benannte das Atelier in der Wiener Innenstadt in Doris und Hans Muliar um.
Wieder in das Korsett gesellschaftlicher Repräsentationspflichten eingeengt zu werden, erschien ihr auf Dauer jedoch unerträglich. „Hätte ich im Wald spazieren gehen wollen, wäre ich ein Reh geworden“, meinte sie damals. Waren Arbeit und Familie für meinen Vater eine Einheit, so empfand sie diese Vermischung als ausgesprochen belastend und fühlte sich von ihm im Stich gelassen. Freiheit und Selbstverwirklichung erschienen ihr ab einem gewissen Punkt, um genau zu sein nach drei Jahren Ehe, erstrebenswerter – ein Leben ohne Familie und Kinder verlockender.
Ich war damals zu klein, um diesen Umstand zu begreifen oder auch zu bedauern, und bin bis zum heutigen Tag sehr glücklich über diese Entwicklung, denn sie bescherte mir meine „wahre“ Mutter Andrea. Sie war die beste Mutter, die ich mir nur wünschen konnte – und zweifellos eine bessere als es mir meine biologische Mutter jemals war. Andrea ist und bleibt auch die einzige, die ich als „Mutter“ bezeichne – obwohl ich sie bis heute beim Vornamen nenne.
Dass Kinder nicht von ihren eigenen Eltern aufgezogen werden, hatte in unserer Familie allerdings so etwas wie Tradition. Es zieht sich einem roten Faden gleich durch unsere Geschichte und verbindet uns so auf eine gewisse Art und Weise.
Meine Großmutter wohnt in einem Schloss
Von meinem Verständnis her waren nicht nur die Eltern, sondern auch die Großeltern getrennt, denn meine Großmutter hatte ihren Peppino und mein Großvater seine Franzi.
Meine Großmutter Gretl wohnte im Schloss Laxenburg, dem ehemaligen Wohnsitz des unglücklichen Habsburger Kronprinzen Rudolf und seiner Gemahlin Stephanie von Belgien, wenige Kilometer außerhalb der Stadtgrenze von Wien. Ich kann mich noch gut an unsere Ausflüge zur Großmama erinnern. Wenn uns der Parkwächter freundlich durch das große schmiedeeiserne Tor winkte, hatte ich als kleines Kind immer den Eindruck, meine Großmutter wäre mindestens Schlossherrin. Ihrem Gehabe nach hätte sie das auf jeden Fall sein müssen. Tatsächlich jedoch gehörten die Räume der Gemeinde Laxenburg: eine dunkle Mietwohnung im Erdgeschoß, gleich neben den ehemaligen Stallungen gelegen, mit zwei Meter dicken Wänden, in denen früher die Bediensteten des Schlosses untergebracht gewesen waren.
Mein Großvater hatte Gretl nach seiner Entlassung aus der englischen Kriegsgefangenschaft in Graz kennengelernt und recht flott geheiratet. Sie war damals eine sehr schöne junge Frau aus gutem Hause mit schauspielerischen Ambitionen; ein altes Postkartenfoto aus der Zeit ihres Kennenlernens zeigt Fritz und Gretl gemeinsam auf der Bühne. Auf die Rückseite hatte sie für ihn geschrieben: „Damit du dich an mich erinnerst wenn ich einmal berühmt bin.“ Mein Großvater feixte schadenfroh, als er mir die Karte zeigte, denn eine Berühmtheit wurde sie zu ihrem unendlichen Bedauern nie. Aus ihrer ersten Ehe brachte Gretl ihren vierjährigen Sohn Heinz mit, der uns und meinem Großvater viele Jahre lang als „echtes“ Familienmitglied eng verbunden blieb. Ein Jahr später kam mein Vater, „Hansi“ genannt, zur Welt – weitere vier Jahre später betrachteten meine Großeltern ihre Beziehung als gescheitert und ließen sich wieder scheiden. Hansi landete bei der Mutter seines Vaters, Halbbruder Heinz lebte ebenfalls schon bei seiner Großmutter.
