Der Blick von außen
Noch immer ist Deutschland nicht meine richtige Heimat. Wird es das irgendwann werden? Und Frankreich ist nicht mehr das vertraute Land meiner Kindheit. Vor so langer Zeit habe ich mein Land verlassen. Zwischen zwei Ländern zu leben heißt, zwei empfindliche kleine Antennen auf dem Kopf zu haben. Ständig registrieren sie die Unterschiede, was hier anders ist als dort. Da ich kein echtes Zuhause mehr habe, sind diese Antennen in beiden Ländern pausenlos aktiv. Sie zeichnen Überraschungen auf, Ticks, Eigenarten, nationale Mythen, Redewendungen, merkwürdige Straßenecken und, warum nicht, Klischees, die man entlarven oder bestätigen möchte. In Frankreich bin ich ein wenig fremd. In Deutschland werde ich es immer bleiben.
Die Jahre vergehen, und Frankreich driftet weg. Ich bin am Ufer zurückgeblieben, in den achtziger Jahren, als ich nach England und später nach Deutschland aufgebrochen bin. Frankreich hat sich verändert, und ich habe seine Metamorphosen nicht miterlebt. Häufig bin ich einfach verwirrt. Die Präsidentschaftswahl 2017 hat wieder gezeigt, was uns trennt: Als ich aus Frankreich wegzog, hat man sich mit dem Front National nicht zeigen lassen wollen. Man stimmte heimlich für diese Partei. Heute kann das Gespräch mit einem Zugnachbarn sehr heikel werden. Was soll ich sagen, wenn er mit breitem Lächeln verkündet, dass er Front National wählt?
Als ich aus Frankreich wegzog, musste man sich für ein Lager entscheiden: «die Rechte» oder «die Linke». Die beiden wechselten sich an der Macht ab. Heute schaffen es die sozialistische Partei und die traditionelle Rechte nicht mal in die Stichwahl. Sie befinden sich in Auflösung. Und jetzt hat ein junger und fast unbekannter Mann die alten Füchse, die sich in ihrer Parteihierarchie mühsam hochgearbeitet hatten, einen nach dem anderen hinter sich gelassen. Wer hätte sich träumen lassen, dass ein parteiloser früherer Investmentbanker in den Élysée-Palast einziehen könnte?
Wie ein Kind, das nicht mitmachen darf, habe ich das Spektakel von Emmanuel Macrons Amtseinführung einen ganzen Sonntag lang aus der Ferne verfolgt, am Fernsehen in meinem Berliner Wohnzimmer. Wieder einmal ist das vertraute Ritual vor mir vorbeigezogen: die Ankunft eines neuen Präsidenten im Ehrenhof des Élysée. Der knirschende Kies unter den Rädern der Staatskarosse. Der lange rote Teppich bis zur Freitreppe, an der der scheidende Präsident den neuen erwartet. Dann die ganze Wucht der Zeremonie im Festsaal: Die Rede des neuen Präsidenten strotzt von Nationalstolz. 2500 Jahre Geschichte und 39 Lebensjahre. Er spricht wie ein Philosoph. Kein falscher Zungenschlag, kein Zögern, kein schiefes Wort. Zu seinen Füßen alles, was die Republik an Würdenträgern aufzubieten hat. Danach schüttelt er Hunderte von Händen, über ihm die riesigen Kronleuchter. Und schließlich die Fahrt über die Champs-Élysées. Allein steht er in einem offenen Wagen – getreu der gaullistischen Tradition hat Emmanuel Macron ein Militärfahrzeug gewählt – und winkt seinem seit dem Morgengrauen wartenden Volk mit sparsamen Bewegungen zu. Unter dem Arc de Triomphe wird er, gefolgt von den gerührten Blicken der Befehlshaber der französischen Streitkräfte, das Feuer am Grab des Unbekannten Soldaten neu entzünden. Und während ich die fast mystische Zeremonie verfolge, verzaubert und genervt zugleich, prallen in meinen Gedanken andere und sehr viel profanere Bilder aufeinander: Die deutsche Kanzlerin im Blazer und mit flachen Schuhen legt vor dem Bundestag ihren Amtseid ab. Die Sprache ist schlicht, die Gestik nüchtern. Eine Bibel, ein großer Blumenstrauß und Beifall aus den Reihen und von der Tribüne. Das war’s schon. Unvorstellbar, Angela Merkel könne Unter den Linden in einem Bundeswehrjeep entlangfahren, um unter dem Brandenburger Tor eine Flamme zu entfachen. Vergleicht man diese beiden Zeremonien, so erkennt man, dass Lichtjahre eine deutsche Kanzlerin von einem französischen Präsidenten trennen. Angela Merkel schwört vor dem Bundestag, ein klarer Hinweis darauf, wer in Deutschland das letzte Wort hat. Ein feierliches Ritual, aber ohne Pathos. Nur die Rentner haben Zeit, es live im Fernsehen mitzuverfolgen. Dagegen die jüngste Machtübergabe in Paris mit ihrem monarchistischen Pomp: Man könnte glauben, Frankreich würde den Präsidenten zum König weihen. Warum nur hat der junge Präsident einer modernen Republik diese Prozeduren, Traditionen, Riten aus einer vergangenen Zeit nicht entstaubt? Eine Wahl, so sagte General de Gaulle es vor einem halben Jahrhundert, ist die Begegnung eines Mannes (damals dachte niemand an eine Frau) mit einem Volk. Der Präsident «verkörpert» Frankreich. Diese romantischen Exzesse machen mir die Deutschen sehr sympathisch, sie, die ihre Kanzlerin «Mutti» getauft haben, so beruhigend, so nahe ist sie ihnen.
