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E-Book

Das Echternach Syndrom 4

Band 4 - Heimerziehung in Luxemburg

AutorRobert Soisson
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl396 Seiten
ISBN9783746083896
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Der Begriff "Echternacher Springprozession" wird im Sinne des "drei Schritte vor, zwei zurück für besonders mühsame Prozesse verwendet, bei denen viele Rückschritte zu verzeichnen sind" (Wikipedia). Adorno bemerkte: "Die Echternacher Springprozession ist nicht der Gang des Weltgeistes" (Minima Moralia, S. 165). Dass es die Luxemburger Politik nicht so sehr mit dem Weltgeist hat und lieber (außer in Geldangelegenheiten) ihre eigenen Wege geht, zeit sie in den Domänen, die in dieser kleinen Buchreihe thematisiert werden. Die Artikel in diesen Büchern wurden in den Jahren 1980-2010 geschrieben und sind doch noch immer aktuell, eben weil die Fortschritte in den Bereichen Schule, Heimerziehung, Familie, Medienerziehung und Umsetzung der Kinderrechte so langsam sind. In diesem Band enthalten sind Artikel, die im Bulletin der ANCE (Association Nationale des Communautés Éducatives), in der Zeitschrift "forum" sowie in anderen internationalen Publikationen erschienen sind. Ausführlich werden die Kongresse zum Thema Heimerziehung, die hier in Luxemburg organisiert wurden beschrieben. Ein Schwerpunkt liegt auf den Alternativen zur traditionellen Form der Heimunterbringung. Aufgelockert werden die Texte durch zahlreiche Zeichnungen des Autors.

Robert Soisson wurde 1950 in Luxemburg geboren. Nach seinem Abitur studierte er Psychologie in Heidelberg. Als Diplompsychologe arbeitete er bis zu seiner Pensionierung in schulpsychologischen Diensten und als Berater in verschiedenen Einrichtungen für erzieherische Hilfen. 30 Jahre lang arbeitete er als Leiter des schulpsychologischen Dienstes der Stadt Esch-sur-Alzette. Robert Soisson war aber auch in zahlreichen nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen aktiv, wo er sich für die Umsetzung der Internationalen Konvention über die Rechte des Kindes, die Verbesserung der Betreuung von sozial, geistig und körperlich behinderten Kindern einsetzte. Robert Soisson ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern.

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Leseprobe

Einleitung


Als ich 1975 als frischgebackener Diplompsychologe von der Uni Heidelberg – zu der ich heute noch einen lebhaften Kontakt unterhalte (siehe www.halu.uni-hd.de/lu) – musste ich zunächst jobben bevor ich 1977 als Psychologe im Service Médico-Psycho-Pédagogique (SMPP) in Esch-sur-Alzette angestellt wurde. In der Zwischenzeit arbeitete ich im Service de Psychologie et d’Orientation Scolaire (SPOS) im Lycée Classique Echternach und im Lycée Technique Grevenmacher.

Es war die Zeit der sozialliberalen Koalition und der Reformversuche in vielen Bereichen der Gesellschaft und besonders auch im Schulwesen. Unter dem Impuls von Minister Robert Krieps und seinem Staatssekretär Guy Linster wurden Reformen in die Wege geleitet, die leider allesamt nach dem Regierungswechsel von dem CSV-Erziehungsminister Fernand Boden wieder abgeschafft wurden (Schulferienreglung, Tronc Commun, INIOS usw.).

Gleichzeitig wurden unter dem Impuls von Familienminister Benny Berg Reformen im Bereich der Heimerziehung (heute würde man sagen: außerfamiliären Erziehungshilfen) eingeleitet, die auch nach dem Regierungswechsel weitergeführt werden konnten, wahrscheinlich, weil die von der katholischen Kirche und ihrer Ablegerorganisationen betriebenen Kinderheime substanzielle finanzielle Unterstützung erhielten und ihr Einfluss nicht angetastet wurde. So kam es, dass ich Mitglied der “Équipe Médico-Psycho-Pédagogique et Sociale” des Foyer Ste. Claire in Echternach und des Foyer St. Joseph in Luxemburg wurde und dort für einen Hungerlohn die Verantwortlichen beraten durfte. Das lief in der Regel gut, bis ein Erzieher – der einen guten Kontakt zu den Jugendlichen hatte – den Leiter des „Foyer St. Joseph“ der Pädophilie überführte. Der Mann wurde entlassen, beging später Selbstmord aber der Skandal wurde von der Trägergesellschaft unter den Teppich gekehrt.

