Fluss ohne Brücken
»Wir erreichten gegen Morgen wieder eine Stadt. Demmin.«
Ganz am Ende der schnurgeraden Allee löste sich der Umriss eines mächtigen Kirchturms aus der Dämmerung. Die Fluchtlinien der Chaussee und das Spalier der Ahornbäume lenkten den Blick auf die Turmspitze, die sich nadelfein in die Höhe reckte. Ein Scherenschnitt vor zartrosa Himmel, wie mit dem Rasiermesser in Seidenpapier geritzt. Schlank und wuchtig, filigran und fest zugleich. Zum ersten Mal fanden Irene Brökers Augen Halt in der Gleichförmigkeit des Tieflandes. Sie musste nur weiter direkt darauf zusteuern.
Irene Bröker war 23 Jahre alt, stammte aus Stettin und war mit ihrer Familie auf der Flucht. Von der Familie war jetzt, Ende April 1945, nicht mehr viel übrig. Ihr Mann Werner-Walter galt seit letztem Herbst als vermisst. Ihre Eltern, den Schwiegervater und die Schwägerin hatte sie am Tag zuvor in Anklam, einem der vorüberziehenden Durchgangsorte, nach einem Fliegerangriff aus den Augen verloren. Der Kutschwagen der Eltern war mit gebrochenem Rad liegen geblieben, während sie mit dem Auto im dichten Strom der Fahrzeuge, Menschen und Pferde einfach aus dem Ort hinausgeschoben wurde. Sie hatte ihre Verwandten danach nicht wiederfinden können. Nur Holger war jetzt noch bei ihr. Ihr kleiner Sohn Holger, zwei Jahre alt. Ihn durfte sie nun nicht mehr aus ihrer Nähe lassen.
Aber ganz alleine waren die beiden nicht, denn in Löcknitz, ein paar Kilometer westlich von Stettin, hatten sich ihnen ein älterer Arzt und dessen Frau angeschlossen. Wie viele Frauen, hinter denen ein bis dahin geordnetes Leben gelegen hatte, entwickelte Irene Bröker in dieser Lage eine erstaunliche Überlebensklugheit. Dazu gehörte, ihre Gefühle bis auf das Nötigste einzufrieren. Außerdem die Fähigkeit, in fremden Menschen den Verbündeten zu finden. Dr. P., wie Irene Bröker den Arzt in ihren Aufzeichnungen nennt, wurde für sie die wichtigste Stütze in den Tagen, die ihnen bevorstanden. Sogar für den Moment, in dem sie das Überleben vielleicht gar nicht mehr wünschen würde, hatte sie Vorsorge getroffen. An einer Schnur um den Hals trug Irene Bröker ein wasserdichtes Beutelchen bei sich.
Gegen Morgen kamen sie also nach Demmin. Für sie nur ein weiterer gleichgültiger Name auf dem Fluchtweg. Die Stadt um den ziegelroten Kirchturm, der die Landschaft weitum dominierte, barg für Irene Bröker keine Erinnerungen und keine Bedeutung. Das Ziel ihres Marsches lag irgendwo weit im Westen, dort, wo die russischen Soldaten nicht hinkämen.
Die Schrecken der Wintertrecks, der Kampf gegen den Schneesturm auf eisglatten Wegen, die Frostnächte lagen weit zurück. Strahlendes Frühlingswetter beherrschte die zweite Aprilhälfte und versetzte die Natur in Vorpommern in einen unwiderstehlichen Aufbruch. Junges Grün stand auf den Wiesen und in den Bäumen, auf warme Tage folgten mildkühle Nächte. Regen fiel nur noch vereinzelt. Zusammen mit vielen anderen waren Irene Bröker und das Ärztepaar die Nacht über stockend vorangekommen. Als sie am Morgen mit ihrem Wagen den östlichen Rand von Demmin erreichten, waren sie mit ihren Kräften am Ende.
