Die Tragik des Augenblicks
Es gibt Momente in unserem Leben, in denen sich alles so ereignet, wie wir es uns wünschen. Wir fühlen uns vom Augenblick beschenkt. Es mag die unerwartete Begegnung mit einem Menschen sein oder auch „nur“ die Entdeckung eines wunderschönen Ortes. Ebenso kann es eine bahnbrechende Eingebung sein, die unser Leben in eine neue Richtung führt, eine Eingebung, die uns hilft, all dem, was wir tagein, tagaus tun, eine neue Wendung zu geben. Vielleicht ist es nur eine Kleinigkeit, die es uns ermöglicht, manches aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Vielleicht ist es ein Hinweis „von außen“, die Bemerkung eines anderen Menschen, die uns dazu ermutigt, einen Schritt nach vorne zu tun. Wenn immer sich Derartiges ereignet, fühlen wir uns glücklich, wir sind wie gesagt vom Augenblick beschenkt worden.
Damit wir das alles wahrnehmen können, damit wir unser Glück überhaupt wahrnehmen, muss allerdings eine Voraussetzung erfüllt sein: Wir sollten in der Lage sein, unser Gehirn so zum Einsatz zu bringen, dass wir nicht „von Sinnen“ sind. Das heißt, unser Gehirn hat neben vielen Aufgaben vor allem eines zu leisten: Es muss die Sinneseindrücke so sammeln, filtern und verarbeiten, dass wir unser Glück empfinden, es „von innen“ erleben und über das Erlebte nach außen kommunizieren können. Wie heißt es so schön? Geteiltes Leid ist halbes Leid, und geteiltes Glück ist doppeltes Glück.
Nun vollziehen sich Ereignisse aber nicht nur in einer Richtung. Und das führt uns zum Thema dieses Buches. Allem positiven Denken zum Trotz gibt es nämlich Augenblicke, die unserem Leben eine völlig unerwartete Wendung geben, in der buchstäblich alles in eine Schieflage gerät. Solange diese Ereignisse in unseren äußeren Lebensumständen stattfinden, mag das tragisch verlaufen und uns aus der Bahn werfen. Aber es gibt da Ereignisse, die viel tiefer – über das Äußere hinaus – in unser Leben eingreifen. Wenn sich in unserer inneren Schaltzentrale eine Störung ereignet, dann ist das der Super-GAU. Es kann nämlich so weit kommen, dass sich unsere Sinneswahrnehmungen verändern. Die Veränderung kann auf unterschiedliche und sehr komplizierte Art und Weise stattfinden. Und das kann wiederum so weit gehen, dass die Möglichkeiten der Kommunikation und des Gedankenaustauschs mit unseren Mitmenschen über das Gehirn buchstäblich abgeschaltet werden.
Ein derartiges Abschalten kann bereits innerhalb weniger Sekunden geschehen: Eine winzige Arterie öffnet sich im Inneren unseres Gehirns oder eine kleine Verklumpung des Bluts hindert die Arterie bei der Sauerstoffversorgung des Gehirns – eine lokal sehr begrenzte Gehirnblutung oder ein noch so kleiner Schlaganfall verändern wie mit einem Paukenschlag alles, was in unserem Kopf abläuft. Und nicht nur das. Es sind nicht nur die Prozesse betroffen, die innerhalb des Gehirns selbst ablaufen. Eine noch so geringfügige Unterbrechung der Sauerstoffversorgung der Schaltzentrale im Inneren unseres Kopfes greift in unser Handeln und Tun ein. Somit kommt es zu einer Veränderung aller Lebensprozesse: Es ist auch unsere Wahrnehmung, es ist auch unser Erinnerungsvermögen und es ist nicht zuletzt unser Sprachvermögen, die plötzlich eingeschränkt sind oder gar völlig verschwinden. Oft ist der Verlust der Sprache der Teil der Folgen eines Schlaganfalls, der am schwersten zu verkraften ist. Und es ist auch der Teil, der den Therapeuten das meiste Kopfzerbrechen bereitet.
In vielen Fällen bringt uns somit ein Schlaganfall um die wichtigste Verbindungsbrücke zu unseren Mitmenschen. Wir sind damit in ein umgewandeltes Gehirn mit all seinen kleinen Veränderungen buchstäblich eingesperrt. Wir können unseren Mitmenschen nicht mehr auf der breiten Schiene der sprachlichen Kommunikation näherkommen, die bislang den Austausch unserer Gedanken gewährleistet hat. Und die Unterbrechung zwischen unserem Denken und der sozialen Welt um uns ist mehr als nur eine Einschränkung unserer Fähigkeit, mit anderen zu kommunizieren. Menschliche Gefühle entstehen, bewahren sich und verändern sich im Umgang zwischen den einzelnen Individuen. Ohne die sprachliche Einbindung in den sozialen Kontext fristen die Gefühle ein eingeengtes Leben im Inneren unseres Gehirns. Und eingeengt mit sich selbst beginnen die Gefühle ein Eigenleben zu führen, ohne Zugang zur Vergewisserung, Überprüfung und Neuorientierung durch die Sprache zu haben.
All das wäre nicht so gravierend, würden wir über die Fähigkeit der Gebärdensprache verfügen: Menschen, die mit einer Behinderung des Hörvermögens aufgewachsen sind, finden schon in der frühen Kindheit die Möglichkeit, diese „Sprache ohne Worte“ zu erlernen. Sie können sich damit anderen Menschen, die diese Gebärdensprache ebenfalls erlernt haben, mitteilen. Und sie finden sogar mithilfe eines Gebärdenspracheübersetzers die Verbindung zu Menschen, die ein normales Sprachvermögen besitzen.
