Die EU in ihrer jetzigen Gestalt entstand 1993 aus den Europäischen Gemeinschaften (EG), die ihrerseits 1967 aus der vertraglichen Bündelung der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG), der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) hervorging.
Abb. 2: Europäische Verträge
Quelle: http://www.crp-infotec.de (letzter Zugriff: 15.10.2015)
Der Vertrag von Maastricht 1992/1993 ergänzte die EG-Verträge um die Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik sowie in den Bereichen Polizei und Justiz zu einem Drei-Säulen-Modell. Zudem sah er vor, eine Wirtschafts- und Währungsunion stufenweise einzuführen, die die gescheiterten Pläne einer Expertenkommission unter dem luxemburgischen Premierminister Pierre Werner (Werner-Plan) in den 1970er Jahren aufgriff und an die Erfahrungen des Europäischen Währungssystems (EWS) von 1979 anknüpfte. Diese Wirtschafts- und Währungsunion wurde auf der Akteursebene maßgeblich von der deutschen und französischen Regierung befördert – jedoch aus ganz unterschiedlichen Motiven. Beide Staaten verstanden sich zwar als Motoren der europäischen Integration. Aber während Frankreich sich aus der geldpolitischen Dominanz der Bundesbank befreien wollte – dem französischen Staatspräsidenten Francois Mitterand bzw. seinem Berater Jacques Attali wird der Satz zugeschrieben: „Die Macht Deutschlands beruht auf der Wirtschaft, und die D-Mark ist Deutschlands Atombombe“[21] –, hatte die Kohl-Regierung die Absicht, nach der deutschen Wiedervereinigung alle Ängste vor einer mächtigen Wirtschaftsnation zu zerstreuen. Dazu war Bundeskanzler Helmut Kohl bereit, hoheitliche Aufgaben wie die Geldpolitik an eine supranationale Organisation abzutreten, wenn gleichzeitig auch die politische Union, d. h. der europäische Bundesstaat inauguriert würde. Anders als häufig kolportiert, war die Preisgabe der eigenen Währung nach Meinung des Kohlbiographen und Zeithistorikers Hans-Peter Schwarz keineswegs der Preis für die deutsche Einheit, sondern eine freiwillige Vorleistung und Selbstentmachtung, die auch ohne deutsche Einheit gekommen wäre und dem gebrochenen Nationalgefühl der bundesrepublikanischen Eliten entsprach.[22] Die deutsche Wirtschaft unterstützte diesen Eurokurs der politischen Eliten, weil sie sich von einer tendenziell schwächeren Gemeinschaftswährung günstigere Exportbedingungen versprach.
Einig waren sich Deutschland und Frankreich hingegen, dass die dritte Stufe der EWU unumkehrbar sei, sowohl was die Fixierung der Wechselkurse als auch die Möglichkeit des Austritts betreffe.[23] Die deutsche Forderung nach einer politischen Union lief dem nationalstaatlichen Interesse Frankreichs zuwider, sich aus dem Einflussbereich der deutschen Leitwährung zu befreien. In einem geschickten diplomatischen Spiel über Bande mit dem damaligen EG-Kommissionspräsidenten Jacques Delors gelang es Mitterand – beide waren Genossen der Sozialistischen Partei Frankreichs – dem nachgiebigen Kohl, ein Plazet zu einer Währungsunion ohne politische Union abzuringen.[24] Im Gegenzug mussten die Franzosen hinnehmen, dass die Deutschen eine unabhängige Zentralbank nach dem Vorbild der Bundesbank im System der europäischen Notenbanken etablierten und auf Initiative des damaligen Bundesfinanzministers Theo Waigel die Maastricht-Kriterien dauerhaft als sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakt im Vertrag von Amsterdam verankerten.[25] Wieder war es Helmut Kohl, der sich von den Franzosen die angedachte automatische Bestrafung von Defizitsünder abringen ließ. Dennoch ist die stabilitätsorientierte Handschrift im EU-Recht bis heute unverkennbar, mit der die deutsche Regierung die unpopuläre Gemeinschaftswährung dem Volk schmackhaft machen wollte. Als Vorkehrungen für eine stabile Währung flossen Überwachungsmechanismen zur Sicherstellung einer konvergenzorientieren Wirtschafts- (Art. 121 AEUV) und Haushaltspolitik ein (Art. 126). Zudem wurde die EZB auf Preisstabilität verpflichtet (Art. 127), sie sollte weisungsunabhängig sein (Art. 130) und durfte weder Mitgliedsstaaten noch ihre Notenbanken kreditieren oder Staatsanleihen aufkaufen (Art. 123). Noch stärker sollte das Prinzip des Nichtbeistands ungewollten Kostenexternalisierungen von Euroländern vorbeugen. Es schließt die Durchgriffs- und Gemeinschaftshaftung zwischen EU und Mitgliedsstaaten sowie den Mitgliedsstaaten untereinander aus (Art. 125).
