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E-Book

Das Buch der Trauer

Wege aus Schmerz und Verlust

AutorJorge Bucay
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783104028248
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
?Das Buch der Trauer? führt uns nach einem schmerzlichen Verlust beherzt und einfühlsam zurück ins Leben. Jorge Bucay zeigt, wie Trauerarbeit gelingen kann. In ?Das Buch der Trauer? fächert er die ganze Vielfalt der Verluste auf, mit denen wir uns im Leben konfrontiert sehen. Und er gibt anhand seiner profunden psychologischen Erfahrungen eine Hilfe zur Selbsthilfe. Anschaulich macht er uns bewusst, was es heißt, den Schmerz anzunehmen, sich der Trauer zu stellen. Denn nur so - und davon ist er überzeugt - werden wir uns von unserem Kummer befreien können und die Erfahrung machen, dass auch nach den größten Verlusten das Leben wieder auf uns wartet. »Verluste sind Teil unseres Lebens. Sie sind allgegenwärtige und unvermeidliche Konstanten. Und wir nennen sie notwendige Verluste, weil wir an ihnen wachsen. Das, was wir sind, sind wir durch alles, was wir verloren haben, und dadurch, wie wir mit diesen Verlusten umgegangen sind.« Jorge Bucay

Jorge Bucay, 1949 in Buenos Aires geboren, ist einer der einflussreichsten Gestalttherapeuten Argentiniens. Mit »Komm, ich erzähl dir eine Geschichte« gelang ihm der internationale Durchbruch als Autor. Bucays Bücher wurden in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und haben sich weltweit über zehn Millionen Mal verkauft.

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Leseprobe

1 Sich auf den Weg machen


So beginnt der Weg der Tränen.

So machen wir Bekanntschaft mit dem Schmerz.

Mit dieser Last, mit dieser Bürde macht man sich auf den Weg.

Und auch in dem unvermeidlichen, wenngleich fast immer trügerischen Glauben, der scheinbaren Gewissheit, dass ich das nicht ertragen werde.

Auch wenn es unglaublich scheint, zu Beginn dieses Weges denken wir alle, dass es unerträglich ist.

 

Das ist nicht unsere Schuld, oder zumindest nicht nur …

Unsere Erziehung hat uns beigebracht zu glauben, dass wir nicht in der Lage seien, den Schmerz eines Verlustes auszuhalten. Dass niemand den Tod eines geliebten Menschen überstehen könne, dass ein Weiterleben unmöglich ist, wenn die geliebte Person uns verlässt, und dass wir den abgrundtiefen Schmerz eines großen Verlusts keinen Moment ertragen könnten, weil die Trauer so niederschmetternd und zerstörerisch ist …

Und so leben wir unser Leben in Abhängigkeit von dieser Vorstellung.

Aber wie so oft ist dieser erlernte, anerzogene »Glaube« ein gefährlicher Gesellschafter, der sich in den meisten Fällen als starker Gegner erweist und der uns im Endeffekt viel mehr kostet, als er uns angeblich erspart. Im Fall der Trauer treibt er uns beispielsweise zu der ungesunden Entscheidung, von dem Weg abzukommen, der zu unserer endgültigen Befreiung führt, von dem, was nicht mehr ist.

 

Die folgende angeblich wahre Geschichte trug sich, so heißt es, irgendwo in Afrika zu.

 

Sechs Bergleute arbeiteten in einem sehr tiefen Stollen im Inneren der Erde, um Mineralien zu fördern, als plötzlich ein Steinschlag den Eingang zum Stollen verschüttete und sie von der Außenwelt abschnitt. Schweigend sahen sie einander an. Mit einem Blick schätzten sie ihre Situation ab. Aufgrund ihrer Erfahrung war ihnen schnell klar, dass das größte Problem der Sauerstoff werden würde. Wenn sie alles richtig machten, blieben ihnen ungefähr drei, höchstens dreieinhalb Stunden.

Viele Leute da draußen würden wissen, dass sie hier unten festsaßen, aber ein solcher Steinschlag bedeutete, dass man einen neuen Schacht graben musste, um zu ihnen zu gelangen. Würde das gelingen, bevor ihnen die Luft ausging?

