7Einleitung
Sie wissen, daß ich weniger nach Tatsachen suche als vielmehr nach den Spuren des Gangs der Ideen und Empfindungen. Das vor allem ist es, was ich nachzeichnen möchte. […] [D]ie Schwierigkeiten sind immens. Am problematischsten erscheint mir dabei die Mischung der Geschichte im engeren Sinn mit historischer Philosophie. Ich sehe immer noch nicht, wie man beides miteinander verbinden soll (verbunden werden aber müssen sie, könnte man doch sagen, daß erstere die Leinwand ist und letztere die Farbe und daß man beides zugleich braucht, um ein Bild zu malen).
Alexis de Tocqueville
Habt ihr all die anderen Bankrotte vergessen? Was hat das Christentum in den diversen gesellschaftlichen Katastrophen gemacht? Was ist aus dem Liberalismus geworden? Was hat der Konservatismus bewirkt, sei es in seiner aufgeklärten oder in seiner reaktionären Gestalt? […] Wenn wir die ideologischen Bankrotte wirklich ehrlich gegeneinander aufrechnen wollen, dann haben wir uns einiges vorgenommen.
Victor Serge
Die Demokratie hat sich überall dort entwickelt, wo die abstrakte Anziehungskraft des Ideologen und die konkreten Experimente des Praktikers zusammenwirkten.
A.D. Lindsay*
Der Ideenhistoriker Isaiah Berlin bemerkte einmal: »Ich habe fast das ganze 20. Jahrhundert erlebt, ohne persönliche Not zu erleiden, wie ich hinzufügen muß. In meiner Erinnerung ist es nur das schrecklichste Jahrhundert in der Geschichte des Westens.«1 Zugleich war dieses Jahrhundert eines, in dem politische Ideen eine ungewöhnlich wichtige Rolle zu spielen schienen – und zwar in solchem Ausmaß, daß die Zeitgenossen sie unmittelbar mit den Katastrophen und Umwälzungen in Verbindung brachten, die sie durchlebten. Dieser Glaube an den geradezu unermeßlichen Ein8fluß von Ideen fand sich unabhängig von der politischen Ausrichtung. Der polnische Dichter (und Antikommunist) Czes?aw Mi?osz bemerkte einmal: »Erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts ist es den Einwohnern vieler europäischer Länder klargeworden – und meist war es für sie eine sehr bittere Erfahrung –, daß die gelehrten Werke der Philosophen, so unverständlich und absurd sie dem Durchschnittsmenschen auch erscheinen mochten, auf ganz unmittelbare Weise ihr Schicksal bestimmen konnten.«2 Ungefähr zur selben Zeit soll der sowjetische Partei- und Regierungschef Nikita Chruschtschow über den antisowjetischen Aufstand im sozialistischen Ungarn nüchtern festgestellt haben, dies »wäre nie passiert, wenn man rechtzeitig ein paar Schriftsteller erschossen hätte«.3
Folglich wird das 20. Jahrhundert häufig vor allem als ein »Zeitalter der Ideologien« interpretiert. Aus dieser Perspektive erscheinen Ideologien als Formen eines leidenschaftlichen, mitunter auch fanatischen Glaubens an Ideen und Entwürfe zur Perfektionierung der Gesellschaft.4 Die Story geht dann für gewöhnlich so: Um 1917, das Jahr der russischen Revolution, wurden die Europäer mehr oder weniger unbegreiflicherweise von einem ideologischen Fieber erfaßt, einer Krankheit, von der sie erst gegen 1991 durch den Untergang des Sowjetreichs und den offensichtlichen Triumph der liberalen Demokratie über Faschismus und Kommunismus geheilt werden sollten.
