VORWORT
Konstantin Wecker
Das Leben jedes einzelnen Menschen auf diesem Planeten wäre spannend genug, um in einer Biographie erzählt zu werden. Meistens sind es dann doch die eher Prominenten, deren Lebensgeschichten gelesen werden. Prominent aufgrund ihrer Verdienste, ihres Ruhms, ihrer Exzentrik – oder aber aufgrund ihrer Bösartigkeit. Aber auch die Biographien unauffälliger, sich stets dem Rampenlicht verweigernder Wesen wären der Beachtung wert.
Die Frage ist nämlich stets (ob der Mensch nun bekannt oder unbekannt ist): Wie entwickelt sich ein Lebensweg zu diesem einzigartigen Wesen, das es nie vorher gab und auch danach nie mehr geben wird?
Kein Wassertropfen gleicht dem anderen, keine Schneeflocke ist identisch mit einer anderen – und kein menschliches Leben, und sei es noch so angepasst, gleicht einem anderen.
In jedem Menschen lauern Abgründe und Höllen, in jedem ist das Unvergleichliche, Ewige und Göttliche zu erahnen, manchmal sogar zu erspüren. Jeder und jede hat seine eigene Geschichte, Eltern, Großeltern, Schrecknisse und Gnadenmomente, seine ureigene Vita eben, seine Biographie. Auch wenn man über Jahrzehnte hinweg mit anderen die gleiche Geschichte teilt, schon ein falscher oder richtiger Tritt aus dem stets gleichen Trott – und sei es nur der Zufall einer Sekunde, der einen zum Schwanken bringt –, ein Windhauch, ein kurzes Hinüber- oder Zurückblicken, könnte genügen, um die Weltgeschichte zum Beben zu bringen.
Es ist doch gar nicht sicher, ob es immer die Großen und Berühmten waren, die Heerführer und Kaiser, die Großdichter und Propheten, die unsere Weltgeschichte verändert haben – oft zum noch Inhumaneren, manchmal aber auch zum Menschlicheren.
Vielleicht war es die aus dem Moment geborene Befehlsverweigerung des Adjutanten eines Feldherrn, die das römische Imperium zum Einstürzen brachte. Vielleicht sind es aber auch viel weniger geschichtsträchtige Augenblicke, die zählen: das Händchenhalten zweier Verliebter zum rechten Zeitpunkt, ein Lächeln, das aus der Tiefe der Seele sprang, ohne damit etwas erreichen zu wollen, der unbedachte Satz eines im Ozean der Geschichte längst vertilgten Einzelgängers, die Abweisung einer Geliebten, der Pantoffel eines Ehepartners – ach, was weiß ich?
Wir alle drehen ständig am Rad der Geschichte, und keiner von uns, kein Einziger, kann sich da ausklinken. Auch wenn eine solche Vogel-Strauß-Politik einfacher wäre: Nein, so wie wir alle ein unvergleichliches und einzigartiges Leben haben, sind wir auch alle an dem beteiligt, was in der Welt geschieht. Am Schönen wie am Schrecklichen.
Vor über 30 Jahren habe ich fast im Rausch und ohne mir wirklich bewusst zu sein, was ich da in einer Nacht zu Papier gebracht habe, meine Elegien »Uns ist kein Einzelnes bestimmt« geschrieben. Sie enden mit den Worten:
Uns ist kein Einzelnes bestimmt.
Ein jeder ist die Menschheit,
geht mit ihr unter
oder wendet sie
zum Guten hin.
Spannend, wie mich nach drei Jahrzehnten diese Verse wieder einholen und wie sie mein Leben in einem neuen Licht erscheinen lassen.
Kann es überhaupt eine objektive Biographie geben?
Bei Egon Friedell, dem genialen Autor der »Kulturgeschichte der Neuzeit«, einem großen Bekenner des Dilettantismus und der subjektiven Geschichtsschreibung, kann man lesen: »Der Unterschied zwischen dem Historiker und dem Dichter ist in der Tat nur ein gradueller. Alles, was wir von der Vergangenheit aussagen, sagen wir von uns selbst aus. Wir können nie von etwas anderem reden, etwas anderes erkennen als uns selbst. Aber indem wir uns in die Vergangenheit versenken, entdecken wir neue Möglichkeiten unseres Ichs, erweitern wir die Grenzen unseres Selbstbewusstseins, machen wir neue, obschon gänzlich subjektive Erlebnisse. Dies ist der Wert und Zweck alles Geschichtsstudiums.«
Schon als sehr junger Mann war ich von Friedell begeistert. Seine radikale Subjektivität, die sich nicht einmal bemühte, objektiven geschichtswissenschaftlichen Standards zu folgen, ließ uns aufhorchen. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind kein Credo, dem man sich wie in der Kirche beugen muss. Man kann sie umstürzen, verwerfen und dann für sich selbst wieder neu entdecken. Wie sollte es da bei einer Biographie anders sein – zumal bei der eigenen?
Meine Biographie ändert sich ständig. Je nachdem, was ich an Neuem dazulerne, erfahren habe, erlebt und erlitten habe, verwandelt sich mein Gedächtnis. Gewisse Fakten bleiben, aber auch nur, weil sie so geschrieben stehen. Geboren am 1.6.1947 in München. Kann ich mich daran erinnern? Natürlich nicht. Man hat es mir gesagt. Der Eintrag vermodert irgendwo in einem städtischen Archiv. Und heute ist es natürlich in der digitalen Welt für immer im kollektiven Gedächtnis eingebrannt. Oder wird von der NSA irgendwann ausgelöscht. Aber wie erlebe ich heute meine Kindheit, und wie erlebte ich sie mit vierzig Jahren? Was ist mir heute wichtig an meinem einstigen Zusammensein mit meinen Eltern, und was war mir mit 17 wichtig?
