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Das Einmaleins der Skepsis

Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken

AutorGerd Gigerenzer
VerlagBerlin Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl416 Seiten
ISBN9783827077929
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Das provokative Buch eines der renommiertesten deutschen Psychologen ermutigt zur Skepsis gegenüber vermeintlich absoluten Wahrheiten. »Mit seiner Studie über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken hat Gerd Gigerenzer geradezu ein Manual für die Risikogesellschaft vorgelegt, nach dessen Lektüre man statistischen Aussagen nicht einfach mit Misstrauen, sondern mit der richtigen Art von Nachfragen begegnen wird.« FAZ

Gerd Gigerenzer, geboren 1947, ist einer der renommiertesten deutschen Psychologen. Nach Lehrtätigkeiten in Konstanz, Salzburg und Chicago ist er heute Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. »Das Einmaleins der Skepsis« wurde ausgezeichnet als Wissenschaftsbuch des Jahres 2002.

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Leseprobe

Sapere aude! Habe Mut,
dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

Immanuel Kant

2. DIE ILLUSION DER GEWISSHEIT


Gewissheit zu erlangen, ist offenbar ein grundlegendes Bestreben des menschlichen Geistes.[1] Unsere visuelle Wahrnehmung spiegelt diese Tendenz wider. Ohne dass wir uns dessen bewusst sind, erzeugt unsere Wahrnehmung aus Ungewissheit automatisch Gewissheit. Das zeigen beispielhaft Täuschungen und Zweideutigkeiten im räumlichen Sehen. Beim so genannten Necker-Würfel (Abbildung 2.1) legen die zweidimensionalen Linien der Zeichnung nicht fest, ob eine Fläche des Würfels aus der Zeichenebene nach vorn oder nach hinten herausragt. Wenn Sie die Zeichnung betrachten, nehmen Sie aber keine Zweideutigkeit wahr: Sie sehen entweder den einen oder den anderen Würfel. Nach einigen Sekunden (oder wenn Sie die Zeichnung umdrehen) bemerken Sie plötzlich ein Umkippen der Gestalt – das bedeutet, Sie sehen nun den anderen Würfel, aber wiederum eindeutig.

Abbildung 2.1: Der Necker-Würfel. Wenn man die Abbildung fixiert oder sie umdreht, kann der räumliche Eindruck zwischen zwei Würfeln »umkippen«; der eine Würfel ragt aus der Zeichenebene nach vorn heraus, der andere nach hinten.

Bei Roger Shepards zwei Tischen (Abbildung 2.2) wird eine Täuschung über die räumliche Tiefe provoziert. Diese Abbildung zeigt, wie unsere Wahrnehmung aus recht unsicheren Hinweisen ein einziges, eindeutiges Bild erzeugt. Vermutlich halten Sie den linken Tisch für länglicher als den rechten. Tatsächlich haben beide Tischplatten aber nicht nur genau die gleiche Fläche, sondern auch dieselbe Form. Das können Sie überprüfen, indem Sie auf einem dünnen Blatt Papier einen der beiden Umrisse durchzeichnen und auf die andere Zeichnung legen. Ich zeigte diese beiden Tische einmal bei einem Vortrag vor Ärzten, die ich dazu bringen wollte, das Gefühl von Gewissheit (»oft falsch, aber niemals im Zweifel«) zu hinterfragen. Einer der Zuhörer bestritt rundheraus, dass die Flächen gleich seien. Ich fragte ihn, um wie viel er wetten wolle, und er bot 250 Euro. Am Ende meines Vortrags war er allerdings verschwunden.

Abbildung 2.2: Die gedrehten Tische. Die beiden Tischplatten sind in Größe und Form völlig gleich. Diese Täuschung wurde von Roger Shepard im Jahr 1990 gezeichnet (siehe Shepard, 1992). Mit freundlicher Genehmigung von W. H. Freeman and Company.

