29. November 2014
Mein eigenes Kind ist mir fremd geworden. Ich denke: Sie wird aussehen wie andere Behinderte. Sie wird nicht meine Augen haben. Ihr Gesicht wird breit sein, weich. Nicht wir, ihre Eltern, werden sie prägen, sondern ein dreifach vorliegendes Chromosom. Ich denke nur noch in Sätzen, in denen das Wort «nicht» vorkommt. Ich werde ihr nicht meine Büchersammlung vererben. Wir werden nicht über Weltpolitik reden. Wenn ich alt bin, wird sie sich nicht um mich kümmern. Wir werden nicht Großeltern werden. Die Vorstellung, dass Marja mit 40, 50 Jahren dement werden könnte, macht mich fertig. Von einer möglichen frühen, alzheimerähnlichen Demenz hatte ich gelesen. Das Letzte, das ich vor meinem Tod erleben werde, ist, dass mein Kind, um das ich mich jahrzehntelang gekümmert habe, mich nicht mehr erkennt.
«Wenigstens wird sie nicht rechtsradikal oder drogenabhängig», sagt Christoph. Stimmt, aber das wäre meine Tochter ohnehin nicht geworden, denke ich, meine Tochter doch nicht.
Manchmal durchzucken mich Gedanken, die ich mir selbst nicht zugetraut hätte. Mein kleines Mädchen später hübsch anzuziehen, kommt mir plötzlich sinnlos vor. Als wollte ich meine Tochter verkleiden, um sie in ein normales Kind zu verwandeln. Ein hilfloser, durchsichtiger Versuch, sie an eine vorgestellte Tochter anzugleichen. Dabei bleibt sie doch behindert, egal, wie süß sie aussieht.
Es ist so schwer, sich von den Bildern zu verabschieden. Die Frage ist, ob ich von meinem Kind Abschied nehmen will, weil ich nicht von den Bildern von meinem Kind lassen kann. Sind mir die Bilder im Kopf wichtiger als das Kind im Bauch?
Ich denke häufig über ein Foto von unserer Hochzeit nach. Ich, im Brautkleid, beuge mich hinunter zu dem Sohn unserer Freunde, der seine Arme um mich schlingt, in meiner Hand ein selbst gepflückter Blumenstrauß aus dem Garten, sein Geschenk. Paul ist sechs Jahre alt und hat das Down-Syndrom. Damals wusste ich seit drei Tagen von Marjas Existenz.
Was weiß ich von Paul? Ich kenne ihn und seine Eltern noch nicht lange, doch selbst für diese kurze Zeit ist es verdammt wenig. Dass er mich immer umarmt, wenn wir uns sehen. Dass er gerne schmust. Dass er wenig spricht, wenn wir dabei sind. Dass er Windeln trägt und manchmal mit seinen Exkrementen spielt. Dass seine Mutter bei unserer Hochzeit mit ihm in der Kinderecke malt. Dass sie abends früher nach Hause fahren, während die anderen tanzen, weil Paul der Trubel sonst zu viel wird. Aber habe ich jemals wirklich nachgefragt, was Pauls Leben ausmacht? Ich glaube nicht.
Jetzt hätte ich viele Fragen. Doch ich habe Christoph gebeten, Pauls Eltern nicht von Marjas Diagnose zu erzählen. Eine schwierige Bitte, schließlich sind die beiden Christophs Freunde. Ich erinnere mich an einen Satz von Pauls Vater, als er einmal über die Liebe zu seinem Sohn sprach: «Ich wollte ja keinen Popstar und keinen Nobelpreisträger bekommen. Ich wollte ja ein Kind bekommen.» Ich will im Moment nicht über meine Zweifel reden. Ich fürchte das Urteil und die Scham. Ich will mich nicht schämen.
