1933, ein «unheimliches» Jahr
Heideggers magnetisierende Auftritte 1929 erhöhten nur die Anziehungskraft seiner Philosophie in einem Land, das nach dem Ersten Weltkrieg und der Hyperinflation 1923 in einer noch schwereren wirtschaftlichen Katastrophe zu versinken drohte. Viele Deutsche empfanden die Revolution von 1918/19 wie einen Staatsstreich, durch den Sozialdemokraten und Kommunisten das gute alte Kaiserreich zerstört hätten. Man munkelte über mutmaßliche Pläne von Juden und Kommunisten, den Staat zu unterminieren. Heidegger schien diesen Argwohn zu teilen. Auch er fühlte sich orientierungslos und verachtete die Weimarer Demokratie.
Besucher jener Jahre erschraken über Elend und Armut, die die Menschen links- und rechtsextremen Parteien in die Arme trieben. Raymond Aron, der 1930 erstmals in Deutschland war, fragte sich schockiert, was Europa tun müsse, um nicht in einen neuen Krieg hineinzuschlittern.[1] Zwei Jahre später bereiste die junge französische Philosophin Simone Weil Deutschland und berichtete für eine linksgerichtete Zeitung über Not und Arbeitslosigkeit, die das soziale Gefüge zerstörten. Wer einen Arbeitsplatz habe, schrieb sie, lebe in der ständigen Angst, ihn zu verlieren. Wer sich keine Wohnung leisten könne, verliere das Dach über dem Kopf oder müsse auf Kosten seiner Angehörigen leben, was die Familienbeziehungen extrem belaste. Das Unglück könne jeden treffen: «Greise mit steifem Kragen und Melone betteln an den U-Bahn-Ausgängen oder singen mit gebrochener Stimme auf der Straße.»[2] Die Alten litten, aber die Jungen, die nichts anderes kannten, konnten sich nicht einmal in schöne Erinnerungen flüchten.
Revolution lag in der Luft, aber man konnte nur spekulieren, wohin die politische Entwicklung führen würde: in Richtung der Kommunisten oder der Nationalsozialisten. Simone Weil setzte ihre Hoffnung auf die Linken, befürchtete aber, dass in einer so verzweifelten Lage die strenge Disziplin der uniformierten nationalsozialistischen Aufmärsche eindrucksvoller und attraktiver war als vage sozialistische Träume von Gleichheit.[3] Sie sollte recht behalten. Am 30. Januar 1933 ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. Einst eine belächelte Randfigur, beherrschte Hitler jetzt das Land. Die Wahlen am 5. März stärkten seine Partei, die NSDAP. Am 23. März erhielt er mit dem Ermächtigungsgesetz nahezu unumschränkte Vollmachten, die er im Lauf des Sommers weiter ausbaute. Zwischen Arons Aufforderung an Sartre, ausgesprochen nach dem Gespräch über Aprikosencocktails, und dessen Aufbruch nach Berlin veränderte sich das Land so stark, dass es kaum wiederzuerkennen war.
Die ersten Umbrüche zeigten sich schon in jenem Frühjahr, und sie schränkten das Leben der Menschen in elementarer Weise ein. Bereits im März gab es willkürliche Verhaftungen, Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen. Mit neuen Verordnungen wurden das Brief- und das Telefongeheimnis aufgehoben – persönliche Freiräume, die bis dahin als unantastbar gegolten hatten.[4] Im April wurde zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen, und das «Berufsbeamtengesetz» erlaubte es, jüdische und politisch missliebige Staatsbedienstete zu entlassen. Am 2. Mai wurden die Gewerkschaften verboten. Am 10. Mai fand die erste öffentliche Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz statt. Am 14. Juli 1933 wurden alle politischen Parteien außer der NSDAP verboten.
