A. Auf den Pfaden der Aborigines
Wer Australien bereist oder dort lebt, kommt nicht unbedingt mit den ursprünglichen Bewohnern des Fünften Kontinents, den Aborigines, in Kontakt. In Sydney und anderen Städten gehen sie optisch fast unter. Man sieht sie meist nur am Rande des öffentlichen Raums, wie in den Parks, als Alkoholiker, Obdachlose – als Außenseiter, als ‹Gefahr›. In den Prospekten der Tourismusbranche stehen sie an zentraler Stelle, als etwas, das man gesehen haben muss. Man merkt, dass hier weniger die Menschen gemeint sind als die photogenen kulturellen Produkte: ihre Malerei, das Didgeridu, ihr Tanz im ‹Vorführtheater›. Es sind die Touristenführer bei Attraktionen wie Uluru, das frühere Ayers Rock, dem Kakadu Park oder der für ihre Felsenmalereien bekannte Kimberley-Region, die als «achtbare» Repräsentanten verehrt werden. Das «Volk» von heute aber bleibt unbeachtet.
Der Zugang zu den Aborigines erschöpft sich oft in solchen erfahrbaren kulturellen Erlebnissen. Interessierten bleibt kaum etwas anderes übrig, als sich so populären wie umstrittenen Büchern wie Traumfänger von Marlo Morgan oder Traumzeit von Barbara Wood, das das ZDF 2003 in einer Fernsehfassung ausstrahlte, zuzuwenden. Der Film Long Walk Home (2002) von Phillip Noyce personalisierte die Politik der Assimilation, Paul Goldmans Australian Rules (2002) die des Zusammenlebens von Schwarz und Weiß in einer Kleinstadt. Mit Beiträgen über das Outback, das australische Hinterland, oder über kontrovers diskutierte Themen vermitteln die Medien oft ein realistisches Bild der Kultur und Geschichte der Ureinwohner. Junge, politisch engagierte Menschen suchen Kontakt zu Amnesty International oder der Gesellschaft für bedrohte Völker.
Trotz der Informationsdichte meinen manche Experten, dass die Aborigines zwar zu den bekanntesten, aber auch zu den am wenigsten verstandenen Menschen in der Welt gehören. In der Tradition des aus der Literatur bekannten Motivs des ‹edlen Wilden› schrieb Captain James Cook, die Aborigines hätten zwar nicht die materiellen Güter der Europäer, wären aber glückliche Menschen. Aber Romantisierungen versperren den Blick für die konfliktgeladene Gegenwart. Aborigines fühlen sich nicht als Nachkommen ‹primitiver› Wilder, auch nicht als solche ‹edler Wilder›. Sie sehen sich als Opfer der Kolonialisierung, die in ihrem eigenen Land entrechtet sind. Wadjularbinna, eine Älteste der Gungalidda, beschreibt das auf einprägende Weise. Die Themen, die sie anschneidet, werden uns durch diese Geschichte ihres Volkes begleiten:
Meine Geschichte ist eine schmerzhafte, aber ich will sie mit denen teilen, die nicht-indigener Abstammung sind, denn ich will, dass sie verstehen, woher die Aborigines kommen und wie viel Schmerzvolles sie durchmachen mussten …
Ich heiße Wadjularbinna, was soviel bedeutet wie Wärme und Sonnenschein. Ich wurde in einem Lager der Aborigines am Golf von Carpentaria geboren. Ich bin halbweiß, denn meine Mutter wurde von Siedlern vergewaltigt, als diese die Leute von ihrem Land vertrieben. Meine Großmutter erzählte uns Geschichten, wie Erwachsene, als sie noch ein kleines Kind war, erschossen wurden, und die Kinder, wenn sie von den Eukalyptusbäumen fielen (wo sie sich versteckt hatten), aufgesammelt und gegen Felsen und Bäume geschleudert wurden.
Die Missionare kamen und nahmen die Kinder ihren Eltern weg. Sie nahmen schwarze und halbschwarze Kinder und brachten sie in Schlafsälen unter, die ihnen gehörten. Unsere Eltern konnten nicht zu uns kommen, und wir nicht zu ihnen … Sie sagten, dass unsere Eltern Heiden wären und sie uns die Liebe von Jesus Christus predigen würden. Abends ging ich zu Bett und weinte nach meinen Eltern, fragte, warum sie uns denn weggenommen haben. Das war furchtbar traurig und verwirrte uns für lange Zeit.
Die Missionare behandelten uns wirklich schlecht … Ich weiß nicht, warum das alles passierte, aber als Christin weiß ich, dass das alles einen Sinn hatte. Ich sage zu mir selbst, ich habe eine zweite Chance bekommen und muss tun, was ich kann.
Sie brachten uns vieles bei. Ich bin dankbar, dass ich Lesen, Schreiben, Kochen, Nähen und all das lernte, was Mädchen tun. Aber dann haben sie mich verheiratet. Sie suchten meinen Mann aus und verheirateten mich in eine weiße Familie. Von einem bescheidenen Anfang kam ich in eine Welt der Überheblichkeit und der Klassenunterschiede.