In den letzten Wochen habe ich mit vielen Menschen darüber gesprochen, meist nach Konzerten, und fast jeder hat mir das bestätigt: Es gibt keine objektive Sicht auf die eigene Biographie.
Genauso hat natürlich der Blick anderer auf mein Leben in erster Linie mit seinem eigenen Erleben zu tun.
War ich als junger Mann für meine Freunde eher ein Konkurrent oder ein Freund, dem man liebend folgen wollte? In den Augen der einen bin ich heute ein Sturkopf, der sich an seine 68er-Ideale klammert und nichts dazugelernt hat, für die andern vielleicht gerade deshalb ein aufrechter Künstler, der seinen Idealen treu geblieben ist.
In den letzten Jahren habe ich zwei Autobiographien geschrieben: »Die Kunst des Scheiterns« und »Mönch und Krieger«. Aber auch meine anderen bisherigen Bücher waren autobiographisch. Für meinen ersten Roman »Uferlos«, die Geschichte eines Drogenabsturzes, gilt das ohnehin, und bei meinem zweiten Roman »Der Klang der ungespielten Töne« sind Kindheit und Jugend Anselm Hüttenbrenners untrennbar mit denen des Konstantin Wecker verbunden.
Vieles aus all diesen Büchern würde ich heute anders schreiben – nicht weil ich glaube, dass es falsch oder schlecht wäre, sondern einfach, weil ich es anders sehe. Weil sich mein Gedächtnis nun anders erinnert an diese Zeiten, als ich das Erlebte damals gespeichert hatte.
Bei meinen Gedichten und den meisten Liedtexten verhält es sich anders. Die Gedichte passieren mir, sie berühren eine tiefere Ebene des Seins, sie sind auch oft frei von persönlichen Erlebnissen, sie sind eher frei von Ratio, sie ereilen mich wie Melodien, und ich habe keinen Zugriff auf den Akt ihres Entstehens. Wie ich oft auf der Bühne sagte: Sie waren und sind immer klüger als ich.
Aber über seine Biographie muss man zuerst mal nachdenken. Und sein Gedächtnis bemühen.
Und da hapert’s sowieso bei mir.
Mit Jahreszahlen hab ich’s nicht so, und bestimmte Phasen meines Lebens sind völlig im Nirwana abgetaucht. Gesichter konnte ich mir auch nur schlecht merken – einzig Gefühle, die ich in bestimmten Situationen hatte, tauchen immer wieder mal aus dem Nebel der Vergangenheit auf.
Aus welchem Grund auch immer, fiel es mir nie schwer, mehr im Jetzt als im Gestern oder Morgen zu verweilen.
Einen Bruder Leichtfuß mochte man mich deshalb gern schelten, aber ich bedauerte das nie, denn es ließ mich öfter die Gegenwart genießen, wo ich mir sonst quälende Gedanken gemacht hätte.
»Vielsorgerei« nennen die orthodoxen Christen diese Gedanken, die man nicht selbst denkt, sondern die einen denken: Gedanken, die einen daran hindern würden, zu Gott zu finden. Nicht dass sie mich nicht auch oft erwischt hätte, diese Vielsorgerei. Sie hat mich sogar häufig in die Knie gezwungen, und erst seit ich ein Lied darüber geschrieben hatte, vor gerade mal 16 Jahren, wurde mir klar, dass ich auch immer schon schwermütig gewesen bin.
Aber im Großen und Ganzen half und hilft mir mein eher schlechtes Gedächtnis, den Augenblick besser zu genießen.
Das kann man natürlich nicht verallgemeinern.
Mein Freund Günter Bauch zum Beispiel, ein Leuchtturm des guten Gedächtnisses, bei dem ich immer wieder wie in einem Lexikon blättern kann, würde sich wohl sehr verbitten, dass er deswegen den Augenblick nicht genießen könne. Ich glaube vor allem, er genießt sein gutes Gedächtnis, das ihn mit zunehmendem Alter aus allen Gleichaltrigen herausragen lässt.
Günter hat mich mein Leben lang als Freund begleitet.
Wir lernten uns im Gymnasium kennen, als Buben, und bis auf ein paar Jährchen Pause blieben wir einander immer eng verbunden.
Wir wohnten in München oft zusammen, wir lebten in Italien im gleichen Dorf und seit vielen Jahren begleitet er all meine Tourneen als Merchandiser.
Günter ist im schönen Sinn des Wortes mein bester Freund von Kindheit an, und wenn wir früher als jugendliche Gockel noch hin und wieder heftig gestritten haben, so hilft uns nun eine gewisse Altersabgeklärtheit, über derartigen Unsinn milde zu lächeln.
Günter war immer schon ein glühender Thomas-Mann-Verehrer, im Gegensatz zu mir, der ich Thomas Mann zwar mochte, aber seinen Sohn Klaus und seinen Bruder Heinrich viel spannender fand. Aber wir haben Günter natürlich wegen seines ungeheuren Wissens über den Nobelpreisträger schon sehr...