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E-Book

Das Café der Existenzialisten

Freiheit, Sein und Aprikosencocktails

AutorSarah Bakewell
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl449 Seiten
ISBN9783406697654
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Wie macht man Philosophie aus Aprikosencocktails? Für Sartre kein Problem: Er machte Philosophie aus einem Schwindelgefühl, aus Voyeurismus, Scham, Sadismus, Revolution, Musik und Sex. Sarah Bakewell erzählt mit wunderbarer Leichtigkeit, wie der Existenzialismus zum Lebensgefühl einer Generation wurde, die sich nach radikaler Freiheit und authentischer Existenz sehnte. Ihre meisterhafte Kollektivbiographie der Existenzialisten ist zugleich eine höchst verführerische Einladung, die existenzialistische Lebenskunst heute neu zu entdecken. 'Sarah Bakewell bringt alle Voraussetzungen mit, um uns die Geschichte des Existenzialismus neu zu erzählen. ... Sie schreibt brillant, mit leichter Feder und einem sehr britischen Humor, und bietet faszinierende Einsichten.' The Guardian 'Sie hat den Dreh raus, wie man zentrale Ideen auf den Punkt bringt.' Financial Times 'Skurril, witzig, klar und leidenschaftlich.' Daily Mail 'Ein Page-Turner.' The Paris Review

Sarah Bakewell lebt als Schriftstellerin in London, wo sie Creative Writing an der City University lehrt und für den National Trust seltene Bücher katalogisiert.

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Leseprobe

Viertes Kapitel

Das «Man», der Ruf


in dem Sartre Albträume hat und Heidegger zu denken versucht, Karl Jaspers bestürzt ist und Husserl zu Heroismus aufruft

1933, ein «unheimliches» Jahr


Heideggers magnetisierende Auftritte 1929 erhöhten nur die Anziehungskraft seiner Philosophie in einem Land, das nach dem Ersten Weltkrieg und der Hyperinflation 1923 in einer noch schwereren wirtschaftlichen Katastrophe zu versinken drohte. Viele Deutsche empfanden die Revolution von 1918/19 wie einen Staatsstreich, durch den Sozialdemokraten und Kommunisten das gute alte Kaiserreich zerstört hätten. Man munkelte über mutmaßliche Pläne von Juden und Kommunisten, den Staat zu unterminieren. Heidegger schien diesen Argwohn zu teilen. Auch er fühlte sich orientierungslos und verachtete die Weimarer Demokratie.

Besucher jener Jahre erschraken über Elend und Armut, die die Menschen links- und rechtsextremen Parteien in die Arme trieben. Raymond Aron, der 1930 erstmals in Deutschland war, fragte sich schockiert, was Europa tun müsse, um nicht in einen neuen Krieg hineinzuschlittern.[1] Zwei Jahre später bereiste die junge französische Philosophin Simone Weil Deutschland und berichtete für eine linksgerichtete Zeitung über Not und Arbeitslosigkeit, die das soziale Gefüge zerstörten. Wer einen Arbeitsplatz habe, schrieb sie, lebe in der ständigen Angst, ihn zu verlieren. Wer sich keine Wohnung leisten könne, verliere das Dach über dem Kopf oder müsse auf Kosten seiner Angehörigen leben, was die Familienbeziehungen extrem belaste. Das Unglück könne jeden treffen: «Greise mit steifem Kragen und Melone betteln an den U-Bahn-Ausgängen oder singen mit gebrochener Stimme auf der Straße.»[2] Die Alten litten, aber die Jungen, die nichts anderes kannten, konnten sich nicht einmal in schöne Erinnerungen flüchten.