Spätestens dann sah ich ein, dass die MPPS-Teams der Kinderheime auf einem wackeligen juristischen Boden arbeiteten. Die Heimleitungen wehrten sich am Anfang sehr stark gegen diese “staatliche Einmischung” in ihre Angelegenheiten. Als sie sich mit der Zeit von der Harmlosigkeit der neuen Eindringlinge überzeugen konnten erlahmte der Widerstand.

Minister Krieps wollte den SPOS in den Sekundarschulen ein Statut verschaffen, indem er sie im Rahmen des Tronc-Commun Gesetzes fest in den Schulen einzugliedern versuchte. Daraus wurde wie schon gesagt nichts, aber auch im Heimbereich kam es nie zu einer rechtlichen Absicherung der Aufgaben, Kompetenzen und Arbeitsbedingungen der MPPS-Teams. Trotzdem arbeitete ich gerne – und das noch viele Jahre lang – mit den sympathischen Schwestern des Foyer Ste. Claire zusammen bevor ich nach Esch-sur-Alzette wechselte.

Die Stadt Esch war in den Nachkriegsjahren bekannt für eine fortschrittlich-innovative Politik in allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Nörgler würden heute behaupten, das sei wegen der sprudelnden Geldquellen der Stahlindustrie gewesen, aber allein daran kann es nicht gelegen haben. Unter anderem hatte sie das Schloss Sanem gekauft und dort ein Kinderheim eingerichtet. Nach dem Krieg mit seinen Zerstörungen und Abermillionen Toten sollte eine neue Welt für die Kinder und vor allem die Kriegswaisen entstehen. In vielen Ländern entstanden riesige Kinderheime, die oft als selbstverwaltete Kinderrepubliken im Sinne Korczaks und Makarenkos funktionierten. In Esch war es der Resistenzler und Sekretär der Schulkommission Edouard Babel, der einer der Förderer dieses Gedankens war. Das „Kannerschlass“ war in der Anfangszeit ein fortschrittliches Modell der außerfamiliären Kinderbetreuung dadurch, dass „familienähnliche“ Strukturen gefördert und Frauen als professionelle „Mütter“ sich in den Kindergruppen abwechselten. Das funktionierte mehr schlecht als recht und eine meiner ersten Aufgaben in Esch war, im Kannerschlass nach dem Rechten zu schauen. Nachträglich muss ich sagen, dass ich da recht wenig ausrichten konnte. Ich setzte mich dafür ein, dass Esch eine Konvention mit dem Familienministerium eingehen und damit die Kontrolle über das Heim abgeben sollte. Das wurde aber – wie so oft in Esch – abgelehnt, weil die Arbeitsplätze im Kannerschlass dann nicht mehr von den Mätressen und Freundinnen der Lokalpolitiker besetzt werden konnten. Es wurde sogar ein Ad-hoc Verwaltungsrat mit Vertretern des Familienministeriums eingesetzt, um die steigenden Kosten abzumildern. Als dann der langjährige Direktor seine Pensionsrechte geltend machte wurde der Posten öffentlich - auch ein Novum für Esch – ausgeschrieben. Ich meldete mich, konnte den Posten aber nicht annehmen, da mir der Bürgermeister ein Jahr unbezahlten Urlaubs verweigerte. Ich hätte dann nämlich, ganz im Sinne von Nicolas Sarkozy „travailler plus pour gagner moins“. Das passte nicht in unser Familienbudget mit 2 Kindern und einem neuen Haus.