In einem Sandweg blieben wir dann stecken und mußten einige Gepäckstücke liegen lassen, um weiter zu kommen. Viele, viele Werte lagen schon an den Straßenrändern und Wiesen. Wir blieben in Demmin am Stadtrand in einer größeren Villa neben dem Friedhof. Die Bewohner des Hauses waren in der Nacht auf die Fluchtstraße gegangen. Wir konnten vor Erschöpfung nicht mehr weiter und gönnten uns eine Nacht zum Ausruhen.
Hinter ihr lagen durchwachte Nächte, unterbrochen nur von gelegentlichem Sekundenschlaf in der Kühle am Wegrand, wenn der Treck gerade stockte. Sie hatte darüber jedes Zeitgefühl verloren. Sie sehnte sich nach einem Ort zum Ausruhen. Die Station Demmin sollte nicht mehr sein als ein Innehalten zum Verschnaufen. Aber der Ort war ein Nadelöhr. Drei Flüsse lagen auf dem Weg nach Westen.
Ein paar hundert Meter weiter, in der Reit- und Fahrschule des Wehrkreises II Stettin, ehedem eine preußische Kavallerie-Kaserne, hatte die Einheit des Wehrmachtssoldaten Gustav Adolf Skibbe Quartier bezogen. Er war spät in diesen Krieg geraten. Skibbe war vor 53 Jahren im westpreußischen Elbing auf die Welt gekommen. Wenn der Volkssturm der alten Männer und Hitlerjungen das letzte Aufgebot war, dann zählte er im besten Fall zum vorletzten. Bis vor wenigen Monaten hatte er hoffen können, den Krieg bei seiner Familie zu überstehen. Doch das Sieb, mit dem die Armee im Zuge der totalen Mobilmachung die zivile Bevölkerung nach Lückenfüllern durchkämmte, wurde immer engmaschiger, bis auch Skibbe darin hängen blieb. Im Dezember 1944 rückte er ein, knapp zwei Monate darauf ging seine Geburtsstadt Elbing in einem verbissenen Endgefecht unter. Die folgenden Wochen verbrachte er jenseits von jedem Kampfgeschehen meist rund um Berlin und, seit dem 14. März, in Demmin. Der Krieg bestand für ihn in dieser Phase aus Warten, Schleppen und Herumstehen auf zugigen Bahnsteigen: »Elende Nacht, wehe Füße«, er spürte sein Alter und seine Knochen, »gottseidank bekam ich in Oranienburg Einlagen«.
In seinem Kriegstagebuch, einer schmalen Kladde, notierte Skibbe in knappen Stichworten seine Etappen, sein körperliches Befinden und, bei seltenen Anlässen, seine Gefühlsverfassung. Die große Kriegslage würdigte er mit kaum einer Zeile. Noch weniger die Politik. Seine Familie hatte er vier Wochen zuvor zum letzten Mal gesehen.
In Demmin richtete sich seine Einheit in der früheren Ulanenkaserne in der Jarmener Straße ein. Hier bekam er viel zu tun. Seinen Andeutungen zufolge ging es dabei um das Warten und Reparieren von Maschinen. Ihm entging nicht die nervöse, ahnungsvolle Stimmung, die die Menschen in der Stadt, Bewohner wie Flüchtlinge, in diesen Tagen Mitte März erfasst hatte. Auch nicht ihr wachsendes Misstrauen gegen die Truppe, die sie verteidigen sollte:
Alles drunter + drüber. Strohsäcke mit Holzwollefüllung besorgt, im Hinterzimmer schlafen wir, 3 Mann. Möller, Schink und ich. Sehr primitiv. Bevölkerung wegen der Überfüllung der Stadt sehr zurückhaltend, fast kopflos.
Die Tage verstrichen mit viel Arbeit, »ohne wesentlich bemerkenswertes«. Skibbe konzentrierte sich auf seine Maschinen und genoss ansonsten die schönen Frühlingstage. Im Osten der Stadt hoben Frauen und Schüler kilometerlange steile Panzergräben aus und errichteten Panzersperren mit Holzpfählen, während zwischen ihnen die nicht mehr abreißenden Flüchtlingstrecks in dichten Trauben in die Stadt drängten. Die Rote Armee, die ihren Vorstoß nach Vorpommern begonnen hatte, trieb sie wie eine Bugwelle vor sich her.