Revolution lag in der Luft, aber man konnte nur spekulieren, wohin die politische Entwicklung führen würde: in Richtung der Kommunisten oder der Nationalsozialisten. Simone Weil setzte ihre Hoffnung auf die Linken, befürchtete aber, dass in einer so verzweifelten Lage die strenge Disziplin der uniformierten nationalsozialistischen Aufmärsche eindrucksvoller und attraktiver war als vage sozialistische Träume von Gleichheit.[3] Sie sollte recht behalten. Am 30. Januar 1933 ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. Einst eine belächelte Randfigur, beherrschte Hitler jetzt das Land. Die Wahlen am 5. März stärkten seine Partei, die NSDAP. Am 23. März erhielt er mit dem Ermächtigungsgesetz nahezu unumschränkte Vollmachten, die er im Lauf des Sommers weiter ausbaute. Zwischen Arons Aufforderung an Sartre, ausgesprochen nach dem Gespräch über Aprikosencocktails, und dessen Aufbruch nach Berlin veränderte sich das Land so stark, dass es kaum wiederzuerkennen war.

Die ersten Umbrüche zeigten sich schon in jenem Frühjahr, und sie schränkten das Leben der Menschen in elementarer Weise ein. Bereits im März gab es willkürliche Verhaftungen, Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen. Mit neuen Verordnungen wurden das Brief- und das Telefongeheimnis aufgehoben – persönliche Freiräume, die bis dahin als unantastbar gegolten hatten.[4] Im April wurde zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen, und das «Berufsbeamtengesetz» erlaubte es, jüdische und politisch missliebige Staatsbedienstete zu entlassen. Am 2. Mai wurden die Gewerkschaften verboten. Am 10. Mai fand die erste öffentliche Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz statt. Am 14. Juli 1933 wurden alle politischen Parteien außer der NSDAP verboten.

Viele Deutsche, aber auch viele Menschen in Europa, beobachteten diese Entwicklung mit Entsetzen. Simone de Beauvoir wunderte sich später, wie gelassen sie und Sartre dem Aufstieg der Nationalsozialisten zugesehen hatten, ausgerechnet sie, die sich in der Folge so stark politisch engagierten.[5] Sie hätten zwar eifrig Zeitung gelesen, sich aber mehr für Mordgeschichten und psychologisch extreme Fälle wie die Tragödie der Papin-Schwestern interessiert (die beiden Zofen ermordeten ihren Arbeitgeber) oder die Geschichte eines jungen Paares, das ein unbekanntes Ehepaar mit in ihre Wohnung nahm, Orgien feierte und sich am nächsten Tag umbrachte.[6] Angesichts solcher Merkwürdigkeiten erschien ihnen der Aufstieg von Faschismus und Nationalsozialismus als eine eher abstrakte Angelegenheit. Doch im Sommer 1933, kurz vor Sartres Aufbruch nach Berlin, machten die beiden auf irritierende Weise Bekanntschaft mit dem italienischen Faschismus. Sie nutzten ein Sonderangebot der italienischen Eisenbahn und fuhren nach Rom. Als sie nachts im Kolosseum waren, richteten plötzlich zwei Schwarzhemden ihre Taschenlampen auf sie und schrien sie an, was sie hier zu suchen hätten.[7] Sie waren zwar schockiert, wurden aber politisch nicht wachgerüttelt.

Während seines Aufenthalts in Berlin war Sartre so sehr mit der Lektüre Husserls und anderer Philosophen beschäftigt, dass er die Außenwelt zunächst kaum wahrnahm. Er trank mit seinen Mitstudenten und unternahm lange Spaziergänge. «Dort entdeckte ich erneut die Verantwortungslosigkeit», erinnerte er sich später.[8] Doch die Hakenkreuzfahnen, die Aufmärsche und die regelmäßigen Gewaltexzesse wurden immer beunruhigender. Im Februar 1934 besuchte Beauvoir zum ersten Mal Sartre und wunderte sich darüber, wie normal Deutschland wirkte.[9] Als sie dann aber im Juni erneut nach Berlin reiste und mit Sartre über Dresden, München und Nürnberg nach Paris zurückfuhr, erlebte sie Militäraufmärsche und am Rande auch brutale Szenen auf den Straßen mit, so dass sie froh war, Deutschland wieder zu verlassen. Sartre bekam Albträume von Städten im Aufruhr, von «Blut an den Straßenkreuzungen und auf der Mayonnaise der Metzger».[10]

Diese Mischung aus Beklemmung und dem Gefühl des Irrealen war nichts Ungewöhnliches. Viele Deutsche empfanden es ähnlich. Es herrschte ein Gefühl der «Unheimlichkeit», wie es Heidegger nannte.