Viele Deutsche, aber auch viele Menschen in Europa, beobachteten diese Entwicklung mit Entsetzen. Simone de Beauvoir wunderte sich später, wie gelassen sie und Sartre dem Aufstieg der Nationalsozialisten zugesehen hatten, ausgerechnet sie, die sich in der Folge so stark politisch engagierten.[5] Sie hätten zwar eifrig Zeitung gelesen, sich aber mehr für Mordgeschichten und psychologisch extreme Fälle wie die Tragödie der Papin-Schwestern interessiert (die beiden Zofen ermordeten ihren Arbeitgeber) oder die Geschichte eines jungen Paares, das ein unbekanntes Ehepaar mit in ihre Wohnung nahm, Orgien feierte und sich am nächsten Tag umbrachte.[6] Angesichts solcher Merkwürdigkeiten erschien ihnen der Aufstieg von Faschismus und Nationalsozialismus als eine eher abstrakte Angelegenheit. Doch im Sommer 1933, kurz vor Sartres Aufbruch nach Berlin, machten die beiden auf irritierende Weise Bekanntschaft mit dem italienischen Faschismus. Sie nutzten ein Sonderangebot der italienischen Eisenbahn und fuhren nach Rom. Als sie nachts im Kolosseum waren, richteten plötzlich zwei Schwarzhemden ihre Taschenlampen auf sie und schrien sie an, was sie hier zu suchen hätten.[7] Sie waren zwar schockiert, wurden aber politisch nicht wachgerüttelt.
Während seines Aufenthalts in Berlin war Sartre so sehr mit der Lektüre Husserls und anderer Philosophen beschäftigt, dass er die Außenwelt zunächst kaum wahrnahm. Er trank mit seinen Mitstudenten und unternahm lange Spaziergänge. «Dort entdeckte ich erneut die Verantwortungslosigkeit», erinnerte er sich später.[8] Doch die Hakenkreuzfahnen, die Aufmärsche und die regelmäßigen Gewaltexzesse wurden immer beunruhigender. Im Februar 1934 besuchte Beauvoir zum ersten Mal Sartre und wunderte sich darüber, wie normal Deutschland wirkte.[9] Als sie dann aber im Juni erneut nach Berlin reiste und mit Sartre über Dresden, München und Nürnberg nach Paris zurückfuhr, erlebte sie Militäraufmärsche und am Rande auch brutale Szenen auf den Straßen mit, so dass sie froh war, Deutschland wieder zu verlassen. Sartre bekam Albträume von Städten im Aufruhr, von «Blut an den Straßenkreuzungen und auf der Mayonnaise der Metzger».[10]
Diese Mischung aus Beklemmung und dem Gefühl des Irrealen war nichts Ungewöhnliches. Viele Deutsche empfanden es ähnlich. Es herrschte ein Gefühl der «Unheimlichkeit», wie es Heidegger nannte.
In der Regel wurden die Nazis gerade von den gebildeteren Bevölkerungsschichten nicht sehr ernst genommen. Karl Jaspers gab im Nachhinein zu, diesen Fehler gemacht zu haben. Eine ähnliche Einstellung beobachtete Simone de Beauvoir bei den französischen Studenten in Berlin. [11] Immerhin lernten die meisten, die Hitlers Ideologie ablehnten, dass es besser war, ihre Ansichten für sich zu behalten. Bei Aufmärschen überließen sie den Nazis die Straßen. Ließ es sich nicht vermeiden, entboten sie den obligatorischen Hitlergruß. Sie fanden, diese Geste sei bedeutungslos, wenn sie nicht daran glaubten. Wie der Psychologe Bruno Bettelheim später über diese Zeit schrieb, waren nur wenige bereit, für eine scheinbare Kleinigkeit wie den unterlassenen Hitlergruß ihr Leben aufs Spiel zu setzen – dennoch wurde auf diese Weise die Kraft des Widerstands geschwächt, die Verantwortung für das eigene Tun und die moralische Integrität unterminiert.[12]
Der Journalist Sebastian Haffner, damals Jurastudent, sprach in seinen Erinnerungen gleichfalls von einer Atmosphäre des «Unheimlichen». Alles geschah «in einer Art von halber Narkose, mit einer dünnen, kümmerlichen Gefühlssubstanz hinter dem objektiv Ungeheuerlichen: daß Morde begangen werden aus der Stimmung eines Dumme-Jungen-Streichs, daß Selbsterniedrigung und moralischer Tod hingenommen werden wie ein kleiner störender Zwischenfall». Seiner Ansicht nach trug nicht zuletzt die Moderne selbst die Schuld daran: Die Menschen, schrieb er, standen im Bann ihrer Gewohnheiten und der Massenmedien und vergaßen, die Routine ihres täglichen Lebens zu unterbrechen, um sich zu fragen, was eigentlich vorgehe.[13]
Heideggers ehemalige Geliebte und Schülerin Hannah Arendt schrieb in ihrer Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, nicht zuletzt die Zersplitterung des modernen Lebens mache die Menschen anfällig für Demagogen und verschaffe totalitären Bewegungen Zulauf.[14] Arendt prägte auch das Schlagwort von der «Banalität des Bösen»: das völlige Versagen des...