2. Die Bildungsexpansion- Ein Rückblick auf die 60er und 70er Jahre
Bevor mit einem kurzen historischen Rückblick die Bildungsexpansion und ihre Folgen dargestellt werden, möchte ich zunächst auf den Wandel von Klassengesellschaft zur Berufsgesellschaft eingehen. Die Klassengesellschaft stabilisierte sich selbst durch ihr Schulsystem. Der statische Charakter der Klassengesellschaft und ihre ständeähnlichen Untergruppierungen besaßen noch weitgehende die von der Ständegesellschaft stammende Grundtendenz: die Heranwachsenden blieben grundsätzlich in der vom Elternhaus vorgegebenen sozialen Schicht. Das Schulsystem war dabei Abbild der vorgegebenen sozialen Schichtung, in der für die Oberschicht die Gelehrtenschule und für die Unterschicht die Volksschule bestimmt war. Die Schulwahl der Eltern für ihre Kinder erfolgte schichtenkongruent. Ein schulisch bedingter Abschied blieb seltene Ausnahmen, denn die Schule deklassierte nicht. Die Kräfte der Bewahrung des sozialen Status waren wesentlich außerschulisch. Damit war die Schule weit mehr von den sozialen Ansprüchen entlastet als heute und konnte sich so mehr auf ihre erzieherischen Ausbildungs- und Bildungsaufgaben konzentrieren. In der nivellierten Berufsgesellschaft hingegen, fand eine relative Nivellierung der Klassen- und Schichtenunterschiede statt. Es war ein Aufstieg der technischen und Verwaltunsberufe als der neue Mittelstand einerseits und ein Abstieg der ehemaligen Oberschichten besonders des Bildungsbürgertums andererseits zu beobachten. Die Nivellierung wurde durch eine starke Vereinheitlichung des kulturellen Lebensstils verursacht, welche zum großen Teil auf die Sozialisierung der ehemaligen Luxus- und Oberschichtsgüter durch die moderne Massenproduktion zurückzuführen war. Die Schaffung einer hohen familienindividuellen Mobilität und eines kleingruppenhaft familiären Egoismus waren zwei der wesentlichsten sozialen Kräfte dieser Gesellschaftsverfassung. Dies erzeugte nicht nur ein starkes Sicherheitsbedürfnis, sondern auch ein universelles Aufstiegsbedürfnis. Das soziale Selbstbewusstsein spiegelte sich am Festhalten an den alten Leitbildern und Prestigestufen der Klassengesellschaft wider. Die Schule steht einer Gesellschaft gegenüber, die weitgehend schichtenunspezifisch und hochmobil ist, und in welcher der soziale Status zum bloßem Einkommensunterschied degradiert wird ( Schelsky 1961: 17) Die Schule wird in diesem Prozess zur ersten und damit entscheidenden zentralen Dirigierungsstelle. Sie rückt in den Rang einer bürokratischen Entscheidungsappparatur und übernimmt die " Rolle einer Art Zuteilungsamtes in einer Sozialchancen- Zwangswirtschaft" ( ebd.: 19) Die soziale Hauptfunktion bestand nunmehr nicht mehr nur in der Auslese von Begabten für höhere Ausbildungen, sondern mindestens ebenso wichtig aber sozial aufdringlicher war die Abweisung vieler als berechtigt empfundenen sozialen Ansprüche.
2.1 Nach dem 2. Weltkrieg
Nach dem Ende des Krieges wurde in Bezug auf das Bildungssystem an die Weimarer Republik angeknüpft. Dies sah eine Trennung von schulischer Bildung und familiärer Erziehung ergänzt um ein begrenztes Angebot vor- und außerschulischer Betreuung vor. Dieses System sollte sich deutlich zum Nationalsozialismus und der neu gegründeten DDR abgrenzen. Legitimationsverstärkend wirkten die neuen akademischen Disziplinen Psychologie, Kinderheilkunde und Soziologie. Zu diesem Zeitpunkt, also noch vor Bildungswende schien der wirtschaftlich- technische Qualifikationsbedarf ungleiche Bildungsziele zu verlangen. Die Schule wurde zur Zuteilungsagentur für Bildungschancen ( Lehnhardt 2002: 7) Die Verschiedenheit der individuellen Begabung wurden nicht gleich behandelt, statt dessen wurden leistungshomogene Klassen durch Selektion erreicht. Man schloss von Leistungen auf Begabungen und diese galten als stabil. Eigenständigkeit musste der Verfügung durch den Lehrer und dessen Überforderung durch eine planmäßige Bildung weichen, da Bildung als eine aktive Aneignung der Kultur gesehen wurde. Es entstanden nicht nur gegensätzliche Interessen zwischen Schülern und Lehrern, sondern die Selektion bedrohte auch das Selbstbild und die Zukunft der Schüler. Hinzu kommt, dass bis in die fünfziger Jahre der Besuch einer weiterführenden Schule nur durch Zahlung von Schulgeld und dem Bestehen von Aufnahmeprüfungen möglich war, so dass im Jahre 1950 der Anteil der Kinder aus der Klasse der un- und angelernten Arbeiter, die ein Gymnasium besuchten, hingegen 37,5% von Beamten- und Angestelltenkindern. Auch die Lernbedingungen variierten stark regional. Helmut Schelsky stellte schon 1957 fest, dass vor allem Schulbildung darüber entscheidet, wie erfolgreich eine Person in ihrem Leben wird: " Die Schule als primäre, entscheidende und nahezu einzige soziale Dirigierungsstelle