Marie Dabs, gebürtige Demminerin, Tochter eines Schiffskapitäns und Ehefrau des Pelz- und Herrenartikelhändlers Walter Dabs, kannte sich aus mit Flüchtlingen. In mehreren Wellen waren sie seit Februar durch die Stadt gezogen, einige schlüpften unter bei Verwandten, andere bekamen vom Quartieramt Zimmer oder einen Platz im Massenlager zugewiesen. Die meisten zogen weiter nach Westen, doch an ihre Stelle rückten bald die nächsten. Marie Dabs lebte mit ihren Kindern Nanni und Otto seit der Einberufung ihres Mannes allein in ihrer Wohnung hinter dem Laden in der Luisenstraße. Das Quartieramt wies ihr eine ältere Flüchtlingsdame aus dem Memelland zu, die sich fortwährend beschwerte und die Küche mit Beschlag belegte. »Ihr Braten und Brutzeln, meistens abends, nahm kein Ende.« Sie stellten ihr Ottos Kinderzimmer zur Verfügung, das sie in kurzer Zeit verwohnte. Als die Frau nach einer Weile zusammen mit ihrer Tochter weiter nach Westen zog, besetzten zwei junge Schwestern aus einer anderen Flüchtlingsfamilie Nannis neu eingerichtetes Mädchenzimmer.
Mit ihren 42 Jahren war Marie Dabs von klein auf an ein Leben im bürgerlichen Milieu der kleinen Kreisstadt gewöhnt. Auf einem kunstvoll komponierten Porträtfoto spricht ihr Mienenspiel unter sorgfältig gesteckter Frisur vom Stolz auf ein erfolgreiches Leben. Nun musste sie dieses mit wildfremden Menschen aus dem Osten teilen. Das Schicksal der Geflohenen vor Augen, quälte sich Marie Dabs mit der Frage, was ihnen selbst bevorstand. Mehrmals rang sie sich zu dem Entschluss durch, mit den Kindern die Stadt zu verlassen. Die befreundete Gutsbesitzerfamilie Hansen bei Flensburg drängte sie per Telegramm, doch zu ihnen zu kommen. Die Koffer waren gepackt. Aber Marie Dabs ließ sich durch Behördenvertreter und Offiziere dazu überreden, zu bleiben und ihren Laden nicht zu schließen, denn das Geschäft mit den Militäreffekten und Ordensdekorationen, das sie mit offizieller Genehmigung neben dem Pelzhandel betrieb, erfuhr in diesen Wochen einen außergewöhnlichen Schub. Ein Wehrmachtsgeneral kaufte ihr die ganze Ordenskiste leer, da ihm selbst, wie er erklärte, in den vielen Kämpfen die Orden ausgegangen seien. Marie Dabs konnte spüren, wie nahe ihr die Front rückte.
Sie ließ sich jedoch wiederum beruhigen, als der Polizeioberst von Demmin ihr versprach, im Fall einer Flucht ihre Familie persönlich in Sicherheit zu bringen. Bis dahin jedoch müsse sie im Gegenzug Frau und Kind eines befreundeten SS-Offiziers in ihrer Wohnung unterbringen. An diesen Strohhalm wollte sie sich klammern. Immer noch vertraute Marie Dabs den Amtsträgern des Regimes mehr als ihrer inneren Stimme.
Obgleich sie bei allen Mahlzeiten unsere Gäste waren, gab mir der hohe SS-Offizier keinerlei Rat. Doch die vielen Trecks, die durch unsere Straßen gen Westen zogen und die Schiffe mit Flüchtlingen im Hafen mußten uns ja zu denken geben. Ich hoffte fest auf das Versprechen unseres...