In der Regel wurden die Nazis gerade von den gebildeteren Bevölkerungsschichten nicht sehr ernst genommen. Karl Jaspers gab im Nachhinein zu, diesen Fehler gemacht zu haben. Eine ähnliche Einstellung beobachtete Simone de Beauvoir bei den französischen Studenten in Berlin. [11] Immerhin lernten die meisten, die Hitlers Ideologie ablehnten, dass es besser war, ihre Ansichten für sich zu behalten. Bei Aufmärschen überließen sie den Nazis die Straßen. Ließ es sich nicht vermeiden, entboten sie den obligatorischen Hitlergruß. Sie fanden, diese Geste sei bedeutungslos, wenn sie nicht daran glaubten. Wie der Psychologe Bruno Bettelheim später über diese Zeit schrieb, waren nur wenige bereit, für eine scheinbare Kleinigkeit wie den unterlassenen Hitlergruß ihr Leben aufs Spiel zu setzen – dennoch wurde auf diese Weise die Kraft des Widerstands geschwächt, die Verantwortung für das eigene Tun und die moralische Integrität unterminiert.[12]

Der Journalist Sebastian Haffner, damals Jurastudent, sprach in seinen Erinnerungen gleichfalls von einer Atmosphäre des «Unheimlichen». Alles geschah «in einer Art von halber Narkose, mit einer dünnen, kümmerlichen Gefühlssubstanz hinter dem objektiv Ungeheuerlichen: daß Morde begangen werden aus der Stimmung eines Dumme-Jungen-Streichs, daß Selbsterniedrigung und moralischer Tod hingenommen werden wie ein kleiner störender Zwischenfall». Seiner Ansicht nach trug nicht zuletzt die Moderne selbst die Schuld daran: Die Menschen, schrieb er, standen im Bann ihrer Gewohnheiten und der Massenmedien und vergaßen, die Routine ihres täglichen Lebens zu unterbrechen, um sich zu fragen, was eigentlich vorgehe.[13]

