Wege zum Bauhaus-Manifest
Im Mai 1919 ließ der Architekt Walter Gropius, der soeben zum Leiter des von ihm neu gegründeten Bauhauses berufen worden war, etwa 2000 Exemplare eines Manifests verschicken und in Zeitschriften beilegen, das Konzeption und Leitideen der Schule bekannt machen und Studierende an die Einrichtung nach Weimar bringen sollte. Das vierseitige Faltblatt, dessen Auftakt ein ganzseitiger Holzschnitt mit einer kristallinen, dreitürmigen Kathedrale des Malers Lyonel Feininger bildet, ist ein ambivalentes Dokument (Abb. 1). Es handelt sich um einen pathetisch formulierten Aufruf für die Gestaltung einer zukünftigen Welt, aber das beschworene Einheitskunstwerk, die «Zukunftskathedrale», soll rückwärts gewandt aus dem Geist einer mittelalterlichen Arbeitsgemeinschaft geschaffen werden: «Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück! […] Bilden wir also eine neue Zunft der Handwerker ohne die klassentrennende Anmaßung, die eine hochmütige Mauer zwischen Handwerkern und Künstlern errichten wollte! Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei, der aus Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens.»
1 – Lyonel Feininger, Titelholzschnitt für das Manifest und Programm des Bauhauses, 1919
Das Gründungsmanifest der Schule, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts geradezu synonym für visuelle Modernität steht und bis heute von größtem Einfluss auf Design und Erziehung ist, blickt zurück auf eine romantisch idealisierte mittelalterliche Vergangenheit und beschwört eine Glaubensgemeinschaft, die sich auf handwerklicher Basis ein architektonisches Sinnbild ihrer Einheit errichten soll. Diese Zwiespältigkeit ist darin begründet, dass das Manifest auf einer seit Langem andauernden Auseinandersetzung mit den Folgen der Industrialisierung basiert, dass es aber in der aufgeladenen Atmosphäre der Revolutionsmonate nach dem Ersten Weltkriegs entstand, in deren radikaler Aufbruchsstimmung sich die seit Jahrzehnten entwickelten Reformideen mit phantastischen, expressiv überhöhten Idealen von Befreiung und Rückkehr zum Handwerk, von neuer Gemeinschaft und Schaffung eines Einheitskunstwerks mischten. Diese Zwiespältigkeit führte dazu, dass die Konzeption wie auch zahlreiche Leitideen in den folgenden 14 Lebensjahren der Schule nach und nach verändert, beziehungsweise den sich ändernden Bedingungen sowie einem zweimaligen Wechsel der Direktion immer wieder neu angepasst und umformuliert werden mussten, so dass am Ende nur noch wenig vom ursprünglichen Konzept erkennbar war.
Die spezifische historische Situation bei der Entstehung des Manifests und der Gründung der Schule erklärt auch, dass sich in der Anfangsphase des Bauhauses erst vieles entwirren und konsolidieren musste. In der Auseinandersetzung zwischen expressionistisch revolutionärer Befreiungssehnsucht und mittelalterlichem Handwerksideal, zwischen individualistischer Entfaltung künstlerischer Potenziale und dem Wunsch nach einer Einheit von Kunst und Leben und der Erziehung eines neuen Menschen sowie unter dem Einfluss der Ideen des russischen Konstruktivismus und der holländischen De Stijl-Bewegung entstand erst nach einer etwa dreijährigen Gärungsphase und mit entsprechenden Änderungen der Satzung und des Unterrichts eine Schule, deren Arbeiten sich einem einheitlichen künstlerischen Ausdruck in dem von Gropius immer wieder gesuchten und geforderten Sinne annäherten. Die Reformimpulse, die zur Gründung des Bauhauses geführt hatten, konnten sich von nun an entfalten. Bis dahin waren divergierende Experimente am Bauhaus entstanden, aber nicht «Bauhaus-Arbeiten».
