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Lügen lesen

AutorBettina Stangneth
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783644052710
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die Rückseite der Lüge. Alle Menschen lügen, behaupten die Menschen. Aber auch diejenigen, die das Lob der Lüge singen, wollen nicht bei einer erwischt und noch weniger wollen sie belogen werden. Sogar wenn man im Lügen das Leben selbst oder doch eine notwendige Kulturtechnik sehen will - wir gewöhnen uns einfach nicht an sie. Wenn Menschen sich nicht an etwas gewöhnen können, das sie doch selber gelegentlich tun, dann nennt man das ein moralisches Problem. Wer über Moral spricht, meint damit gern die anderen. Darum ist es auch kein Zufall, dass uns der Lügner von Anbeginn fasziniert. Die Hochstapler, Schwindler und Populisten, sie scheinen uns wie Zauberer zu manipulieren und planmäßig in die Irre zu führen. Die Lüge ist nur eines ihrer Werkzeuge. Als wäre sie nur dann eine Waffe, wenn sie in die falschen Hände gerät. Aber ist das wirklich alles? Und dürfen wir die philosophische Frage nach der Lüge tatsächlich auf Moral und Politik beschränken? Die Philosophin Bettina Stangneth, die ihre Leser schon mit dem Buch Böses Denken auf überraschende Wege zu großen philosophischen Fragen eingeladen hat, stellt in ihrem neuen Essay weitere, ganz einfache Fragen: Was lässt sich aus einer Lüge über unser Denken lernen? Steckt Wissen in der Unwahrheit? Und wie kommt man an dieses Wissen heran?

Bettina Stangneth, geboren 1966, ist unabhängige Philosophin. Sie studierte in Hamburg Philosophie und promovierte über Immanuel Kant und das Radikal Böse. Für ihr Buch «Eichmann vor Jerusalem» erhielt sie 2011 den NDR-Kultur-Sachbuch-Preis; die «New York Times» zählte es zu den besten Büchern des Jahres. Bei Rowohlt erschienen zuletzt ihre hochgelobten Essays «Böses Denken» (2015), «Lügen lesen» (2017) und «Hässliches Sehen» (2019) sowie die Bände «Sexkultur» (2021) und «Überforderung» (2022). Stangneth erhielt 2022 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis.

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Leseprobe

Kein Mensch will die Wahrheit. Als einziges Wesen, das überhaupt nach ihr fragt, wollen wir allenfalls einen Teil davon sagen und hören, wir möchten doch keineswegs alles. Es scheint beinahe, als könne der Mensch nicht «Ich» sagen ohne das große Bedürfnis, möglichst umgehend alles davon wieder zu verstecken und zu verstellen, und wenn die Nebelschwaden des Geheimnisses nicht reichen, um zu verhüllen, was wir denken und fühlen, dann darf es gern die Irreführung sein. Der Mensch lügt, seit er weiß, wie man Zeichen setzt. Wir lügen, wenn wir sprechen und schreiben, zeichnen und darstellen, sogar noch wenn wir schweigen. Ob mit kleinen Gesten, einem Blick, mit ablenkender Geschwätzigkeit oder der ganzen Person, wir sind Meister darin, zu verfälschen und zu täuschen, ja, wir brauchen nicht einmal eine konkrete Absicht, um einander blauen Dunst vorzumachen. Wir belügen sogar noch diejenigen, von denen wir längst wissen, dass wir von ihnen nichts zu fürchten haben und sie uns gern so sehen, wie wir sind. Lügen – das ist das Alltäglichste der Menschenwelt. Und dennoch überrascht uns nichts so sehr wie eine Lüge.

Sooft wir es auch schon erlebt haben, sind wir doch nie auf den Augenblick vorbereitet, in dem wir erkennen, belogen worden zu sein. Die Bedeutung dieser Erkenntnis geht weit über den Moment hinaus. Wahrheit, mit der wir nicht rechnen, ist das Licht, in dem unsere Illusionen und Hoffnungen zu Staub zerfallen. In der Wahrheit endet die Freiheit. Mit der Wahrheit kommt Wissen, also Gewalt, etwas, das nicht einfach wieder verschwindet, nur weil wir uns Augen, Ohren und Mund zuhalten. Wie verführerisch ist da der Gedanke, dass es sie gar nicht gibt, dass also jeder Mensch seine eigene Wahrheit haben könnte, ganz nach dem eigenen Wunschbild, unantastbar für alle anderen und sogar für die Welt. Nicht sehen zu müssen, was ist; nicht hören zu müssen, was andere wirklich denken: Wer hätte sich das noch nie gewünscht? Und dennoch verurteilen wir die Lüge.