Ich fand schnell heraus, dass man in der weißen Gesellschaft nach der Position eingeschätzt wird, nach Geld, Landbesitz und so fort. Was für eine Verlogenheit, dachte ich. Es war eine völlig andere Welt als die, aus der ich kam.
Wadjularbinna symbolisiert die Wandlung der Aborigines: Sie treten aus vordefinierten, europäischen Rollen heraus und werden eigenständig politisch Handelnde innerhalb der Gesamtgesellschaft.
1. Die Aborigines Australiens im Überblick
Die Kulturen der Aborigines repräsentieren die vielleicht älteste noch praktizierte Kultur der Menschheit, wobei die Mehrzahl Kulturen entscheidend ist: Es gibt nicht die Aborigines, wie es auch nicht die Indianer Amerikas oder die Deutschen gibt. Aborigines im wüstenhaften Zentralaustralien waren und sind anders als die im tropischen Norden, den Kimberley im Nordwesten oder dem kühlen Südosten und Südwesten. Sie unterschieden sich in der Religion, den sozialen Verbänden, in denen sie leben, in ihrer Kunst und ihren Sprachen. Der Begriff ‹Aborigines› ist für dieses Buch gleichwohl eine nicht vermeidbare Verallgemeinerung und Vereinfachung.
Anders als oft behauptet wird, waren die Kulturen der Aborigines nie unveränderlich. Sie wandelten sich, wenn auch langsam. Es ist auch falsch anzunehmen, sie hätten von der Außenwelt abgeschnitten gelebt. Sie pflegten lose Kontakte zu ihren Nachbarn im Norden – in Neuguinea oder dem heutigen Indonesien –, deren Bräuche auf verschiedenen Wegen selbst das Innere des australischen Kontinents erreichten. Vor etwa 30.000 Jahren war der Kontinent gar eine Durchgangsstation für die Menschen zu der Inselwelt des Pazifiks.
Weitere Änderungen gehen auf die Kolonisation ab 1788 zurück, die aber ihrerseits dauerte. Eine Route über die Blue Mountains, westlich von Sydney, fand man erst 1813. Und erst sie eröffnete den Weg ins Innere des Kontinents. Auch nach einem Jahrhundert war das Land noch nicht voll erschlossen. Die Spinifex, ein Aborigine-Stamm aus der Western Desert, z.B. hatten erst in den 1950er Jahren erste Begegnungen mit den Weißen, als sie wegen der Atombombenversuche in der Victoria Desert und der Nullabur zur Emigration gezwungen wurden. Obgleich die Expansion der Landwirtschaft und der Industrie im Laufe des 19. Jahrhunderts schnell voranschritten, blieb Raum für alte Lebensformen – selbst in Stadtrandsiedlungen und Reservaten.
Die Kolonialisierung veränderte die Kulturen also nicht in einem Schritt. Das legt eine Sicht der Kulturgeschichte nahe, die sich nicht auf eine Unterscheidung zwischen der Zeit vor und nach 1788 – dem Beginn der Kolonialisierung – beschränkt. Es ist sinnvoller, die Fortdauer der Traditionen der Kulturen in Rechnung zu stellen und traditionelle von postkolonialen Lebensformen zu unterscheiden. Erkennbar sind sie am Ausmaß des Einflusses der Kolonisation. Das Weiterbestehen bzw. Wiederaufleben der Bindung ans Land und religiöser Praktiken, das Fortleben der komplexen Verwandtschaftsbeziehungen sowie die Transformation früher Rechtsnormen – das sogenannte blackfella way oder Aboriginal Law – und die moderne Malerei belegen die Tatsache, dass sich traditionelle Formen erhalten haben. In der Folge der Kolonisation und besonders in den letzten 50 Jahren haben sie sich gewandelt und eine Dynamik gewonnen, die auf postkoloniale Formen hindeutet. Der Verlust an Kultur ging einher mit einem (partiellen) Erhalt, einer Renaissance und Transformation, die heute in die Hauptgesellschaft hineinwirkt. Das bietet die Grundlage unserer Darstellung, durch die wir der alten und modernen Seite der Aborigines gerecht werden wollen.
2. Besiedlung – Mythen und Wissenschaft
Die Schöpfungsgeschichten der Aborigines berichten, dass es die Schöpfungswesen waren, die das Land, die Sprachen und Menschen schufen und ihnen das Land anvertrauten, jeweils eine Region mit ihrer Sprache. Eine Geschichte aus dem Zentrum Australiens erzählt, dass sich die Numbakullabrüder, die Schöpfungswesen, eines Tages aufmachten und auf ihrem Weg auf menschliche Urwesen, die Inapatual, stießen, die weder sehen, noch hören, noch sich bewegen konnten. Sie nahmen ihre Messer und schnitzten diese Wesen zu richtigen Menschen, den Vorfahren des Stammes der Aranda. Die Schöpfungsgeschichte ist hier, anders als im Christentum, als ein begrenztes, lokales Ereignis dargestellt. Es gibt allerdings auch Geschichten, die die Schöpfung der Erde insgesamt erzählen.
Die Wissenschaft schildert freilich eine andere Geschichte. Als einer der ältesten Kontinente löste sich Australien vor 35 Millionen Jahren von dem Kontinent Gondwana, der Australien, Indien, die Antarktis, Afrika und Südamerika umfasste....