Das Bauhaus kann am besten als Reformschule definiert und verstanden werden, als Ort, an dem die seit Beginn der Industrialisierung entwickelten Ideen und Konzepte zum Umgang mit den Problemen der maschinellen Massenproduktion, der Urbanisierung und Massengesellschaft experimentell und pädagogisch verarbeitet und weiterentwickelt wurden. Eine Kritik an den massenhaft produzierten und schlecht gestalteten Maschinenprodukten sowie wegweisende Vorschläge für eine Behebung dieser Probleme lieferte bereits der Architekt Gottfried Semper in seiner im Anschluss an die Londoner Weltausstellung 1851 verfassten Denkschrift «Wissenschaft, Industrie und Kunst». Er schlug die Einrichtung von exemplarischen Mustersammlungen vor, mit denen ein «allgemeiner Volksunterricht des Geschmacks» durchgeführt werden sollte. Über Lehrveranstaltungen zu «Kunst und Industrie» sollten die Bereiche Keramik, Textil, Holz und Stein sowie eine vergleichende Baulehre im Hinblick auf ein «Zusammenwirken» unter dem «Vorsitz der Architektur» vermittelt werden. Anstatt der getrennten Ausbildung von Handwerkern in Industrie- und Künstlern in Zeichenschulen sollte in Werkstätten unterrichtet werden, in denen angewandte und hohe Kunst, das Notwendige und das Schöne wieder zusammengeführt und durch das «brüderliche Verhältnis des Meisters zu seinen Gesellen und Lehrlingen» die Trennung von Kunst und Leben in den herkömmlichen Akademien aufgehoben werden sollten. Sempers Denkschrift nimmt zentrale Ideen des Bauhauses vorweg: die Orientierung am Handwerk, eine allgemeine ästhetische Erziehung, Werkstattunterricht aufgeteilt nach Materialien, die Einheitskunstschule mit Lehrwerkstätten und Meistern sowie das Einheitskunstwerk unter Führung der Architektur.
Die Denkschrift führte zur Gründung von Kunstgewerbemuseen und Kunstgewerbeschulen mit Werkstätten und stieß eine Reihe von Entwicklungen an, die zum Bauhaus führten. Während Semper die Qualität der Maschinenproduktion durch eine Verbindung von Handwerk, Kunst und Industrie zukunftsorientiert heben wollte, finden sich in England, dem Mutterland der Industrialisierung, auch retrospektive Konzepte, deren Wirkung allerdings ebenfalls bis zum Bauhaus verfolgt werden kann. So wandte sich John Ruskin radikal gegen maschinelle Produktion, die für ihn nur Surrogate und tote Gegenstände lieferte, und forderte eine komplette Rückkehr zur vorindustriellen Zeit, in der durch das Handwerk auch Alltagsgegenstände einen Wert erhalten hatten und gleichsam eine «Beseelung» der Produkte erfolgt war. William Morris gab diesem Konzept eine gesellschaftspolitisch soziale Bedeutung, indem er mit einer Rückkehr zum Handwerk die Wiedergewinnung von Freude an der Arbeit verknüpfte und somit über das Handwerk eine Erneuerung und Verbesserung der ganzen Gesellschaft erfolgen sollte. Sowohl die «Beseelung» von Gebrauchsgegenständen wie auch die erzieherische Kraft von «schönen» Gegenständen sind Ideen, die dann über den Deutschen Werkbund in das Bauhaus Eingang fanden.
Die Lehren von Ruskin und Morris, die eine Bewegung zur Verbindung von Kunst und Handwerk («arts and crafts») anstießen, verknüpfte Charles Robert Ashbee mit Sempers Idee der Lehrwerkstätten und gründete 1888 in London die «Guild and School of Handicraft», in der nicht mehr akademisch in Ateliers, sondern in Werkstätten unterrichtet und gearbeitet wurde. Diese Neuerung, die in Parallele zur Reform der schulischen Bildung von der Lern- zur Arbeitsschule im Sinne eines «Learning by Doing» steht, war grundlegend für die Reform der Ausbildung von Künstlern und Handwerkern und wirkte auf viele Kunstgewerbeschulen, die nun Werkstätten einrichteten. Die Übertragung der Werkstattschulen nach Preußen erfolgte durch Hermann Muthesius, der dieses Modell 1896 bis 1902 im Auftrag der Regierung in England studiert hatte und nach seiner Rückkehr die preußischen Kunstgewerbeschulen um Werkstätten erweitern und junge Künstler und Architekten berufen ließ. So reformierten Peter Behrens und Hans Poelzig die Kunst- und Kunstgewerbeschulen in Düsseldorf und Breslau und Bruno Paul die Berliner Kunstgewerbeschule mit praktischer Arbeit in Lehrwerkstätten. Die Haltung zur Maschine war an diesen Schulen anfangs noch ambivalent, erst allmählich entwickelte sich die Vorstellung, dass die Gestaltung auch den technischen Bedingungen und Vorgaben folgen sollte.
Die bedeutendste der circa 60 deutschen Kunstgewerbeschulen entstand in Weimar, wo der Belgier Henry van de Velde seit 1902 ein privates Seminar zur Hebung der Qualität des Kunsthandwerks so erfolgreich leitete, dass er den Auftrag zum Neubau von Bildhauerateliers der Großherzoglichen Kunsthochschule (1910 umbenannt in Hochschule für bildende Kunst) und einen Werkstättentrakt für die dann unter seiner Leitung 1908 eröffnete Großherzogliche Kunstgewerbeschule erhielt (Abb. 2). Van de Velde galt bereits vor der Jahrhundertwende als bedeutendster Vertreter...