Die Minenarbeiter kamen zu dem Schluss, dass sie so viel Sauerstoff wie möglich sparen mussten.

Sie beschlossen, jede körperliche Anstrengung zu vermeiden, löschten die Lampen, die sie dabeihatten, und hockten sich schweigend auf den Boden.

Stumm und reglos in der Dunkelheit sitzend, war es schwer, die Zeit abzuschätzen. Zufälligerweise hatte nur einer von ihnen eine Uhr dabei. Alle Fragen richteten sich an ihn: Wie viel Zeit war vergangen? Wie viel blieb ihnen noch? Und jetzt?

Die Zeit zog sich endlos hin, Minuten wurden zu Stunden, und die Verzweiflung angesichts der Antworten ließ die Situation noch angespannter werden. Dem Vorarbeiter wurde klar, dass sie, wenn sie so weitermachten, vor lauter Angst schneller atmen würden, und das konnte sie umbringen. Also wies er den Mann mit der Uhr an, dass nur noch er die Zeit im Auge behielt. Keiner sollte mehr Fragen stellen, und er würde jede halbe Stunde ansagen.

Der Mann gehorchte und schaute auf seine Uhr. Als die erste halbe Stunde vergangen war, sagte er: »Es ist eine halbe Stunde vorbei.«

Gemurmel wurde laut, die Angst war förmlich mit Händen zu greifen.

Dem Mann mit der Uhr wurde klar, dass, je weiter die Zeit voranschritt, es immer schrecklicher werden würde, ihnen zu sagen, dass die letzte Minute näher kam. Ohne jemandem Bescheid zu sagen, entschied er, dass sie es nicht verdient hatten, vor ihrem Tod so zu leiden. Als er das nächste Mal die halbe Stunde ansagte, waren in Wirklichkeit fünfundvierzig Minuten vergangen.

Da man den Unterschied nicht wahrnehmen konnte, wurde niemand misstrauisch.

Nachdem die Schwindelei erfolgreich gewesen war, machte er die dritte Ansage erst fast eine Stunde später. Er sagte: »Die nächste halbe Stunde ist rum« … Und die fünf glaubten, sie seien insgesamt seit anderthalb Stunden verschüttet, und alle dachten, wie lang sich die Zeit doch hinzog.

Die Rettungsmannschaft machte sich fieberhaft an die Arbeit. Man wusste, in welchem Stollen die Männer eingeschlossen waren und dass es schwer werden würde, vor Ablauf von vier Stunden zu ihnen zu gelangen.

Nach viereinhalb Stunden hatten sie den Durchbruch geschafft. Sehr wahrscheinlich würden sie die sechs Minenarbeiter tot vorfinden.

Doch fünf von ihnen waren noch am Leben.

Nur einer war erstickt … Der mit der Uhr.

 

So viel Einfluss hat der Glaube auf unser Leben.

Das kann Konditionierung aus uns machen.

Sobald wir sicher sind, dass etwas Schlimmes passieren wird, legen wir es – wissentlich oder unwissentlich – fast darauf an, dass uns etwas von dem vorhersehbar Schlimmen passiert (so gering es auch sein mag), oder wir wehren uns zumindest nicht dagegen.

Allerdings funktioniert der Mechanismus umgekehrt genauso, wie die obenstehende Geschichte zeigt: Glauben wir daran und vertrauen darauf, dass es irgendwie weitergeht, steigen unsere Möglichkeiten, durchzukommen, um ein Vielfaches.

Natürlich, hätte die Rettungsmannschaft zwölf Stunden gebraucht, an eine Rettung der Minenarbeiter wäre nicht zu denken gewesen. Ich behaupte nicht, dass eine positive Einstellung allein imstande wäre, Unglück abzuwenden oder Tragödien zu verhindern. Ich behaupte aber, dass ein Glaube, der sich selbst misstraut, ganz bestimmt die Art und Weise beeinflusst, wie wir Schwierigkeiten begegnen.