Aber wenn es zum Super-GAU in den Abteilungen des Gehirns kommt, die für die Sprache zuständig sind, liegen die Dinge ganz anders. Der betroffene Mensch verfügt nicht über das Ausdrucksvermögen der Menschen, die aufgrund einer Hörbehinderung schon früh die Gebärdensprache erlernen konnten. Und er ist auch nicht in der Situation der Menschen, die durch einen genialen chirurgischen Eingriff, über ein Implantat zur Sprache finden.
Für den Menschen, der durch einen Schlaganfall die Fähigkeit zu sprechen plötzlich verliert, gehen schlagartig alle Brücken der Mitteilung, des Fragens und des Antwortens verloren. Manchmal ist das Gehirn in der Lage, mit dem Schaden konstruktiv umzugehen. Das heißt nicht unbedingt, dass der Schaden wie von selbst verschwindet. Aber auch der Verlust der Sprache kann genauso wie die Lähmung einer Körperseite nach und nach verschwinden. Die Genesung kann so weit gehen, dass alles wieder so ist wie vorher. Das Gehirn verfügt über eine erstaunliche Fähigkeit, sich selbst zu helfen. Es beauftragt einfach andere Abteilungen damit, die Arbeit derjenigen Abteilungen zu übernehmen, die wegen Sauerstoffmangel den Streik ausgerufen haben.
Das ist aber beileibe nicht immer so. Manche Schlaganfälle erzeugen dauerhafte, für den Betroffenen schwerwiegende Behinderungen. Und diese Behinderungen können dem Menschen lange Zeit, häufig bis ans Lebensende, zu schaffen machen. So ist es häufig bei Lähmungserscheinungen: Eine Körperseite kann einfach nicht mehr ihren Dienst tun, weil die dazu nötige Information vom Gehirn nicht mehr geliefert wird. Und, was für den betroffenen Patienten noch schwerwiegendere Folgen hat, auch das Sprachvermögen will sich oft nicht mehr einstellen.
Die Möglichkeiten der Medizin, Gefäße direkt frei zu machen, bietet für solche Fälle zuweilen einen letzten Ausweg. Das Verfahren kam ursprünglich bei Herzinfarkten zur Anwendung. Mit einem kleinen Katheder arbeitet sich der Arzt im Inneren eines Gefäßes bis zur kritischen Stelle vor: Dort, wo ein Blutgerinnsel ein Gefäß verstopft hat, wird das Gefäß mithilfe eines Katheders von Hindernissen, die den Durchfluss blockieren, befreit. Und dann kann das Gefäß erneut die unterbrochene Versorgung mit sauerstoffhaltigem Blut übernehmen.
Eine vergleichbare Lösung versuchen Ärzte heutzutage auch beim Schlaganfall anzuwenden. Genauso wie beim Herzinfarkt geht es darum, das verstopfte Gefäß wieder durchlässig zu machen. Der ungestörte Blutfluss des sauerstoffhaltigen Blutes soll wieder uneingeschränkt hergestellt werden. Nun liegen die Dinge im Gehirn aber etwas anders. Das Herz ist wirklich kompliziert genug, aber gemessen am Gehirn ist sein Aufbau klar und einfach gegliedert. Das Herz ist für unser Leben genauso wichtig wie das Gehirn, aber das Herz ist ein Muskel. Die Gefäße eines Muskels lassen sich mit etwas Geschicklichkeit des behandelnden Arztes problemlos frei machen. Im Gehirn ist das mit größeren Risiken verbunden. Mit diesen Risiken sind die Ärzte unweigerlich konfrontiert, sobald sie es wagen, mit einem winzigen Katheder in das Innenleben des Gehirns vorzudringen. Die Fachleute sind sich bis heute nicht ganz einig geworden: Ist es vernünftig, einer chemischen oder einer mechanischen Auflösung der folgenschweren kleinen Verklumpung den Vorzug zu geben? Es kann nämlich sein, dass sich diese kleine Verklumpung, die eine Gerhirnarterie blockiert, während des mechanischen Behandlungsversuchs mittels Katheder nicht restlos auflöst. Es kann vorkommen, dass sich kleine Teilchen der ursprünglichen Verklumpung lösen und anschließend zu neuen Gefäßverschlüssen führen. So hilfreich die mechanische Lösung im Einzelfall sein kann, das Risiko, dass neue Schäden entstehen, lässt sich bisher nicht ganz ausschließen.
Der Schlaganfall ist also immer noch das Ereignis, das mit der Tragik des Augenblicks den betroffenen Menschen, trotz aller Fortschritte der Medizin, mit einem unsicheren Ausgang konfrontiert. Er ist und bleibt das Ereignis, der als Super-GAU Teile unserer inneren Schaltzentrale lahmlegt. Plötzlich kann sich ein Mensch nicht mehr normal bewegen, plötzlich kann er sich an vieles nicht mehr erinnern und plötzlich kann er nicht mehr sprechen.
Das Ereignis im Gehirn
Mein Freund Bruno, den ich in den ersten Zeilen dieses Buches erwähne, war vor einigen Jahren in den Sog eines derartigen Ereignisses geraten. Ich hatte ihn als lebensfreudigen Menschen in Erinnerung. Er schien von der Sorte Mensch zu sein, die sich von nichts umwerfen lässt. Was immer er anfing, es schien ihm zu gelingen. Sobald etwas schiefging, war Zeit zu warten, bis sich etwas Neues, was schon ein gutes Ende finden würde, am Horizont abzeichnete. Offenbar verfügte er über die Fähigkeit, das Leben als ein immer...