Als verhinderte Schauspielerin, laut meinem Großvater in Ermangelung von Talent, fand sie Mittel und Wege, sich im Wien der Nachkriegszeit gebührend in Szene zu setzen und damit immer gut durchzukommen. Sie hatte nach dem Krieg eine Fabrik und gleichzeitig ein großes Vermögen geerbt – das sie innerhalb relativ kurzer Zeit durchbrachte. Jede ihrer Unternehmungen hatte einen gewissen Glamour. So lieferte sie damals, als Alkohol Mangelware und nur mit guten Beziehungen zu haben war, in ihrem elfenbeinfarbenen Cabrio Whiskey an noble Wiener Innenstadtlokale wie die berühmt-berüchtigte Eden Bar und ähnliche Etablissements aus. Später lernte sie ihren Peppino kennen, der im Schweizer Tessin lebte, über viel Geld verfügte und meiner Großmutter viele Jahre lang ein Leben nach ihrem Geschmack bot. Er hatte nur einen – kleinen – Makel: Er war verheiratet und sehr katholisch, Scheidung kam für ihn nicht in Frage. Nachdem also eine Taube nicht in Reichweite war, nahm meine pragmatische Großmutter Gretl den Spatz in der Hand und lebte in einer risikobehafteten, außerehelichen Beziehung mit ihm. Ausländische Ehebrecherinnen wie sie konnten damals wegen dieses Vergehens noch aus der Schweiz ausgewiesen werden. Passiert ist allerdings nie etwas und Gretl genoss die Annehmlichkeiten, die Peppino ihr bieten konnte, in vollen Zügen. Die Wohnung war prachtvoll und hoch über dem Lago Maggiore gelegen – erreichbar war sie nur über einen Aufzug, der im Inneren des Berges nach unten führte. Man fuhr mit dem Auto hinauf auf den Berg, wo sich eine kleine Hütte befand. Diese betrat man, um in einen Lift einzusteigen, der ins Innere des Berges hinab führte. Neben der riesigen Terrasse, die zur Wohnung gehörte und einen grandiosen Panoramablick über den See und die Berge bot, gab es auch einen Indoor-Pool, der das Schwimmen im Berg ermöglichte. Ich kam mir vor wie in einem James Bond-Film, wenn wir Gretl und Peppino im Sommer besuchten, um Urlaub zu machen. Mein Vater urlaubte mit uns Kindern gemeinsam im Sommer dort, was sich für mich dann wie viele Wochen anfühlte. Vermutlich waren es aber nur einige wenige Tage, die wir in Gesellschaft meiner Großmutter verbrachten. Ich wollte nie gern Zeit mit ihr verbringen. Meine Großmutter war eine echte Salondame, die in Gesellschaft aufblühte und die Aufmerksamkeit aller Anwesenden erwartete und genoss. Anderen, und auch uns Kindern gegenüber, zeigte sie sehr wenig Gefühl und hörte prinzipiell nie zu. Sie war kein netter Mensch und hatte Ressentiments gegen meine Mutter. Da sie aber konfliktscheu war und von jedem geliebt und angehimmelt werden wollte – sogar von Leuten, die sie selbst nicht ausstehen konnte –, versuchte sie uns Kinder zu instrumentalisieren, um Andrea wieder loszuwerden. Dazu war ihr jedes Mittel recht, und als ich eines Tages von einem Besuch bei ihr nach Hause kam, fragte ich meine Mutter: „Die Omama sagt, dass alle Stiefmütter böse sind. Stimmt das?“ Von da an musste ich nicht mehr alleine Zeit bei ihr verbringen.
Wenn wir bei ihr waren, kamen immer Freunde vorbei, sodass wir alles in allem sehr bewegte Tage inmitten der Schweizer Berge verbrachten, jedoch hauptsächlich auf der Terrasse, umgeben von Erwachsenen in Partylaune. In ihr obligates, immer gut gefülltes Sektglas tat meine Großmutter dann immer schon vorsorglich eine Kopfschmerztablette – vermutlich, damit sie ausgiebig trinken konnte, ohne einen Kater zu bekommen. Bei einer ihrer Geburtstagspartys sang ihr schwarzer Beo, dessen Voliere sich ebenfalls mit uns allen auf der Terrasse befand, zum Amüsement aller Anwesenden laut „La Cucaracha“ und alle sangen mit, am lautesten meine Großmutter. Erst Jahre später kam mir einmal die Übersetzung unter und brachte mich noch einmal zum Lachen, weil ich dabei an das Geburtstagsständchen ihres Vogels dachte:
Die Küchenschabe, die Küchenschabe
kann nicht mehr aufrecht gehen,
denn sie hat kein, denn ihr fehlt –
Marihuana zum Rauchen.
Meine Taufe fand ebenfalls in Form einer Terrassenparty im Tessin statt, Peppino übernahm scheinbar freudig meine Patenschaft. Kurz vor meinem Schuleintritt beschlossen meine Eltern, mich taufen zu lassen, um mich nicht den damals noch verbreiteten Hänseleien, oder gar – wie es meinem Vater in der Volksschule ergangen war – Repressalien auszusetzen. Er war wegen der „Mischehe“ seiner Eltern (Gretl war evangelisch, mein Großvater Fritz katholisch) in die letzte Reihe gesetzt worden. Mir sollte nichts Derartiges wegen eines fehlenden Glaubensbekenntnisses widerfahren können. Eigens für diesen festlichen Anlass wurde mir ein kleiner dunkelblauer Anzug angefertigt, ein Dreiteiler. Bei der Ankündigung des „Gilets“ brach ich in Verzweiflung aus und weinte mir zur Belustigung aller die Augen aus dem Kopf: „Ich will keinen Anzug aus Gelee!“
Leider konnte sich der gute, wohlhabende Peppino mit den schicken Sportwagen nicht dazu durchringen, sie zu heiraten – er war ja schon verheiratet – und verließ sie nach mehr als zehn Jahren für eine Jüngere. Ich glaube, es...