Bei Anne auf der Massageliege kann ich in Deckung bleiben. Ihre Praxis liegt ganz in der Nähe von meiner Wohnung. Ich flüchte mich oft zu ihr, seitdem ich zurück in meiner alten Stadt bin, Christoph so weit weg ist. Es ist schön, dass jemand mich berührt, jetzt, da mein Körper ein Eigenleben führt, Zeitpläne diktiert, Begutachtung und Wiederbegutachtung verlangt, da sein Zustand von technischen Geräten eruiert, von Laboranten analysiert, in Arztbriefen dokumentiert wird. Bei Anne herrscht Ruhe. Ich liege auf dem Rücken. Ich will nicht, dass irgendetwas auf den Bauch drückt, auch wenn ich noch gar keinen Bauch habe. Anne streicht über meine Arme, meine Beine, meine Fußsohlen, 60 Minuten Frieden.
Ihr höre ich gern zu, wenn sie über den Sohn eines guten Freundes redet, 16 Jahre alt, mit Down-Syndrom, der zusammen mit anderen Teenagern Musik macht. Eines Abends war sie dabei, als der Junge eine Breakdance-Nummer aufführte. Er habe den Applaus genossen, sagt Anne, sich wieder und wieder verbeugt und alle Hände abgeklatscht, die sich ihm entgegenstreckten. «Und hat er auch geredet?», frage ich. «Ja», sagte Anne, er habe einem anderen Jungen zugerufen: Mach mal die Musik an! Und später, als sie ihn bei einer Feier wiedertraf, habe sie sich mit ihm unterhalten. «Also, so richtig unterhalten?», frage ich. «Ja.» – «Konnte man ihn gut verstehen? Oder hat er sehr genuschelt?» Dass ich mit meinem eigenen Kind vielleicht nicht das teilen kann, was mir so viel bedeutet, Sprache, Worte, treibt mich am meisten um. Die Freunde, die Männer, die Städte, selbst die Kontinente, auf denen ich wohnte, wechselten in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Meine Bücher blieben bei mir.
«Mini me» fällt mir ein, der Titel einer Modekollektion, auf die ich im Internet gestoßen war. Partnerlook für Mutter und Tochter, zum Beispiel beim «Baumwollkleid in schwingender A-Form». Das perfekte Kleid zur Illusion, sich eine niedliche Ausgabe des Selbst geboren zu haben. Bei uns also kein «Mini me». Das überzählige Chromosom schafft Nüchternheit und Klarheit, keine Chance für Täuschungsmanöver.
Mit Marja kann ich die reinste Form der Elternliebe lernen. Frei von Ansprüchen und Erwartungen, frei von dem heimlichen Wunsch, das Kind möge das eigene Leben verlängern. Nur noch ein einfacher, großer Wunsch: Mein Kind soll glücklich sein.
Waren mir die Erwartungen meiner Eltern, die sich an mich, ihr einziges Kind, richteten, nicht auch manchmal zu viel?
«Bei mir ist immer alles glatt gelaufen, ich war immer die Vorzeigetochter», sage ich zu Anne und denke an die vielen Weihnachtsbriefe, die meine Mutter Jahr für Jahr an Freunde und Verwandte schrieb. Ein, zwei Absätze handelten stets von mir, Sandra studiert jetzt, Sandra hat ihre erste feste Stelle, Sandra wird Korrespondentin. Nun also: Sandra bekommt ein Mädchen mit Down-Syndrom. Oder sind behinderte Kinder nicht weihnachtsbrieftauglich?
Nie würden meine Eltern aussprechen, dass Marja vielleicht nicht ins Bild passt, das sie sich von ihrem Enkelkind und von unserer Familie gemacht haben, vielleicht sind das nur Gedanken, die ich ihnen unterstelle. Gesagt haben sie, ich müsse auch an meine «junge Ehe» denken, ob diese die Belastung verkrafte.
