1. KAPITEL
Vom Schnee und vom Glück
London
An einem Spätnachmittag im Herbst sitze ich an meinem Fensterplatz im ersten Stock mit Blick auf die schmucklose Giebelwand des Nachbarhauses und erstelle eine Liste von Wörtern, die ich mit Schnee in Verbindung bringe. Einige stehen schon auf dem Blatt. »Schönheit« ganz oben, gefolgt von »Gefahr«, »Kindheit«, »Einsamkeit« und »Tod«. In eine zweite Spalte habe ich »Rodeln« und »Skifahren« geschrieben, »Schneebälle« und »Spaß«, mit zwei Ausrufezeichen. Gerade denke ich darüber nach, »Spaß« durchzustreichen, als draußen die Straßenbeleuchtung flackernd angeht. Während über London die Abenddämmerung hereinbricht, versetzt mich das orangefarbene Licht der Laternen zurück in den Februar, als in die steile Schlucht zwischen den roten Backsteinhäusern Schnee fiel.
In jener Nacht blieb ich auf dem Weg ins Bett oben am Fenster stehen und sah den Schneeflocken beim Fallen zu. Für ganz kurze Augenblicke tauchten sie im Natriumlicht der Straßenlaternen auf, bevor sie, vom Wind in alle Richtungen getrieben, in der Dunkelheit wieder verschwanden. Wie viele Kristalle mochten dort unten auf dem weißer werdenden Stück Straße zwischen den Häusern liegen? Ein paar Millionen, schätzte ich. Milliarden auf der ganzen Straße, und das war nur ein Bruchteil dessen, was der über den Südosten Englands hinwegfegende Schneesturm brachte. Irgendjemand hatte einmal die Schätzung gewagt, auf der ganzen Welt würden pro Sekunde eine Billiarde Schneekristalle gebildet, in zahllosen verschiedenen Formen und Größen, von einfachen sechseckigen Prismen bis zu flachen Plättchen und mehrzackigen Sternen. Wie um alles in der Welt, fragte ich mich, haben die das berechnet?
Am Morgen erfüllte der feuchte Geruch von Schnee die Küche, die jetzt im reflektierten Licht der Sonne leuchtend hell dalag – die Japaner nennen das Yuki-akari, Schneelicht.
Mein ältester Sohn Harry war damals fast drei, und ich wollte mit ihm nach draußen gehen, um ihm zu zeigen, was da geschehen war. Er trat mit einem Lächeln auf den weißen Teppich, der jetzt unseren Gartenweg bedeckte. Wir nahmen dieselbe Route zum Park wie immer, aber dieses Mal war alles anders. Vertraute Wegmarken und die Kaugummiflecke auf dem Asphalt lagen unter dem frischen Schnee verborgen. Das Motorrad unter der blauen Plane war mit Eiskristallen geschmückt. Selbst die Geräusche waren anders, vom sanften Knirschen unter unseren Stiefeln bis zum gedämpften Brummen des Verkehrs in der Ferne.
Wir folgten der Biegung der Straße, vorbei an dem Café und dem Briefkasten, der röter leuchtete denn je, bis zur Hauptstraße, die leer war, ohne die übliche Autoschlange. Mit kleinen Schritten gingen wir an der Parkmauer entlang und schauten durch die Gitterstäbe in die offene Weiße dahinter. Die feuchten Stämme der Kastanienbäume hoben sich im Wintersonnenlicht schwarz vom schneeweißen Hintergrund ab.
Drinnen im Park nahm ich eine Handvoll Schnee und formte sie zu einem Ball – er war pappig und nass. Zusammen rollten wir ihn über die Schneedecke und sahen ihn größer und größer werden, bis er unter seinem eigenen Gewicht knirschte.
Auf dem Heimweg machten wir einen Umweg über die Church Street. Die Fernseher im Schaufenster des Elektrogeschäfts zeigten eine lange Schlange qualmender Fahrzeuge, die im Stau standen, darunter die Zeile: »Chaos im Berufsverkehr«. In der Nacht hatten sich die Autobahnen in Parkplätze verwandelt, und viele Menschen waren gezwungen gewesen, in ihren Autos zu übernachten. Eisenbahnweichen waren eingefroren, Züge gestrichen worden. Selbst die U-Bahn war streckenweise ausgefallen. Aber all das konnte uns nichts anhaben. Wir gingen weiter, am Bäckerladen vorbei und in eine Seitenstraße, die die Streufahrzeuge noch nicht erreicht hatten. Wir sahen zu, wie zwei Fahrzeuge langsam mit blockierten Rädern aufeinander zuschlitterten und mit dem Geräusch knirschenden Plastiks zum Stehen kamen. Die Fahrer stiegen aus, um sich zu beschimpfen.
Zu Hause bauten wir auf dem Gartentisch einen 30 Zentimeter großen Schneemann. In den folgenden Tagen verlor er seine Form und sackte in sich zusammen, bis nichts mehr übrig war als nur noch eine Lache kalten Wassers und ein paar Zweige.
In meinem Zimmer im ersten Stock setze ich noch zwei Wörter auf meine Liste: »Unschuld« und »Glück«.