Kein Mensch möchte als Lügner gelten. Der Verdacht, nicht vertrauenswürdig zu sein, stellt mehr in Frage als eine Geste oder einen Satz. So wie auch das Unbehagen, nicht zu wissen, was wirklich vorgeht, weil andere es vor uns verbergen, uns schließlich an den eigenen Sinnen und der Erfahrung zweifeln lässt. Wer nicht mehr weiß, ob man ihm glaubt, ist genauso verloren wie der, der nicht mehr weiß, was man noch glauben kann. Jeder, der ihr einmal unvermittelt begegnet ist, der weiß: Die Lüge hat eine unvergleichlich zerstörerische Kraft. Und dennoch lügen wir.

Zur Wahrheit über die Lüge gehört vor allem dies: Wir lügen, und können uns doch einfach nicht an die Lüge gewöhnen.

Dabei kennen wir längst genug Argumente für einen entspannteren Umgang mit der kultivierten Unwahrheit. Zwar hat es nie an Mahnungen gefehlt, dass die Lüge nur in den Abgrund führen kann, weil sie unbedingt böse, ja, gar des Teufels ist, der nicht zufällig der Vater der Lügen genannt wird. Aber in allen Kulturen weiß man ebenso von listigen Kriegern und schlauen Bauern zu erzählen, denen es gelingt, sogar dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, weil sie noch besser als der Teufel wissen, wie man es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Dumm wäre doch, wer den Lügner nicht mit der Lüge bekämpft. Herrscht unter Feinden nicht, wie Georg Simmel es in seiner Soziologie so einleuchtend beschreibt, auch ein «geistiges Faustrecht, ebenso brutal, aber gelegentlich ebenso am Platze wie das physische»? Hat wirklich auch der noch das Recht auf meine Wahrheit, der mir damit nur schaden will? Lügen taugt eindeutig als Waffe, als eine Überlebenstechnik, wie viele andere unabdingbar für den Daseinskampf. Was überhaupt wäre die Gesellschaft ohne die Möglichkeit zu lügen? Es spricht alles dafür, dass keine Gemeinschaft auch nur zwei Tage Bestand hätte, wenn wir uns alle ständig sagten, was wir denken, weil wir unbedingte Wahrhaftigkeit gar nicht aushalten. Macht das die Lüge am Ende nicht sogar zur Tugend? Zum Ausdruck gelebter Humanität? Wer das Lob der Lüge singt, verteidigt nicht nur das Recht auf Waffengleichheit im Kriegszustand, sondern ist überzeugt davon, dass unsere Fähigkeit zu lügen Gemeinschaft stiften, zumindest aber erhalten kann. Und ist sie nicht auch die Bedingung für Kunst und Kultur, weil beides gar nicht denkbar wäre ohne die spezifisch menschliche Distanz zum Faktischen? Ja, gäbe es überhaupt Freunde ohne sie? Und dennoch kann eine Freundschaft nie so unrettbar zerbrechen wie an einer einzigen Lüge. Sie kann uns tiefer verletzen als jede Tätlichkeit.