Was geht in unserem Gehirn beim Betrachten einer solchen Zeichnung vor sich? Wenn irgend möglich, konstruiert die menschliche Wahrnehmung aus unvollständigen Informationen – hier aus einer zweidimensionalen Zeichnung – unbewusst dreidimensionale Gegenstände. Betrachten wir noch einmal die Längskanten der beiden Tischplatten. Deren Abbildungen oder Projektionen auf der Netzhaut haben, wie wir ja nun wissen, die gleiche Länge. Die in der Perspektive der Zeichnungen enthaltenen Hinweise deuten jedoch darauf hin, dass die längere Kante der linken Tischplatte sich nach hinten erstreckt, die der rechten Tischplatte aber nicht (für die kürzeren Kanten gilt das Umgekehrte). Unser Wahrnehmungssystem nimmt offensichtlich an, dass eine Linie, die sich in die Tiefe erstreckt, in der dreidimensionalen Wirklichkeit länger ist als eine gleich lange Linie, die sich nicht in die Tiefe erstreckt – und korrigiert das, was wir sehen, entsprechend. Und genau das führt dazu, dass der linke Tisch länglicher und schmaler erscheint.

Wir müssen aber bedenken, dass nicht unser Sinnesorgan, sondern unsere bewusste Erfahrung einer trügerischen Gewissheit zum Opfer fällt. Das Sinnesorgan nimmt unvollständige und zweideutige Informationen auf, die im Gehirn analysiert werden, und dieses »verkauft« unserem Bewusstsein seine wahrscheinlichste Vermutung als definitives Ergebnis. Schlussfolgerungen hinsichtlich räumlicher Tiefe, Länge und Ausrichtung werden von neuronalen Mechanismen sozusagen automatisch geliefert. Das bedeutet, dass auch die Einsicht in das Zustandekommen der Illusion diese praktisch nicht außer Kraft setzen kann. Schauen wir noch einmal auf die Zeichnung: Immer noch scheinen beide Tischplatten unterschiedliche Formen zu haben. Auch wenn man versteht, was geschieht, gibt das Unbewusste weiterhin die gleiche Wahrnehmung an den bewussten Verstand weiter. Hermann von Helmholtz, einer der bedeutendsten Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, prägte den Begriff der »unbewussten Schlussfolgerung«, um auszudrücken, dass die Wahrnehmung sozusagen mit Folgerungen und Vermutungen arbeitet.[2] Die Illusion der Gewissheit wird schon bei unseren elementarsten Erfahrungen mit der Wahrnehmung von Flächen und Formen offensichtlich. Die direkte Erfahrung ist jedoch nicht die einzige Art von Überzeugung, bei der Gewissheit »künstlich« erzeugt wird.

TECHNIK UND GEWISSHEIT

Das Identifizieren von Personen mit Hilfe von Fingerabdrücken ist ein allgemein anerkanntes Verfahren. Der Fingerabdruck eines Menschen ist ein eindeutiges Merkmal, das von der frühen Jugend bis ins hohe Alter hinein unverändert bleibt. Sogar eineiige Zwillinge haben unterschiedliche Fingerabdrücke, obwohl ihre Gene die gleichen sind. Wenn die Fingerabdrücke eines Verdächtigen mit den am Tatort gefundenen übereinstimmen, welches Gericht würde ihn dann freisprechen? Der Fingerabdruckbeweis scheint völlig sicher zu sein – ist er also die große Ausnahme von Franklins Gesetz?

Die Verwendung von Fingerabdrücken erhielt durch die Arbeiten von Francis Galton (1822–1911) eine wissenschaftliche Grundlage, einem englischen Wissenschaftler, der übrigens ein Cousin von Charles Darwin war. Galton untersuchte die zahlreichen Bögen, Wirbel und Schleifen, aus denen Fingerabdrücke zusammengesetzt sind, und schätzte die Wahrscheinlichkeit, dass die Fingerabdrücke zweier Personen zufällig gleich sind, auf 1 zu 64 Milliarden.[3] Galton betrachtete jedoch nicht den gesamten Fingerabdruck, sondern konzentrierte sich auf so genannte Ähnlichkeitspunkte, an denen die Hautleisten entweder enden oder sich aufspalten. Seine Schätzung der Wahrscheinlichkeit gleicher Fingerabdrücke gründete sich auf die Gesamtheit dieser gewöhnlich 35 bis 50 Punkte. Heute dagegen gilt in Deutschland die Gleichheit zweier Fingerabdrücke als erwiesen, wenn sie in zwölf solchen entscheidenden Merkmalen übereinstimmen, aber diese Praxis ist uneinheitlich. In England beispielsweise versucht man eine andere Methode: Hier bewertet ein Experte die Abdrücke in ihrer Gesamtheit, statt die übereinstimmenden Ähnlichkeitspunkte zu zählen. Dieses Vorgehen lässt die Entscheidung subjektiv erscheinen. Jedoch wurde noch für keines der beiden Verfahren die Beweiskraft wissenschaftlich untersucht. Fingerabdruck-Experten können ihre Schlüsse bislang kaum auf irgendwelche Statistiken stützen.