 

Die Geschichte von den Bergleuten sollte uns dazu bringen, an diese Konditionierung zu denken. Das ist das Erste, was man lernen muss. Es ist unbedingt nötig, hier anzufangen, denn einer der folgenreichsten und in die Irre führenden Mythen, mit denen wir erzogen wurden, ist, dass wir nicht auf Schmerz und Verlust vorbereitet sind.

Wir beteuern, ohne nachzudenken:

»Ich hätte nicht weiterleben können, wenn ich dies verloren hätte.«

»Ich kann nicht weiterleben, wenn ich das nicht habe.«

»Ich könnte nicht weiterleben, wenn ich jenes nicht bekomme.«

 

Wenn ich von den Mechanismen spreche, die zu unserer Abhängigkeit führen, sage ich immer, dass ich im Alter von ein paar Stunden oder Tagen (auch wenn ich es damals noch nicht wusste) natürlich nicht ohne meine Mutter überleben konnte – oder doch wenigstens nicht ohne jemanden, der mir seine mütterliche Fürsorge schenkte. Meine Mutter war damals im wahrsten Sinne des Wortes unentbehrlich für mein Dasein, weil ich ohne sie nicht leben konnte. Mit drei Monaten wurde ich mir dieser Notwendigkeit sicherlich deutlicher bewusst, aber ich entdeckte auch meinen Vater und begann zu begreifen, dass ich wirklich ohne beide nicht leben konnte. Später dann waren es nicht länger mein Vater und meine Mutter, meine FAMILIE war der Keim von allem. Sie gab mir alles, was ich brauchte: Liebe, Gesellschaft, Leichtigkeit, Schutz, Geschenke, Wertschätzung, Rat …

Zu meiner Familie gehörten viele Menschen: mein Bruder gehörte dazu, Onkel und Tanten und auch die Großeltern. Ich liebte sie innig und hatte – daran erinnere ich mich genau – das Gefühl, nicht ohne meine Familie leben zu können.

Dann kam die Schule und mit ihr meine Lehrer, Fräulein Angeloz, Herr Almejún, Fräulein Mariano und Herr Fernández, die ich seinerzeit ebenfalls für unverzichtbar hielt. An der Schule »Républica del Perú« lernte ich außerdem meinen ersten Freund kennen, den liebenswerten »Pocho« Valiente, von dem ich damals dachte, ich könne mich nie, nie, niemals von ihm trennen.

Dann folgten meine Freunde von der weiterführenden Schule und natürlich Rosita … Rosita, meine erste Freundin, ohne die ich natürlich nicht leben konnte, das WUSSTE ich.

Und dann die Theatergruppe, die Billardkumpels und die Uni, die Träume von Karriere, Zukunft und Beruf verhieß. Und natürlich dachte ich, ich könnte ohne meine Karriere nicht leben.

Bis ich nach ein paar ebenfalls unersetzlichen Freundinnen Perla kennenlernte.

Ich spürte sofort, was ich zuvor noch nie empfunden zu haben glaubte: dass ich ohne sie nicht leben konnte.

Vielleicht haben wir deshalb eine Familie gegründet, ohne die ich nicht leben könnte.

Und so entwickelte ich mich weiter und entdeckte andere unersetzliche Dinge: das Krankenhaus, meine Patienten, die Lehre, den einen oder anderen Freund, die Arbeit, finanzielle Sicherheit, ein eigenes Dach über dem Kopf und noch später weitere Menschen, Situationen und Umstände, ohne die weder ich noch ein anderer an meiner Stelle vernünftigerweise hätte leben können.

 

Bis mir eines Tages – am 23. November 1979, um genau zu sein, ohne dass es einen bestimmten Grund gab, warum es dieser Tag war und kein anderer – klar wurde, dass ich ohne mich nicht leben konnte.

Niemals, niemals war ich mir dessen bewusst gewesen.

Niemals hatte ich bemerkt, wie unersetzlich ich für mich selbst war.

Verrückt, oder?

 

Die ganze Zeit wusste ich, ohne wen ich nicht leben konnte, und hatte mir niemals klargemacht, dass ich vor allem ohne mich nicht leben konnte.

Interessant ist, dass auch an diesem Punkt sich alltäglich bestätigte, wie schwer es mir immer wieder fallen würde, ohne diese...

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