für Rang, Stellung und Lebenschancen des einzelnen in unserer Gesellschaft: das scheint mir der Kern der sozialen Frage der Schule heute zu sein." ( Schelsky 1957: 18) Es lassen sich jedoch schon drei wichtige Veränderungen im Ausbildungsverhalten von Schülerinnen und Schülern seit den 50er Jahren feststellen. Zum ersten ein dramatischer Wandel im Schulwahlverhalten, der sich bereits an der ersten zentralen Übergangsstelle im Bildungswesen manifestiert: der Volks- und Hauptschulbesuch verminderte sich von 79,3% auf 23,4% im Jahre 1951; der Besuch einer Realschule erhöhte sich von 5,8% auf 25,9% im gleichen Jahr und das Gymnasium von 11,2% auf 28,9% ( HIS Wolter: 10) Aber auch der Anteil anderer Schulformen hat sich erhöht. Dieser Wandel hat wenig mit der tatsächlichen pädagogischen Qualität der einzelnen Schulformen und nichts mit einer zunehmenden Bildungsbeflissenheit der Eltern oder Kinder zu tun, sondern hier spiegelt sich in erster Linie die veränderte soziale Reputation und Akzeptanz der Schulabschlüsse wider. Es wurde eine statusdistributive Funktion von Schulbildung in unserer Gesellschaft festgestellt, in der Verteilungs- und Zuweisungsprozesse an späteren Übergangsstellen, die späteren beruflichen Entwicklungsperspektien und die sozialen Lebens- und Zukunftschancen in erster Linie vom nachgewiesenen Bildungserfolg abhängig sind. Zum zweiten ließ sich seit den 50er Jahren eine innere Entschärfung der gymnasialen Schulkarriere feststellen; sie hatte offenbar den größten Teil ihrer früher gefürchteten Selektivität verloren. Zum dritten wuchs die Anzahl der altersbezogenen Abiturienten und die Studienberechtigungsquote beständig an. Es existierten zwar noch immer starke Unterschiede zwischen den Bundesländern, jedoch waren die Disparitäten nicht allein auf die Schulpolitik zurückzuführen, sondern auch auf eine unterschiedliche Siedlungsstruktur und Schulversorgung. Das Abitur erhielt eine veränderte Bedeutung als Eintrittskarte für Beruf und Leben. Dieser Wandel war Teil eins umfassenderen säkulären Wandels, der sich im Bildungsbewusstsein und -verhalten der Bevölkerung vollzog.
2.2 Die 60er
In der wissenschaftlichen Diskussion wurde der Bedarf an Bildungsreformen vor allem durch G. Picht, R. Dahrendorf und H. Peisert geprägt. Picht diagnostizierte, dass das Bildungssystem im Jahre 1970 funktionsunfähig sein werde, wenn sich an der Bildungskatastrophe nichts ändere, was sich vor allem auf die Wirtschaft auswirken werde. " Bildungsnotstand heißt wirtschaftlicher Notstand. Der bisherige Wirtschaftsaufschwung wird ein rasches Ende nehmen, wenn es uns die qualifizierten Nachwuchskräfte fehlen, ohne die im technischen Zeitalter kein Produktionssystem leisten kann. Wenn die Bildung versagt, ist die ganze Gesellschaft in ihrem Bestand bedroht." ( Picht 1964: 17) Dahrendorf betrachtet das Bildungssystem aus einer gesellschaftspolitischen Dimension: " Die überzeugende Begründung einer aktiven Bildungspolitik kann- so möchte ich behaupten und argumentieren- nur in Anknüpfung an den Gedanken eines Bürgerrechts auf Bildung erfolgen" ( Dahrendorf 1965: 22) Durch eine Reihe von Institutionellen Veränderungen, wie die endgültige Abschaffung des Schulgeldes, die Anhebung der Vollzeitschulpflicht auf neun Jahre, die Ausgleichung des Stadt- Land- Gefälles, die angestrebte Chancengleichheit von Frauen und Männern und einer stärkeren Beteiligung aller Herkunftsgruppen an weiterführenden Bildungsinstitutionen, auch als sog. " Fahrstuhl- Effekt" bezeichnet; allen geht es besser, obwohl die Ungleichheiten weiter existieren. Seit Mitte der Sechziger hat die beginnende Bewegung von Studenten und Jugendlichen zur Folge, dass die als selbstverständlich geltende Hegemonie des autoritär- konservativen Lagers nach der Zeit der sozial- liberalen Koalition in Frage gestellt wurde. Zwar wurde eine " Öffnung des sozialen Raums" proklamiert, d.h. eine Öffnung der Gesamtheit der sozialen, ökonomischen und politischen Chancen und Horizonterweiterungen einschließlich der Bildungsöffnungen. Andererseits gab es neben den Chancenerweiterungen auch Schießungen im Weberschen Sinne: soziale Schließung als Prozess verstanden, durch den soziale Gemeinschaften Vorteile zu maximieren versuche, in dem sie Zugang zu Privilegien und Erfolgschancen auf einen begrenzten Kreis von Auserwählten einschränken. Das führt schließlich dazu, dass bestimmte, äußerlich identifizierbare soziale und physischen Merkmale als Rechtfertigungsgrund für den Ausschluss von Konkurrenten hervorgehoben werden, d.h. eine andere Gruppe oder Schicht als unter der eigenen stehend auszugrenzen. Die bundesdeutsche Erziehungswissenschaft der 60er hoffte hingegen auf ökonomisch- technologische Wandlungsprozesse mit der Aufhebung der volkstümlichen und gymnasial- literarischen Bildung in einer...