Dass die Welt verlogen sei, das ist eine Klage so alt wie die Menschheit. Schon wer sich früheste Höhlenzeichnungen anschaut, auf denen das Jagdgeschick verewigt ist, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Hörner und Krallen der erlegten Tiere so lang nun wirklich nicht gewesen sein werden. Die Diagnose lautet zu allen Zeiten genau gleich: Es war nie so schlimm wie genau hier und jetzt. Wenn uns das Nachdenken über die Lüge dennoch immer wieder ganz neu und dringlich vorkommt, dann offenbar deshalb, weil wir uns an diese Kapitel des Menschlichen nur sehr ungern erinnern. Davor, dass man sich mit Aufklärung weit weniger beliebt macht als mit einer halbwegs gut erzählten Geschichte, warnte nicht erst Platon. Der griechische Philosoph war fest davon überzeugt, dass die Menschen so sehr an ihrem Leben in der Höhle der Irrlichter hängen, dass sie im Zweifel sogar den umbringen würden, der ihnen das Licht bringt. Dabei ist es kaum zufällig der Schlachtruf der Philosophie, immer wieder aufgeregt das unmittelbar bevorstehende Zeitalter des Post-Faktischen zu beschwören und die Menschen weg von den Geschichten, zurück zu den Dingen zu rufen. Aber warum nageln wir uns wohl seit über zweitausend Jahren das Gnothi seauthon, das Erkenne Dich selbst, an die Wand? Etwa weil wir diese ständige Mahnung nicht alle nötig hätten? Schwur und Eid, feierliche Rituale wie das Versprechen, die Fußnoten ebenso wie die peinliche Befragung mitsamt dem unerschöpflichen Arsenal an Foltertechniken zeugen davon, wie allgegenwärtig das Misstrauen in den Willen zur Aufrichtigkeit ist. Und immer wieder ist da auch die Angst, es könnte irgendwann zu spät sein und die Wahrheit uns unrettbar abhandenkommen. «Heute ist die Wahrheit so verfinstert und die Lüge so festgefügt», notiert Blaise Pascal im 17. Jahrhundert und klingt doch unheimlich vertraut, «daß, wenn man die Wahrheit nur etwas weniger liebt, man sie nicht mehr zu finden weiß.» Im Jahr 1943, also dreihundert Jahre später – Joseph Goebbels keift mit Adolf Hitler um die Wette von den «Lügen des internationalen Finanzjudentums» und der «Lügenpresse» –, beginnt der aus Deutschland glücklich geflüchtete Alexandre Koyré in Paris seine Reflexionen über die Lüge mit derselben Anklage: «Nie hat man soviel gelogen wie in unseren Tagen. Niemals wurde in einer Weise gelogen, die ebenso schamlos, systematisch wie stetig ist.» Muss es uns da nicht vor allem wundern, dass sich heute noch irgendjemand daran stört, wenn genauso gelogen wird wie eh und je? Menschen lügen. Wasser ist nass. Na und?

Obwohl jeder von uns schon gelogen und vermutlich sogar einmal einen aufgeflogenen Lügner entschuldigt hat, ist uns nie ganz wohl dabei, und das nicht nur, weil jeder schnell begreift, dass das Lügen zwar mit dem Spielen verwandt sein mag, aber an diesem seltsamen Spiel doch offenbar nie alle den gleichen Spaß haben. So oft und so erfolgreich wir auch lügen, so viele Gründe uns auch dafür einfallen, so unausweichlich es uns auch scheint, es bleibt der Verdacht, dass es beim Lügen um sehr viel mehr geht als um eine Frage der guten Sitten oder, wie man früher gesagt hätte, um eine Sünde unter anderen. Es bleibt das tiefe Unbehagen, dass die Lüge eben doch kein Werkzeug wie andere sein könnte, dass wir vielmehr schon in der kleinsten Lüge etwas berühren, das man nicht anrühren sollte und das gefährlich über den konkreten Anlass und die jeweilige Absicht hinaus wirkt. Wir befürchten, dass die Lüge bei all ihrer Nützlichkeit immer schon etwas ganz anderes ist als ein beliebiges Mittel zu allerlei Zwecken. Warum es nicht ganz einfach sagen: Unsere eigene Fähigkeit zur Lüge ist uns unheimlich.

Wann immer ein Phänomen derart widerstreitende Gefühle auslöst, erschwert uns diese Zerrissenheit das Nachdenken. Allen Lippenbekenntnissen zum Trotz haben wir uns keineswegs entschieden, ob wir weiterhin mit der Lüge leben wollen oder nicht. Aber das ist nicht der einzige Grund dafür, dass wir uns ständig im Denken verheddern, sobald wir versuchen, die Lüge zu fassen. Das Nachdenken über die Lüge ist vor allem deshalb die wohl schwierigste aller Denkaufgaben, weil sich hier schon das Suchen nach dem Wissen gegen den Gegenstand selbst richtet: Wir wollen nicht weniger als Klarheit über ein Täuschendes, also nicht nur das Licht in der Dunkelheit, sondern auch aus ihr. Gleichzeitig zielt aber das Lügen auf nichts anderes als das Denken, also genau auf das Werkzeug, mit dem wir sie doch erhellen wollen. Es ist beinah, als wollten wir im Spiegel betrachten, wie es aussieht, wenn wir uns die Augen zuhalten, und uns dabei noch nicht einmal sicher sind, ob wir nicht vor einem Zerrspiegel stehen. Weil die Dunkelheit, die wir zu begreifen versuchen, indem wir das Licht anschalten, immer auch unsere eigene ist, fürchten wir schon ganz vordergründig die Erkenntnis wenigstens ebenso sehr, wie wir sie suchen. Wer nicht gerade das Opfer eines Lügners wurde und vor allem auf Sühne für den Schmerz sinnt, den er noch spürt, der weicht lieber aus. Statt neugierig auf das zu sein, was es zu lernen gibt, klingen...

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