2.Die neuen Herausforderungen
Vor einigen Monaten war ich zu einer Abendgala eingeladen, die im Anschluss an eine große Vortragsveranstaltung zum Thema Digitalisierung in deutschen Unternehmen stattfand. Ich fand mich am Tisch in einer Runde von Vorständen großer deutscher Unternehmen und sogenannter Hidden Champions wieder. Natürlich drehte sich das Gespräch gemäß dem Tagesthema um die Schwierigkeiten der digitalen Transformation in deutschen Unternehmen. Während eifrig Chancen und Risiken erörtert wurden, lauschte mein Tischnachbar gelassen und genoss sein Heilbuttfilet. Er war mir als Vorstand eines großen norddeutschen Bauunternehmens mit mehreren tausend Mitarbeitern vorgestellt worden. Das Geschäft hatte er in der dritten Generation von der Pike auf gelernt, war also ein Kind der Praxis. Als sich zwei weitere Tischnachbarn über die enormen unternehmerischen Risiken der Digitalisierung ausließen, bemerkte ich ein amüsiertes Funkeln in seinen Augen. Da die Stilleren ja oft mehr zu sagen haben als die Vielredner, fragte ich ihn, was seine Meinung sei, ob die Digitalisierung mehr Chancen oder mehr Risiken bringe. Schmunzelnd meinte er, dass die Antwort doch auf der Hand liege. Selbstverständlich biete die Digitalisierung tausendmal mehr Chancen als Risiken. In der Gesprächsrunde war es schlagartig still geworden. Schließlich war dies eine ungewohnte Sichtweise von einem Vertreter einer Branche, die als schwerfällig und konservativ gilt – zu Unrecht, wie ich nicht müde werde zu betonen. Der ältere Herr überlegte kurz und antwortete dann ruhig: »Digitalisierung hat unser Unternehmen höchst profitabel gemacht, und die Mitarbeiter sind begeistert.« Ich wollte mehr wissen und hakte nach, was denn seiner Meinung nach der Schlüssel zum Erfolg sei. Der Bauunternehmer legte den Kopf nachdenklich zur Seite, räusperte sich und erklärte dann: »Das Geheimnis des Erfolgs ist es, sich einerseits darauf zu freuen, dass sich alles ändert, und gleichzeitig zu verstehen, dass die menschliche Natur dennoch gleich bleibt. Die Kunst liegt dann darin, beides zu verbinden.«
Selten habe ich eine so präzise Zusammenfassung dessen gehört, was wir derzeit erleben. Digitalisierung wird nämlich ohne den Menschen nicht funktionieren. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass Digitalisierung es erst möglich macht, dass wir Menschen unsere Stärken so richtig entfalten können, wenn wir die menschliche Natur und die neuen Arbeitsweisen verknüpfen. Das setzt voraus zu verstehen, was sich verändert, sich darauf zu freuen, wenn auch mit einem kritischen Verstand, und damit die Veränderung selbst mitzugestalten.
Nun treten radikale Veränderungen nicht so plötzlich auf, wie es erscheint. Sie schleichen sich erst leise ein mit kleinen Schritten, sodass wir sie kaum bemerken, bis sie dann plötzlich ihre volle Wirkung entfalten und wir fassungslos feststellen, dass die Welt nicht mehr die gleiche ist. Die Anforderungen an Führung und an Führungskräfte haben sich also bereits gewandelt, nur beginnen wir erst langsam die Auswirkungen zu verstehen und noch langsamer darauf zu reagieren. So wird mit alten Methoden aus den sechziger Jahren, die leider bis heute noch in Führungsseminaren und Hochschulen gelehrt werden, versucht, die neuen Herausforderungen zu bewältigen. Kein Wunder, dass Führungskräfte verzweifeln und es in Teams mehr knirscht als je zuvor. Nicht nur die neuen Anforderungen werden missverstanden, sondern auch die menschliche Natur ignoriert. Denn trotz aller neuen Herausforderungen haben wir Menschen uns nämlich wiederum weitaus weniger geändert, als wir meinen. Wir sind heute genauso von Ängsten getrieben, die wir mehr oder weniger erfolgreich versuchen zu kaschieren, wie vor hunderttausend Jahren. Und unser Ego sorgt auch heute noch für amüsante, riskante und wunderliche Kapriolen, wie schon zur Steinzeit. Allenfalls die Impulse, durch die unser Ego gefüttert wird, haben sich verändert.
Einerseits ist also vieles neu, worauf ich in diesem Buch eingehen werde, andererseits stehen die Führungskräfte seit Jahrtausenden vor den gleichen Problemen. Die Sehnsucht nach Führung ist ein Teil unserer menschlichen Natur, eine Rebellion gegen dieselbe ebenso. Hieraus ergibt sich das erste Dilemma. Eine weitere Herausforderung ist eben die Notwendigkeit, Führung den sich verändernden Umständen ebenso anzupassen wie der jeweiligen Person, mit der man es zu tun hat. Die Erwartungen an eine Führungskraft[1] sind so unterschiedlich, wie die Zeiten, Führungskräfte und Menschen es sind. Das macht Führung zugleich wieder so spannend. Die größten Dramen und Erzählungen der Menschheitsgeschichte sind allesamt Führungskonflikte – von Moses’ Auszug aus Ägypten, dem sagenhaften indischen König Arjuna, der sich verzweifelt an Krishna wandte – aus dem sich daraus entspinnenden Dialog ging die Bhagavad Gita, eines der Kernwerke der hinduistischen Religion hervor –, bis hin zu Shakespeares Hamlet, Julius Cäsar, Richard der Dritte, Goethes Faust und Schillers Wilhelm Tell, um nur einige zu nennen. Wenn Sie also einmal an Ihren Fähigkeiten als Führungskraft zweifeln, dann adelt Sie das also, schließlich befinden Sie sich in guter Gesellschaft.