Wenige Wochen vor seinem Tod schenkte mein Vater mir und meinem Bruder Abzüge eines Fotos, auf dem er als junger Mann zu sehen ist, beim Skifahren irgendwo in Österreich, vor einem Wall aus Firnschnee. Nach seinem Tod hatten wir beide dieses Foto neben unseren Betten stehen. Ich glaube, genau das hatte mein Vater im Sinn: Er hatte seinen Selbstmord bereits geplant, und er wollte, dass mein Bruder und ich ihn so in Erinnerung behielten wie auf diesem Bild: voll jugendlicher Euphorie. Das Foto war in den 1960er Jahren aufgenommen worden, vor unserer Geburt. Er trägt eine modische schwarze Skijacke und eine Startnummer auf der Brust. Sein Sonnenbrillen-Clip ist heruntergeklappt, und er zeigt ein strahlendes Lachen, sein dunkles Haar ist schwungvoll über der Stirn gescheitelt. Selbst in Schwarz-Weiß sieht er braun gebrannt aus. Er war ein begeisterter Skifahrer zu einer Zeit, als es davon nur wenige gab und nur wenige sich diesen Sport leisten konnten.
Er starb, als ich zehn war. Es gibt noch mehr Erinnerungen an ihn, die die Jahrzehnte überdauert haben, aber dieses Foto von ihm als Skifahrer ist noch immer die kraftvollste. Es offenbart die Freude, die er in der Anstrengung und der Geschwindigkeit im intensiven Licht und der schneidenden Luft der Berge fand. Nach allem, was ich über ihn gehört habe, war er ein Romantiker mit jener Vorliebe für große Gesten, die das Kennzeichen jener ist, die die Dinge einfacher haben wollen, als sie sind. Am Ende gab er der weißen Leere des Vergessens den Vorzug vor den komplizierten Grautönen des Lebens.
Es wäre schön, einen Moment wie jenen mit ihm geteilt zu haben, aber ich weiß nicht, ob er je wieder zum Skilaufen war. Die Kamera hat ihn, so scheint es, am Ende und nicht am Anfang des Rennens eingefangen. Die rasante Fahrt durch die Slalomtore ist vorüber, und er steht auf seine Stöcke gestützt, keuchend und hochgestimmt. Vielleicht hat er das Rennen nicht gewonnen, aber er hat es zu Ende gebracht, und er ist glücklich.
Mein erster Schnee kam etwas früher als bei Harry, am Tag meiner Taufe. In der Nacht zuvor hatte ein Schneesturm die wichtigste Straße nach Beverly, der Stadt in Nordengland, in der ich aufwuchs, unpassierbar gemacht.
Während des Gottesdienstes kam eine stadtbekannte Exzentrikerin aus dem Schnee in die Kirche gestapft. Alle Welt nannte sie Sonnenschirm-Lil, weil sie immer und überall und bei jedem Wetter einen Sonnenschirm dabeihatte. Außerdem war sie dafür bekannt, dass sie ständig Streit anfing und drohte, die Stadt für immer zu verlassen. Sie ließ sich dann regelmäßig in eines der umliegenden Dörfer mitnehmen, war aber wenige Stunden später immer wieder da. Die Gemeinde in St. Mary’s war schon darauf gefasst, dass sie den Gottesdienst stören und etwas von sich geben würde wie »So kann es nicht weitergehen«, aber sie verhielt sich ruhig, bis der Vikar die Taufe vollzogen hatte. Erst dann verkündete sie meiner Mutter, ich sei ein Schneeflockenkind.
In den 1970er Jahren schneite es häufiger als heute. Ich bin mit Schneeballschlachten und Schneemännern aufgewachsen, und ich erinnere mich noch genau an jene denkwürdigen Tage, wenn es schneefrei gab und wir die Schlitten vom Dachboden zerrten, wo sie das Jahr über gelagert hatten. Schon damals holten bei Schnee alle ihre Kameras heraus. Auf einem Super-8-Film sind mein Bruder und ich zu sehen, wie wir auf dem Schlitten zu einem beliebten Hügel gezogen werden, der Granny’s Bump, Omas Buckel, heißt. Mein Vater in Gummistiefeln, roter Freizeithose und Norwegerpullover. Meine Mutter ist in einen langen, wattierten Mantel gehüllt und trägt eine Wollmütze. Mein Bruder und ich werden ordentlich durchgerüttelt und fallen vom Schlitten, während die beiden uns an einem Seil hinter sich herziehen. Wenn ich mir den Film heute ansehe, vermitteln mir diese drei flimmernden Minuten ein Gefühl der Wärme und des Verlusts, eine nostalgie de la neige.
In den Osterferien nach dem Tod meines Vaters nahm meine Mutter uns zum ersten Mal mit in den Skiurlaub. Wir waren damals knapp bei Kasse, es musste also billig sein. Die Reise ging nach Schottland, und wir wohnten in einem unbeheizten Wohnwagen meilenweit von den Bergen entfernt und lernten das Skifahren in Jeans und Anorak. Die Cairngorms im Winter sind umwerfend, aber das Wetter oft extrem und wechselhaft. Wenn wir abends zum Wohnwagen zurückkehrten, steckte meine Mutter unsere Handschuhe und Socken zum Trocknen in den Ofen.
Für den Körper waren diese ersten Tage auf der Piste eine Strapaze. Wir standen zeitig auf, die Muskeln taten noch vom Vortag weh, und zwangen unsere Füße in starre Plastikstiefel. Sobald wir uns den Bergen näherten, schickte ich Stoßgebete gen Himmel, dass wir einen...