Heideggers ehemalige Geliebte und Schülerin Hannah Arendt schrieb in ihrer Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, nicht zuletzt die Zersplitterung des modernen Lebens mache die Menschen anfällig für Demagogen und verschaffe totalitären Bewegungen Zulauf.[14] Arendt prägte auch das Schlagwort von der «Banalität des Bösen»: das völlige Versagen des...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel3
Impressum4
Widmung5
Inhalt7
Inhalt7
Erstes Kapitel: Monsieur, wie schrecklich, Existenzialismus!13
Du kannst über diesen Cocktail sprechen, und das ist Philosophie!13
Du bist frei, also wähle!18
Existenzialismus als Lebensform24
Kierkegaard und Nietzsche30
Befreiung von jeder Unterdrückung35
Sartres letzter Auftritt38
Wieder über Freiheit sprechen40
Das Café der Existenzialisten45
Was ist das überhaupt, Existenzialismus?48
Zweites Kapitel: Zu den Sachen selbst51
Husserl oder Das vor Augen Stehende beschreiben52
Wie aus Kaffee Phänomenologie wird56
Ein fleißiges Eichhörnchen61
Das Bewusstsein, hell und klar63
Cartesianische Meditationen65
Drittes Kapitel: Der Zauberer von Meßkirch67
Meister des Staunens67
Das phänomenologische Kind68
Ein Romancier der Moderne75
Die Sorge, das Zeug und das Mitsein79
Die Stadt der zwei Phänomenologien83
Wie ein verbogener Nagel alles in Frage stellt85
Auf dem Zauberberg88
Viertes Kapitel: Das «Man», der Ruf91
1933, ein «unheimliches» Jahr91
Aufruf zum Widerstand?95
Heideggers Nationalsozialismus96
Karl Jaspers’ lange Beine99
Verschlüsselte politische Botschaften106
Der Charakterlose108
Kehre und Kitsch111
Flucht der Schüler, Tod des Lehrers113
Fünftes Kapitel: Blühende Mandelbäume abweiden119
Some of These Days119
Zähflüssiges, Klebriges, Schleim125
Leben und Schreiben, gegen die Bourgeoisie129
Simone de Beauvoir und Maurice Merleau-Ponty132
Notwendige und zufällige Liebe135
Sechstes Kapitel: Ich möchte nicht, dass man mich zwingt, meine Manuskripte zu fressen143
Eine Woche im Herbst 1938143
Die Rettung des Husserl-Nachlasses146
Merleau-Ponty und das Geheimnis von Husserls Spätwerk151
Von der Côte d’Azur in den Krieg155
Edith Stein, Phänomenologin und Heilige156
Siebtes Kapitel: Okkupation und Befreiung161
Der komische Krieg161
Ein glücklicher Gefangener165
Résistance, im Alltag167
Keep Calm and Carry On170
Absurd oder nicht absurd175
Frei oder nicht frei178
Handeln gegen die Unfreiheit184
Schmutzige Hände187
Moderne Zeiten190
Existenzialismus und Jazz192
Traduit de l’américain194
Amerikanische Missverständnisse199
Achtes Kapitel: Verwüstung203
Auf Burg Wildenstein203
Das Geräumige, das in der Weite waltet206
Expedition und Sanatorium207
Heideggers Kehre209
Marcuse fragt, Heidegger schweigt216
Jaspers kommuniziert, und Heidegger begeistert218
Lévinas verlässt das Heidegger-Klima222
Moral und Mystik225
Hat Heidegger Sartres «Dreck» gelesen?228
«Die Fliegen» in Berlin230
Der Alte vom Berg233
Neuntes Kapitel: Studien nach dem Leben237
Simone de Beauvoir und das andere Geschlecht237
Sartre, der Blick und die Liebe241
Angewandter Existenzialismus243
Sartre über Sartre, Genet und andere247
Flaubert, der Idiot der Familie251
Wenn Sartre Freud analysiert254
Eine bizarre Häufung von Unwahrscheinlichkeiten255
Zehntes Kapitel: Der tanzende Philosoph259
Was geschieht, wenn wir an unserem Cocktail nippen259
Ich denke, also gibt es andere261
Verwoben mit der Welt267
Anmut und Charme269
An den schattigen Rändern der Philosophie272
Elftes Kapitel: Croisés comme ça275
Opfer für den Kommunismus275
Koestler und die Unmöglichkeit der Freundschaft281
Die schreibende Hyäne284
Das Taubenkomplott und Sartres Kehre287
Camus, der Konterrevolutionär291
Alors, c’est fini294
Die Mandarins von Paris299
Besser, mit Sartre zu irren300
Schreiben, schreiben, schreiben und ein Röhrchen Corydran302
Eine neue Kehre305
Zwölftes Kapitel: Mit den Augen der Benachteiligten307
Das Prinzip Genet307
Frantz Fanon und die Gewalt der Unterdrückten309
Ein schwarzer Schriftsteller in Paris314
Eine Tochter aus gutem Hause317
Das existenzialistische Jahrzehnt in Amerika318
Existenzialismus der Halbstarken323
Gegenkulturen der Sechziger – und Herbst des Existenzialismus328
Phänomenologischer Frühling in Prag330
Dreizehntes Kapitel: Wer einmal von der Phänomenologie gekostet hat337
Sein zum Tode337
Die ersten Gäste verlassen das Café338
Heideggers Heimkehr342
Sartre, petit père, tu uns das nicht an!347
Die letzten Gäste gehen350
Vierzehntes Kapitel: Eine unauslotbare Strahlkraft357
Im Dickicht der existenzialistischen Filme357
HeideggersTiefenbohrungen und Sartres Dschungelpfade359
Ich sehe dich, aber ich sehe nicht dich365
Die Mitwirkenden370
Dank376
Bildnachweis377
Anmerkungen378
Literatur431
Personenregister444
Zum Buch449
Über die Autorin449

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