Der von Deutschland maßgeblich errichtete vertragliche Schutzwall gegen Inflationstendenzen und Schuldenvergemeinschaftung überlebte den Ernstfall nicht. Im Gegenteil: Bereits im ersten Jahrfünft nach der Jahrtausendwende unterminierte die deutsche Schröder-Regierung das Regelwerk ihrer Amtsvorgängerin, als sie sich mit Frankreich dafür einsetzte, die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes aufzuweichen, um einem Defizitverfahren wegen Nicht-Einhaltung der Maastricht-Kriterien zu entgehen. Für die anderen Euroländer war das eine willkommene Einladung zu einem moralisch riskanten Vabanque-Spiel, weil sich der Spielerfinder selbst nicht mehr an die eigenen Regeln hielt.[26] Finanzkrise und Eurorettung entkernten den Stabilitäts- und Wachstumspakt völlig: Die EZB begann 2007/2008 regelwidrig, Refinanzierungskredite für die Peripherie des Euroraumes auszureichen, 2010 brach sie völlig mit dem Verbot der monetären Staatsfinanzierung und stieg in den Aufkauf von Staatsanleihen ein. Die juristische Argumentation der EZB war spitzfindig; sie stellte darauf ab, dass Art. 123 AEUV nur unmittelbare Staatspapierkäufe verbiete, nicht aber mittelbare.[27] Ähnlich verfuhren die EU-Juristen 2010, um den Bailout der südeuropäischen Schuldenländer zu legitimieren. Art. 136 AEUV wurde um einen Abs. 3 ergänzt, der das Bailout-Verbot nach Art. 125 AEUV relativierte: „Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen“.[28] Die Devise lautete: Not kennt kein Gebot. Sie trat an die Stelle des römischen Rechtsgrundsatzes pacta sunt servanda.
Voraussetzung für die Teilnahme an der Vergemeinschaftung der Geldpolitik sollte die wirtschaftliche Konvergenz der Teilnehmerstaaten sein. Die Volkswirtschaften der Euroländer müssten sich in ihrer Produktionsstruktur, die Wirtschaftssubjekte in ihrer Sparneigung und ihrem Konsumverhalten angleichen, so die Überlegung der Experten, wenn asymmetrische Schocks in Zukunft vermieden werden sollten. Dazu griffen sie auf die Theorie des optimalen Währungsraumes aus dem Jahre 1961 zurück,[29] für die der kanadische Ökonom Robert Mundell 1999 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet wurde. Die Theorie fragt nach der optimalen Größe von Währungsräumen und versucht Kenngrößen für das Gelingen der monetären Integration von Volkswirtschaften zu definieren. Sie geht dabei von Vorteilen wie steigender Transparenz und sinkender Transaktionskosten für gemeinsame Währungsgebiete aus und untersucht, wie die Nachteile des Verzichts auf flexible Wechselkurse und eigenständige Geldpolitik minimiert werden können.[30] Diese Bedingungsanalyse der Theorie des optimalen Währungsraumes stand auch bei der Bildung der Konvergenzkriterien Pate. Letztere hielten Einzug in den Maastrichter Vertrag und sollten das Auswahlraster für die Aufnahme in die EWU sowie das Kontrollraster für die Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes bilden. Demnach kann ein EU-Mitgliedsstaat dann dem Euroraum beitreten, wenn es die kritischen Schwellenwerte der Kriterien nicht überschreitet. Zulässig sind danach nur Überschreitungen bei der
Preisniveaustabilität: max. 1,5 Prozent vom Durchschnitt der drei preisstabilsten Länder
Staatsverschuldung: Neuverschuldung max. 3 Prozent, Gesamtschulden 60 Prozent/BIP
Wechselkursstabilität: max. +/- 15 Prozent (normale Bandbreite) innerhalb von 2 Jahren
Zinsstabilität: max. 2 Prozent über Zinsen der drei preisstabilsten Länder.[31]
Die EU überwacht die Einhaltung dieser Kriterien mithilfe der Konvergenzberichte nach Art. 140 AEUV und des Defizitverfahrens nach Art. 126 AEUV. In der Praxis hat sich vor allem das „Verfahren bei einem übermäßigen Defizit“[32] als besonders relevant herauskristallisiert. Dies sieht vor, dass die Mitgliedsstaaten der EWU „übermäßige öffentliche Defizite“[33] vermeiden und bei Abweichungen von den Referenzwerten den Empfehlungen von Rat und Kommission folgen. Bei Zuwiderhandlungen kann die EU Sanktionen verhängen, etwa dem Defizitsünder Dokumentationspflichten auferlegen, Darlehen der Europäischen Investitionsbank verweigern, Einlagenpfand verlangen oder Geldbußen verhängen.[34]
Die Konvergenzkriterien...