Aber schmerzhafter als der politische Wandel zeigen mir die kleinen Dinge, dass ich mich in meinem Land nicht mehr richtig auskenne: eine Kultserie im Fernsehen, von der ich noch nie etwas gehört habe, unverständliche neue Wörter, eine Mode, ein Song … ganz Frankreich summt ihn, nur ich nicht. Und so packt mich manchmal das Heimweh nach einem Frankreich, das ich verlassen habe und das es nicht mehr gibt. Dann tröste ich mich mit alten Filmen. Wenigstens da hat Frankreich sich nicht weiterbewegt. Seltsames Ritual: Klammere ich mich an veraltete Bilder, weil ich den Graben nicht wahrhaben möchte, der sich zwischen meinem Land und mir aufgetan hat? Weil es mir unerträglich ist, mich dort fremd zu fühlen? Nicht einmal das «typisch französisch», wie es mir in Deutschland angeboten wird, kann mich aufmuntern. Im Gegenteil: Piaf-Lieder, Café au Lait und Croissants, zu viel Folklore, zu viele Klischees, zu dick aufgetragen.
Deutschland dagegen ist mir nähergekommen, es überrascht mich aber bis heute. «Macht es dir nach all den Jahren noch Spaß, unser Land zu beobachten?», fragen meine Freunde. Natürlich ist mein Blick nicht mehr so scharf. Was mich am Anfang erstaunt hat, ist mir heute vertraut. Und oft verlieren meine kleinen Antennen die Orientierung: Was ist deutsch, was ist französisch? Wie kann ich beides auseinanderhalten? Im Lauf der Jahre habe ich die beiden Sprachen vermischt, die alltäglichen Gewohnheiten. Ich sage: «On va boire un Schluck», und ich esse lieber Vollkornbrot als Baguette. Bin ich ein bisschen deutsch geworden? Wahrscheinlich schon.
Wenn man im Ausland lebt, selbst wenn dieses Exil freiwillig ist, selbst wenn das neue Land dem alten kulturell nahesteht, sitzt man immer zwischen zwei Stühlen, und das ist nicht sehr bequem. Wie oft beneide ich die Menschen aus einem Guss. Lyoneser seit Generationen. Elsässische Freundinnen, die das Straßburg unserer Jugend nicht verlassen haben. Die nie gefragt werden: «Aber als was fühlst du dich denn nun? Noch Französin oder eher Deutsche?»
Manchmal beunruhigt es mich, wie ich zwischen den beiden Ländern hin und her gerissen bin. Aber diese Spannung ist auch kreativ. Aus ihr entspringt die Neugier, die kindliche Freude, durch die Straßen zu flanieren, Gespräche zu belauschen, Eigenheiten zu entdecken. Die Entfernung schärft den Blick und aktiviert die Antennen. Das Vertraute dagegen schläfert die Sinne ein.
Gehe ich in Deutschland aus dem Haus oder steige ich in Frankreich aus dem Flugzeug, beginnen meine Antennen zu vibrieren: In der Sommerhitze erfahre ich am FKK-Strand am Wannsee sehr viel darüber, wie die Deutschen zu ihrem Körper, zur Erotik, zur Freiheit stehen. Bei einem Mittagessen im Restaurant des französischen Senats und ein paar Tage später im Imbiss des Bundesrats lerne ich mehr über die Demokratie in den beiden Ländern als in jeder Vorlesung über Verfassungsrecht. Ein Spaziergang im Jardin du Luxembourg und in seinem Berliner Pendant, dem Tiergarten, zeigt mir, wie sehr die Vorstellungen von Ordnung und Natur sich unterscheiden. Wenn ich in einem Café genau hinschaue, sehe ich, wie unterschiedlich man in Stuttgart und Dijon flirtet. Mülltrennung, die Art, wie und was man zu Abend isst, wie man sich am Telefon meldet, wen man duzt und wen man siezt – all das lehrt uns eine Menge.
Natürlich fehlt mir die Nähe der Sprache, aber wie ich mich freue, manche Wörter wiederzusehen. Erst dann fällt mir auf, wie raffiniert sie sind und wie unübersetzbar. Versuchen Sie, «hélas» ins Deutsche zu übertragen oder «Sehnsucht», «Heimweh», «Fernweh» ins Französische. Und das «voilà», das bei den Gesprächen in Frankreich den Takt angibt? Hat es ein Echo im Deutschen?
Manchmal sieht man mehr vom Großen, wenn man sich neigt, um das ganz Kleine genau zu betrachten. Eine deutsche Kanzlerin und ein französischer Präsident sprechen den Namen ihres Landes völlig unterschiedlich aus. Angela Merkel sagt «Deutschland» ohne Pathos, in neutralem Ton, fest, aber sehr schlicht. Jacques Chirac sagte «La France», wie in Ekstase.
Der «Blick von außen» ist ein Relikt aus der Zeit, als die verunsicherten Deutschen das Urteil der anderen suchten. Sie wollten gestreichelt werden, aber auch gepeitscht. Ich habe lange gebraucht, um diesen Zwiespalt zu verstehen. Als Französin vom Dienst soll ich noch immer diesem Land den Spiegel vorhalten. Und wir selbstgefälligen Franzosen fallen ins andere Extrem und kümmern uns nicht darum, wie wir bei den Nachbarn ankommen. Aber seit einiger Zeit ändert sich das. Jetzt fragen auch die Franzosen manchmal, was die Deutschen über sie denken: Wie sehen sie unsere korrupten Politiker? Und unsere Wirtschaftskrise? Und schon kehrt sich mein Blick von außen um und richtet sich auf Frankreich. Ich...