Einleitung
»Sie machen alles kaputt, es ist unfasslich«, sagte kürzlich eine betagte Nachbarin zu mir, nachdem sie einen Dokumentarfilm mit dem harmlos erscheinenden Titel Sand gesehen hatte. Der Film zeigt, wie der sprichwörtliche Sand am Meer inzwischen knapp wird, weil weltweit Strände, Flussbetten und Meeresgründe abgebaggert werden, um in den Hochhäusern von Dubai oder Shenzhen zu verschwinden. »Gibt es denn gar kein Ende, hören sie denn nie auf?«, fragte sie.
Wir sind augenblicklich Zeugen, wie ein ganzer Planet, der vier Milliarden Jahre für seine Entwicklung brauchte, in einer globalen Wirtschaftsmaschinerie verheizt wird, die Unmengen von Gütern und zugleich Unmengen von Müll produziert, irrsinnigen Reichtum und massenhaftes Elend, permanente Überarbeitung und sinnlosen Leerlauf. Ein Außerirdischer, der uns besuchen würde, könnte dieses System nur für verrückt halten. Und doch entbehrt es nicht einer gewissen Rationalität. Der harte Kern dieser Rationalität besteht in der unendlichen Vermehrung von Zahlenkolonnen auf den Konten einer relativ überschaubaren Zahl von Menschen.1 Diese Zahlenkolonnen länger zu machen scheint letztlich das einzig verbliebene Ziel der globalen Megamaschine zu sein. Die Erde wird für eine endlos wachsende Zahl von Nullen verbrannt.
Im Grunde wissen alle, wie zerstörerisch dieses System agiert, dass es krank ist und krank macht. 80 Prozent der Deutschen wünschen sich laut Umfragen ein anderes Wirtschaftssystem.2 Lange vorbei sind die Zeiten von Fortschrittsbegeisterung und Markteuphorie. Fast alle Menschen, mit denen ich in den letzten zehn Jahren gesprochen habe – ob konservative, linke, öko-bewegte, junge oder alte –, glauben nicht mehr an die Zukunft des Systems, wenn sie ehrlich sind und ihre professionellen Masken ablegen. Doch zugleich herrscht eine beklemmende Ratlosigkeit. Das Räderwerk scheint, obwohl offensichtlich sinnlos und zerstörerisch, nicht zu stoppen. Nach dem Fiasko von jahrzehntelangen Klimaverhandlungen, die mehr CO₂ verbraucht als eingespart haben, ergebnislosen Welthungerkonferenzen und bestenfalls kosmetischen Reparaturen an einem gemeingefährlichen Weltfinanzsystem erwartet heute kaum noch jemand ernsthaft, dass von Regierungen eine globale Trendwende zu erwarten ist. Obwohl das Wissen über die verhängnisvollen Folgen eines Weiter-so mit jedem Tag wächst, halten die Kapitäne der Großen Maschine unbeirrt Kurs in Richtung einer todsicheren Havarie.
Das ist umso seltsamer, als es nicht, wie oft behauptet wird, an Alternativen fehlt. Fast jeder Bereich unserer Gesellschaft und Wirtschaft ließe sich vollkommen anders organisieren: In wenigen Jahren etwa könnte die gesamte Landwirtschaft der Erde zu ökologischem Landbau konvertieren und damit 40 Prozent aller Treibhausgasemissionen einsparen;3 ein gemeinwohlorientiertes Geldsystem könnte das gegenwärtige Finanzcasino ersetzen und seit Jahrzehnten gibt es Konzepte für dezentrale erneuerbare Energien, intelligente öffentliche Verkehrssysteme, faire Arbeitsteilung und regionale Wirtschaftskreisläufe.4 All das wäre möglich, wenn – ja, wenn was? Wer oder was blockiert diese Möglichkeiten eigentlich, und warum? Warum ist eine Zivilisation, die sich weltweit als Trägerin von Vernunft und Fortschritt inszeniert, unfähig, einen offensichtlich selbstmörderischen Pfad zu verlassen und die Richtung zu ändern?
Dieses Buch versucht auf diese Fragen Antworten zu geben, indem es eine Geschichte erzählt. Wenn wir uns das Verhalten eines Menschen nicht erklären können, wenn wir ihn für verrückt halten, dann hilft es manchmal, seine Geschichte zu erzählen. Menschen tun selten etwas ohne Gründe. Aber diese Gründe sind oft nicht in der unmittelbaren Gegenwart zu finden, sondern in der Vergangenheit, wo sich die Muster dieses Verhaltens gebildet haben. Nur wer die eigene Geschichte kennt, kann sie ändern. Und für soziale Systeme – die ja aus Menschen bestehen – gilt das Gleiche.
Die Mythen der Moderne
Die Schuld daran, dass wir auf einen tödlichen Irrweg geraten sind, wird oft dem Siegeszug neoliberaler Politik zugeschrieben, die in den letzten Jahrzehnten zu einer Zuspitzung von sozialer Ungleichheit und Umweltverwüstungen geführt hat. Doch die Ursachen liegen, so die These dieses Buches, wesentlich tiefer; der Neoliberalismus ist nur die jüngste Phase eines wesentlich älteren Systems, das von Anfang an, seit seiner Entstehung vor etwa 500 Jahren, auf Raubbau gründete. Von der Geschichte und Vorgeschichte dieses Systems, das sich in einer beispiellosen Expansionsbewegung um den gesamten Erdball verbreitet hat und mittlerweile seine Grenzen erreicht, handelt dieses Buch.