Betrachtet man das 20. Jahrhundert jedoch lediglich als eine Zeit irrationaler politischer Extreme oder gar als ein »Zeitalter des Hasses«, dann übersieht man, daß nicht nur Intellektuelle und führende Politiker, sondern auch gewöhnliche Männer und Frauen viele der in den abstrusen Büchern enthaltenen Ideologien (und der mit ihrer Hilfe gerechtfertigten Institutionen) eben auch als plausible Lösungen für ihre Probleme verstanden. Gewiß, Ideologien sollten nicht zuletzt Sinn und sogar Erlösung stiften, so daß es durchaus gerechtfertigt ist, manche von ihnen als »politische Religionen« oder, mit Churchill, als »gottlose Religionen« zu bezeichnen. Viele 9der in ihrem Namen geschaffenen Institutionen jedoch versprachen darüber hinaus wesentlich besser zu funktionieren als die des Liberalismus, der vielen Europäern wie ein hoffnungslos veraltetes Relikt des 19. Jahrhunderts vorkam. Rückblickend erscheint ein Satz wie der, den der faschistische Philosoph Giovanni Gentile 1927 in der amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs schrieb – »Der Faschismus entstand, um gravierende politische Probleme im Italien der Nachkriegszeit zu lösen« –, nicht nur als die abstoßende Verharmlosung, die er auch ist, sondern als Banalität.5 Doch jeder Darstellung, die den Anspruch der Ideologien auf Problemlösung und erfolgreiche Experimente auf institutionellem Feld vollkommen ausblendet, entgeht eine ihrer wesentlichen Dimensionen.6 Wir müssen wieder ein Bewußtsein dafür entwickeln, warum und auf welche Weise Ideologien derart attraktiv sein konnten – ohne damit natürlich irgend etwas entschuldigen zu wollen. Wenige Klischees haben in der Ideengeschichtsschreibung mehr Schaden angerichtet als die Devise tout comprendre, c’est tout pardonner.7
Um ein solches Verständnis zu gewinnen, dürfen wir uns nicht mit den vorliegenden Darstellungen der Entwicklung bedeutender politischer Philosophien des europäischen 20. Jahrhunderts begnügen. Wir sollten uns vielmehr auf das konzentrieren, was sich zwischen dem mehr oder weniger akademischen politischen Denken auf der einen Seite und der Schaffung (und Zerstörung) politischer Institutionen auf der anderen Seite abspielt. Mit einem Wort: Wir müssen jene politischen Theorien erfassen, die politisch folgenreich waren, jene Bereiche des politischen Denkens, in denen, wie es der britische Gelehrte A.D. Lindsay einmal sagte, die Arbeit des abstrakten Ideologen und Experimente in der Praxis zusammenwirken.8
Folglich wird der vorliegende Essay einen bestimmten Typus, den man als »Grenzgänger« bezeichnen könnte, besonders in den Blick nehmen, nämlich philosophierende Staatsmänner, öffentlich wirkende Juristen, Verfassungsberater, das eigentümliche und auf 10den ersten Blick in sich widersprüchliche Phänomen der »Bürokraten mit Visionen«, Philosophen, die politischen Parteien und Bewegungen nahestehen, sowie die »berufsmäßigen Ideenvermittler« oder »second-hand dealers« in Ideengütern, wie Friedrich von Hayek sie einmal nannte.9 Diese Titulierung war keineswegs abschätzig gemeint: In Hayeks Augen waren diese Leute oft bedeutend wichtiger als viele originelle Ideenlieferanten. In einer Zeit, in der die »Massendemokratie« zu voller Blüte kam, bestand tatsächlich ein besonderer Bedarf an solchen Vermittlern. Denn mit der Massendemokratie ging unter anderem die offensichtliche Notwendigkeit massenhafter Rechtfertigung (oder massenhafter Legitimation) einher, wie man dies nennen könnte – die Notwendigkeit also, Herrschafts- und Institutionsformen zu rechtfertigen, aber auch die weniger offensichtliche Entstehung ganz neuer politischer Subjekte, etwa einer ethnisch oder ideologisch »gesäuberten Nation« oder eines Volkes, das sein Vertrauen in eine einzige sozialistische »Avantgardepartei« setzte.10 Nachdem traditionelle Legitimitätsvorstellungen und die Prinzipien dynastischer Abstammung allgemein diskreditiert waren, also spätestens nach dem Ersten Weltkrieg, mußten sich die Rechtfertigungen politischer Herrschaft grundlegend ändern.
Das soll nicht heißen, vor etwa 1919 seien öffentliche Rechtfertigungen politischer Herrschaft nicht nötig gewesen – natürlich waren sie das. Doch mußten sie im 20. Jahrhundert sowohl umfassender als auch expliziter ausfallen. Dies galt sogar dann, wenn die Legitimität im persönlichen Charisma eines Führers gesucht wurde oder wenn sie sich auf eine funktionierende Staatsbürokratie stützte, die die Wünsche der Bürger zu befriedigen verstand: Weder Charisma noch die Bereitstellung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen sprechen für sich oder erklären sich selbst. Besonders offensichtlich war der neue Zwang zu öffentlicher Rechtfertigung sowohl in den rechtsgerichteten Regimen, die im Namen der Tradition zu herrschen versuchten, als auch in den Königsdiktaturen, wie sie vor 11allem in der Zwischenkriegszeit blühten: Tradition und monarchische Legitimität wurden eben nicht mehr als selbstverständlich betrachtet und auch nicht mehr aus reiner Gewohnheit akzeptiert – sie mußten ausbuchstabiert und aktiv beworben werden. Das Erfordernis massenhafter politischer Rechtfertigung war schlechterdings nicht mehr rückgängig zu machen.
Die Menschen, die das 20. Jahrhundert durchlebten, hatten ein waches Bewußtsein dafür, daß mit ihm etwas Neues Einzug gehalten hatte, daß dies ein Zeitalter des zwanghaften Produzierens (und Konsumierens) politischer Glaubenslehren war. Der britische Philosoph Michael Oakeshott stellte in seinem Überblick über die sozialen und politischen Lehren des zeitgenössischen Europa in den 1930er Jahren fest:
Wir leben in einem Zeitalter von Gemeinschaften, die sich ihrer selbst versichern müssen. Noch das primitivste Regime im heutigen Europa, das Regime, das sich eingestandenermaßen am wenigsten einer systematischen, durchdachten Lehre verdankt, nämlich das faschistische in Italien, scheint blasiert genug zu sein, um sich...