Digitalisierung – Fluch oder Segen?
Was ist aber eigentlich so neu an der Digitalisierung? Computer gibt es schon seit mehreren Jahrzehnten, das Smartphone ist ebenfalls in die Jahre gekommen. Und haben wir nicht schon einmal zum Ende des ausgehenden Jahrtausends einen Internethype mit wundersamen Versprechungen erlebt, bei dem jede Idee, die irgendwie mit .com endete, gleich mit Millionen Dollar gehypt wurde, bis der Crash alles vernichtete? Weder CRM-Systeme noch automatisierte Prozesse oder Roboter sind wirklich neu. Entweder wird gerade nur wieder eine neue Sau durchs Dorf gejagt oder diese Digitalisierungswelle muss doch mehr sein als lediglich die Einführung neuer Softwarelösungen. Da Sie dieses Buch gekauft haben, gehen Sie wahrscheinlich davon aus, dass Digitalisierung eben doch mehr ist. Ich kann Ihnen da nur zustimmen, denn sonst hätte ich wiederum dieses Buch nicht geschrieben.
Am besten starten wir gleich einmal mit einem Blick in die Zukunft, um zu verstehen, was auf uns zukommt – nicht in die ferne Zukunft, sondern wie es schon in wenigen Jahren aussehen kann.
Ein gewöhnlicher Arbeitstag in der nahen Zukunft
7:45 Uhr: Es ist ein Tag wie jeder andere. Sie stehen auf, gönnen sich Ihren Morgenkaffee. Vor einigen Jahren wären Sie selbstverständlich ins Büro gefahren. Das ist aber schon lange anders. Wie jeden Morgen nach dem Aufstehen überlegen Sie auch heute, ob sich ein Abstecher ins Büro lohnt oder Sie lieber von zu Hause arbeiten sollten. Eine Anwesenheitspflicht gibt es schon lange nicht mehr. Was zählt, ist schließlich das Ergebnis. Beides hat seine Vorteile. Zu Hause arbeiten Sie konzentrierter. Andererseits wäre es schön, die Kollegen auch mal wieder »live« zu sehen. Skype und Chats können eben doch nicht den persönlichen Kontakt ersetzen. Wobei Sie sich manchmal insgeheim fragen, wieso Ihnen die menschliche Nähe noch so wichtig ist. Sie rufen die Firmen-App auf Ihrem Smartphone auf. Basierend auf den für heute geplanten Arbeiten der Kollegen und deren aus einem Algorithmus errechneten Arbeitsverhalten sowie der Teamdynamik und den derzeitigen Bewegungsmustern prognostiziert die Software, welche Mitarbeiter heute mit hoher Wahrscheinlichkeit im Büro sein werden. Sie entdecken die Namen einiger Kollegen, die Sie seit Längerem nicht mehr persönlich gesehen haben, obwohl Sie die persönliche Zusammenarbeit mit ihnen schätzen. Es lohnt sich also, mal wieder einen Abstecher ins Büro zu machen. Aber Zeit für einen weiteren Kaffee ist noch.
8:50 Uhr: Der Verkehr ist bei Weitem nicht mehr so stressig wie früher, weil viele auf das Pendeln verzichten. Nur die nervigen automatischen Lieferbots der Versandhäuser belasten die Straßen zunehmend. So rollen Sie bereits nach einer halben Stunde Autofahrt auf den nahezu leeren Firmenparkplatz. Sie betreten das Bürogebäude. Obwohl Sie sich in den letzten Jahren schnell an viele Veränderungen gewöhnen konnten, sind Sie jedes Mal von der Leere in den Gängen überrascht. Ein bisschen wehmütig erinnern Sie sich daran, wie es war, als hier die Leute noch hin- und herrannten und die Räume aus allen Nähten platzten, sodass die Geschäftsleitung plante, in ein größeres Gebäude umzuziehen. Zum Glück hatte sich die Entscheidung hingezogen, schließlich war sie dann von der Realität eingeholt worden. Immer mehr Mitarbeiter wählten Homeoffice-Lösungen, Telearbeiter aus der ganzen Welt übernahmen Arbeitspakete. Die Sorge der Mitarbeiter, dass die Digitalisierung Arbeitsplätze vernichten würde, hatte sich als unbegründet herausgestellt. Heute arbeiten für Ihr Unternehmen mehr Menschen als je zuvor. Ironischerweise war die einzige Reduzierung an Arbeitskräften genau dort erfolgt, wo man es am wenigsten vermutet hatte: in der Geschäftsleitung und im mittleren Management.
9:00 Uhr: Sie haben an einem der vielen freien ergonomisch designten Open-Space-Tische Platz genommen und öffnen das Kommunikationsfeld der Firmen-App. Eine Liste aller Nachrichten, von E-Mails bis zu Chats und Textmessages, erscheint. Neben jeder Nachricht hat das System mithilfe künstlicher Intelligenz (KI) bereits eine vorformulierte Antwort eingeblendet, die es – basierend auf Ihrem Kommunikationsstil, prognostiziertem Arbeitsverhalten und auf den Informationen aus Ihrem Terminkalender – berechnet hat. Im Prinzip könnte das System auch gleich die Antworten versenden, ohne dass Sie...