Der zweite Grund, weshalb ich mit zeitlebens mit Heimerziehung beschäftigte war aber der, dass der Leiter des schulpsychologischen Dienstes der Stadt Esch, der Lehrer Jules Grandgenet mich dazu überredete, Gründungsmitglied der Association Nationale des Communautés Éducatives (ANCE) zu werden. Der oben schon erwähnte Edouard Babel war seit Beginn der 50er Jahre Schatzmeister der 1948 im Pestalozzi-Kinderdorf in der Schweiz gegründeten Fédération Internationale des Communautés Éducatives (FICE). Die FICE verstand sich im Anfang als ein Verband der nach dem Krieg überall entstandenen Kinderdörfer für Kriegswaisen, ging aber schon bald dazu über, Nationalsektionen zu gründen. In Luxemburg dauerte das bis 1978, obschon Ed Barbel und Herr Stoffel, der Präsident der Ligue HMC regelmäßig an den Versammlungen der FICE teilnahmen. 1978 ergriff dann Emile Hemmen, Direktor des Centre de Réadaptation in Capellen, die Initiative, eine luxemburgische Sektion zu gründen. Die Begeisterung war groß, und über 60 Personen, die fast alle auch Organisationen des Behinderten-und Heimbereichs repräsentierten fanden sich zur Gründungsversammlung im „Commerce“ auf der Place d’Armes ein.

Die FICE war schon damals ein heterogener Verein, und nicht alle „National“ sektionen hatten die gleichen Zielsetzungen. Die ANCE orientierte sich am Vorbild der französischen3 und der belgischen Sektionen, die auch den gleichen Namen trugen. Wie bei vielen Organisationen stellte sich bei der ANCE der sogenannte „Badewanneneffekt“ ein: Nach anfänglicher Begeisterung flacht das Engagement ab und wenn es gut geht, brodelt es auf kleiner Flamme weiter. Das war bei der ANCE der Fall und 2018 wird sie wohl ihr 50. Jubiläum feiern können.

3 Die französische Nationalsektion wurde vor mehr als 10 Jahren aufgelöst in der Folge von einem Finanzskandal und den sich daraus ergebenden finanziellen Schwierigkeiten.

Nachdem Emile Hemmen als Präsident abdankte, wurde ich zu seinem Nachfolger gewählt und blieb es über 30 Jahre lang.

4 Dieses Plakat entwarf ich für die äußerst erfolgreiche „Quinzaine de l’Enfant“, welche die ANCE im Mai 1979 organisierte.

Nachdem einige Mitglieder abgesprungen waren und ihre eigenen Organisationen gründeten (ALPAPS, SIPO usw.) blieb die Mitgliederzahl über die Jahre hin jedoch konstant und setzte sich vor allem zusammen aus den Heimen und den Behindertenorganisationen. Entsprechend zweigleisig war dann auch die Politik der ANCE, wobei die Sorge um schulische und soziale Integration aller benachteiligten Kinder der gemeinsame Nenner war. Den Zusammenhalt förderte auch unser Bulletin, das mehr oder weniger regelmäßig erschien und dessen Redaktion ich meistens ganz allen bestreiten musste. Doch das ist eine andere Geschichte…

Am Anfang wollten wir jedes Jahr einen „Nationalkongress“ organisieren, der jedoch nach dem 3. Anlauf mangels Interesse friedlich einschlief. Bezeichnenderweise hatte der 2. Nationalkongress als Thema: „Praktische Probleme in der Heimerziehung“ und steht in diesem Buch als erster Beitrag. Im ANCE-Bulletin erschienen jedoch regelmäßig Beiträge zu erzieherischen Fragen im Umgang mit Heimkindern oder Behinderten.

1985 wurde von der UNO zum internationalen Jahr der Jugend erklärt. Das hatten die Verantwortlichen der FICE irgendwie verschlafen und so bot sich die kleine Luxemburger Sektion an, in aller Eile einen Kongress zum Thema „Probleme von Kindern und Jugendlichen in der Heimerziehung in Europa“. Durch die guten Kontakte unserer „Sonnenberg“-Mitglieder zu der Luxemburgischen Vertretung der EU gelang es uns, den Kongress im Jean-Monnet Gebäude zu organisieren und die EU stellte großzügig Räumlichkeiten, Übersetzer, ein Sekretariat, die Kantine, ein Abendessen für die Teilnehmer sowie sämtliche kleinen Annehmlichkeiten wie Tee, Kaffee und Kuchen. Die Teilnehmer waren begeistert und das Ansehen der Luxemburger Sektion wuchs beträchtlich, besonders bei der einflussreichen IGfH (FICE-Sektion Deutschland). In einem Buch, herausgegeben vom...

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