Man kann diese Geschichte auf sehr unterschiedliche Weisen betrachten. Die Standardversion – der Mythos der westlichen Zivilisation – erzählt von einem Prozess mühsam errungenen Fortschritts, der trotz aller Widrigkeiten und Rückschläge im Endergebnis zu mehr Wohlstand, mehr Frieden, mehr Wissen, mehr Kultur und mehr Freiheit geführt hat. Kriege, Umweltverwüstungen und Völkermorde sind in dieser Version Ausrutscher, Rückfälle, Rückschläge oder unerwünschte Nebenwirkungen eines im Großen und Ganzen segensreichen Prozesses zunehmender Zivilisierung.
Jede Gesellschaft pflegt ihren Mythos, der ihre spezifische Ordnung begründet und rechtfertigt. Das Problem von solchen Mythen ist allerdings, dass sie uns nicht nur ein verzerrtes Bild der Vergangenheit liefern, sondern auch unsere Fähigkeit vermindern, die richtigen Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Wenn ich glaube, dass ich schon sehr lange auf der richtigen Straße gehe, die mich irgendwann in blühende Landschaften führen wird, dann werde ich sie weiter gehen, auch wenn die Straße immer holpriger wird, die Verwüstungen um mich herum zunehmen und meine Wasservorräte zur Neige gehen. Doch irgendwann kommt unweigerlich der Punkt, an dem ich mich frage, ob meine Karten richtig sind, ob ich sie richtig interpretiert habe und ob dies die richtige Straße sein kann. An diesem Punkt befinden wir uns wir heute. Die allgemeine Ratlosigkeit kann zu einem entscheidenden Moment des Innehaltens führen, um einen kritischen Blick auf die Karten zu werfen, sie dort, wo sie offensichtlich irreführend waren, neu zu zeichnen und die eigene Lage neu zu bestimmen. Dazu will dieses Buch einen Beitrag leisten.
Eine Neuorientierung fängt damit an, den Standpunkt der Betrachtung zu verändern. Die Saga vom Fortschritt macht aus der Sicht der Sieger der Geschichte – zu denen in der Regel auch Menschen gehören, die Geschichtsbücher schreiben – durchaus Sinn. Während ich beispielsweise dieses Buch schreibe, sitze ich in einem beheizten Raum, trinke Kaffee, schaue aus dem Fenster und sehe das Herbstlaub fallen, während meine Tochter in einem hübschen Kindergarten um die Ecke spielt. Die Welt erscheint in Ordnung. Jedenfalls in dem kleinen Ausschnitt von Zeit und Raum, den ich gerade überblicke.
Sobald ich den Ausschnitt aber vergrößere und den Standpunkt der Betrachtung verändere, bietet sich mir ein vollkommen anderes Bild. Der Sicherheitsmann im Irak etwa, der die Pipeline, durch die mein Heizöl fließt, bewacht und seine halbe Familie im Krieg verloren hat, sieht einen anderen Teil der Welt, er hat eine andere Geschichte erlebt; und der Siegeszug des Systems, von dem dieses Buch handelt, hat für ihn eine andere Bedeutung. Das Gleiche gilt für die Kaffeebäuerin in Guatemala oder den Arbeiter in einer Coltanmine im Kongo, der die Mineralien aus der Erde holt, ohne die mein Computer nicht funktionieren würde. Mit all diesen Menschen bin ich, obwohl ich sie nicht kenne, verbunden; und wenn ich eine realistische Geschichte des Systems, in dem ich lebe, erzählen will, dann muss ich auch ihre Geschichten und die Geschichte ihrer Vorfahren erzählen. Ich muss, mit anderen Worten, meinen Kokon verlassen und die Welt durch die Augen von Menschen betrachten, deren Stimmen in der Regel von den Megaphonen der Macht übertönt werden.
In einer derart veränderten Perspektive zeigt sich die von Europa ausgehende Expansion der letzten 500 Jahre als eine Geschichte, die für den größten Teil der Menschheit von Anfang an mit Vertreibung, Verelendung, massiver Gewalt – bis hin zum Völkermord – und der Zerstörung ihres Umweltraumes verbunden war. Diese Gewalt ist keine Sache der Vergangenheit, keine »Kinderkrankheit« des Systems, sondern eine seiner dauerhaften strukturellen Komponenten. Die sich abzeichnende Zerstörung der Lebensgrundlagen von Hunderten Millionen von Menschen durch den Klimawandel legt dafür aktuell Zeugnis ab.
Die Megamaschine
Mit welchem Recht aber kann man überhaupt sagen, dass wir es mit einem globalen System zu tun haben und nicht mit einer bloßen Ansammlung von Institutionen, Ideologien und Praktiken? Ein System ist mehr als die Summe seiner Teile, es ist ein Funktionsgefüge, in dem alle Bestandteile aufeinander angewiesen sind und nicht unabhängig voneinander existieren können. Es ist offensichtlich, dass es so etwas wie ein Weltfinanzsystem, ein globales Energiesystem und ein System internationaler Arbeitsteilung gibt und dass diese Systeme wiederum eng verzahnt sind. Diese ökonomischen Strukturen können jedoch unmöglich selbstständig funktionieren. Sie sind auf die Existenz von Staaten angewiesen, die in der Lage sind, bestimmte Eigentumsrechte durchzusetzen, Infrastrukturen bereitzustellen, Handelsrouten militärisch zu verteidigen, ökonomische Verluste aufzufangen und Widerstand gegen die Zumutungen und Ungerechtigkeiten des Systems unter Kontrolle zu...