Wenn an einem Tatort Fingerabdrücke gefunden werden, können zwei Schwierigkeiten auftreten: Fingerabdrücke sind normalerweise unvollständig – und sie sind »latent«. Anhand unvollständiger Fingerabdrücke kann man natürlich nur Teile der Abdrücke vergleichen. In diesem Fall sind die statistische Analyse nach Galton und ihre modernen Verfeinerungen nicht sehr hilfreich. Die zweite Komplikation besteht darin, dass die meisten Fingerabdrücke am Tatort »verborgen« sind und zuerst mit Hilfe von aufgepinseltem Pulver, von bestimmten Chemikalien oder durch Beleuchtung mit UV-Licht sichtbar gemacht werden müssen. Wie zuverlässig ist das Verfahren, solche »gefilterten« Beweismittel mit sauberen Fingerabdrücken des Verdächtigen zu vergleichen, die unter kontrollierten Bedingungen abgenommen wurden? Angesichts dieser Unsicherheiten und der Unterschiede in den Vorgehensweisen kann man durchaus fragen, wie sicher das Beweismittel Fingerabdruck wirklich ist. Die Antwort lautet, dass wir das nicht wissen; es scheint auch keine aussagekräftigen wissenschaftlichen Studien darüber zu geben.

Vor kurzem führte das FBI erstmals einen Test durch, bei dem die Zuverlässigkeit des Fingerabdruckbeweises geklärt werden sollte. Ein Verdächtiger namens Byron Mitchell war verurteilt worden, weil er 1991 in Pennsylvania angeblich das Fluchtauto bei einem Banküberfall gefahren hatte. 1998 legte er Berufung gegen das Urteil ein. Dieses gründete sich darauf, dass man zwei latente Fingerabdrücke von ihm gefunden hatte – einen auf dem Lenkrad und den anderen auf dem Schalthebel des Wagens. Das FBI wollte nun überprüfen, wie sicher die ermittelte Übereinstimmung der Fingerabdrücke war. Man schickte also die aus den latenten Abdrücken gewonnenen Fingerabdrücke zusammen mit Mitchells normal abgenommenen Abdrücken an 53 verschiedene Labors von Polizeibehörden. Von den 35 Labors, die die Anfrage beantworteten, fanden acht bei dem einen Abdruck und sechs bei dem anderen Abdruck keine Übereinstimmung. Das bedeutet: Bei durchschnittlich einem von fünf Vergleichen wurde keine Übereinstimmung gefunden. Dieses beunruhigende Ergebnis lässt erhebliche Zweifel an der Zuverlässigkeit des Fingerabdruckbeweises aufkommen. Das National Institute of Justice der USA bewilligte schließlich Mittel zur eingehenden Untersuchung der Frage, wie sicher dieses Beweisverfahren wirklich ist.[4]

Seit über einem Jahrhundert gilt der Fingerabdruckbeweis als sicher, wobei man stets Galtons Abschätzung folgte. Er war bei seiner Berechnung allerdings von idealen Bedingungen ausgegangen, die in der Realität kaum jemals vorliegen, wenn unvollständige und latente Abdrücke ausgewertet werden. In jüngerer Zeit wurde – fast hundert Jahre nach der bahnbrechenden Arbeit von Galton – der genetische...

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