Ich denke an die Pfarrerin. In ihrer Frauengruppe, hatte sie erzählt, erfahre sie wieder und wieder die gleichen Probleme, schwierige Beziehung zum Vater, kein Verhältnis zur Mutter, erwachsene, gesunde Menschen, die hadern, weil das seit Jahrzehnten Ungesagte die Familie entzweit. Die Pfarrerin sagt, sie habe noch nie gehört, dass Menschen mit Down-Syndrom sich für immer mit ihren Eltern zerstritten.
Ich wollte doch ein Kind lieben und von einem Kind geliebt werden, bekomme ich mit dem Extrachromosom vielleicht sogar eine Extraportion Liebe? Und ist nicht genuschelte Liebe besser als keine Liebe?
«Die können auch nicht kalkuliert lieb sein», hatte die Pfarrerin gesagt. «Die zeigen dir immer, was gerade mit ihnen ist.» Weil ihnen dieses Abstrahieren, dieses Vorspielen gar nicht möglich sei. Geliebt zu werden und keine Angst zu haben, dass sich irgendwo eine Lüge verbirgt – Marja müsste mein Wunschkind sein.
Bei der Mutter meines Freundes David ruft regelmäßig ein junger Mann mit Down-Syndrom an, Ende zwanzig, ein Adoptivkind aus der Verwandtschaft, und sagt ihr: «Ich hab dich so gern!» Die alte Dame freue sich über diese Herzlichkeit sehr, sagt David.
David hat mir auch von einer Theatergruppe erzählt, Schauspieler mit und ohne Behinderung, die bei ihm um die Ecke gemeinsam probten. «Da wird niemand vorgeführt», sagt er. Kein gönnerhaftes: «Ah, schön!» Die Stücke würden in der Zeitung besprochen, und jeder habe auf der Bühne seinen Platz. Er sieht sie manchmal nach den Proben, wie sie alle draußen sitzen, gut gelaunt in ihr Baguette beißen, lässig, selbstbewusst.
Ich weiß genau, welches Gefühl er meint, wenn er dieses Bild beschreibt. David und ich kennen uns seit 20 Jahren, wir sind gute Freunde, auch wir haben zusammen Theater gespielt während meiner Zeit an der Uni. Natürlich wäre es schön, wenn Marja eines Tages dazugehören würde zu so einer Baguette-Truppe vor einem Theatersaal. Aber haben behinderte Kinder auch echte Freunde? Wird Marja jemanden haben, mit dem sie Quatsch macht? Oder werden andere nur aus Mitleid mit ihr spielen, weil ihre wohlmeinenden Mütter es so wollen?
Mit meiner Freundin aus der Grundschule habe ich Mitternachtspartys gefeiert wie bei «Hanni und Nanni» und Kartoffelchips unter der Bettdecke gegessen, im Licht der Taschenlampe. Mit meiner Freundin in der achten Klasse bin ich zum ersten Mal in eine Kinder-Disko gegangen, an einem Samstagnachmittag. Sie war dabei, als ich mich zum ersten Mal verknallte, und zwar in den Jungen, mit dem ich meinen ersten Blues tanzte, zur Filmmusik von La Boum. Mit Doro bin ich durch Sri Lanka und Südchina gereist, habe mit ihr, unter Sternen, am Strand übernachtet und in einem Hostel, unterm Moskitonetz, die krabbelnden Kakerlaken gezählt, und natürlich habe ich ihr, als einziger Freundin, ein Bild aus dem Brautladen geschickt, aufgenommen vor der Umkleidekabine: Soll ich dieses Kleid nehmen?
Was würde Marja erleben?
Doro hat eine Schwester mit einer geistigen Behinderung. Sie lebt heute auf einem schönen Hof mit verschiedenen Werkstätten mitten im Grünen. Es gibt dort sogar ein eigenes Orchester. Ab und zu gehen die beiden zusammen ins Kino, «American Beauty» haben sie sich angeschaut. Ob sie, frage ich zaghaft, ganz ehrlich, ihre Schwester genauso liebe wie ihren gesunden Bruder? «Ja»,...