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Das Geheimnis des Lebens berühren - Spiritualität bei Krankheit, Sterben, Tod

Eine Grammatik für Helfende

AutorErhard Weiher
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl411 Seiten
ISBN9783170252882
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
Wer in helfenden Berufen arbeitet, wer ehrenamtlich kranke Menschen begleitet, trifft auch auf die Spiritualität von Patienten und Angehörigen - ob in nichtreligiöser oder in religiöser Form: Die konkrete Not sucht Sprache und 'Sinn'. Hier sind alle Begleiter - Pflegende, Ärzte, Sozialarbeiter, Psychologen usw. - gefragt. Palliativ-Konzepte z. B. fordern ausdrücklich, dass Helfer und Helferinnen, Begleiterinnen und Begleiter mit der Spiritualität ihrer Klienten und Patienten kundig umgehen und sie bei ihrer Sinnsuche unterstützen können. Für sie bietet diese 'Grammatik für Helfende' eine Verstehens- und Übersetzungshilfe. Auf der Basis langjähriger praktischer Erfahrung zeigt Weiher an vielen Modellen und Beispielen auf, wie die Kompetenz in spiritueller Begleitung vertieft werden kann und wie Helfende konkret kommunizieren und handeln können. 'Diese erfahrungssatte und wissensreiche Studie 'über' Spiritualität wünsche ich über alle Disziplinen hinweg in die Hand aller mit Kranken und Sterbenden Befassten. Sie werden verlässlich informiert, von Überforderungen entlastet und zur Selbstqualifikation ermutigt.' Prof. Dr. Heribert Wahl, Trier

Erhard Weiher, Diplomphysiker und Dr. theol., ist Pfarrer an den Universitätskliniken Mainz.

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Leseprobe

Teil I


Spiritualität: Kontexte und Verortungen


1.1 Zum Verständnis von Spiritualität und Religion


»Spiritualität ist ein enorm reiches und vielschichtiges Konstrukt, das sich einer simplen Definition ebenso entzieht wie einer leichten Messbarkeit.« (R. A. Emons 2000)

»Ich gehöre zwar keiner bestimmten Religion an, aber ich habe meinen Glauben …« (Eine Patientin)

1.1.1 Annäherungen an das Phänomen Spiritualität

Wer im Krankenhaus, im Hospiz oder in anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens arbeitet, der macht in der Begegnung mit Patienten oder ihren Angehörigen öfter die Erfahrung: Das, was mir da eben begegnet ist, hat etwas mit Spiritualität zu tun. Was der Patient eben gesagt hat, die Geste, die er gemacht hat, das Schweigen in diesem Augenblick hat eine andere Atmosphäre als sonstige Alltagsaussagen und berufliche Handlungen. Solche Momente haben meist wenig Dramatisches oder pathetisch Erhabenes an sich. Sie müssen auch nicht erst in der Nähe des Todes oder in Verbindung mit großer Lebensnot stehen; sie müssen auch nicht direkt mit den großen Lebensthemen, z. B. Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod, Beziehung zu einem höchsten Sinn oder dem Göttlichen in Verbindung stehen. Sie ereignen sich in ganz normalen Situationen und übersteigen diese doch in bemerkenswerter Weise. Natürlich gibt es auch die ›großen‹ Momente von tiefer Ergriffenheit und Erhabenheit; und wir begegnen auch tief religiösen Aussagen und Haltungen. Aber genau diese große Spielbreite von kleinen – eher alltäglichen – bis zu großen Erfahrungen muss heute unter dem Begriff ›Spiritualität‹ Platz finden.

Assoziationen zu Spiritualität

Ein Medizinstudent, der gefragt wird, was er unter Spiritualität versteht, antwortet: »Ist das nicht Voodoo oder so?« Ein anderer: »Wenn ein Mensch betet.«

Pflegekräfte, die gefragt werden, was für ein Bild in ihnen bei dem Wort Spiritualität entsteht, äußern:

  • »Ich denke an Gleichklang und Harmonie«,
  • »… an ein Netz der Geborgenheit unter einem Drahtseilakt«,
  • »… wenn wir tiefe Trauer miteinander teilen«,
  • »… wenn ich sehe, was an diesem Menschen schön ist«.

Theologen und Therapeuten antworten z. B. auf dieselbe Frage:

  • »Anbindung an einen heilen Kern«,
  • »die lebendige Mitte eines Menschen«,
  • »Umgang mit dem Unfassbaren«,
  • »Verbindung mit der göttlichen Weisheit«,
  • »die zentrale, über das Menschliche hinausgehende Lebenskraft«.

Patienten äußern:

  • »Ich fühle mich warm und licht.«
  • »Es war ja noch keiner drüben.«
  • »Bisher war ich Optimist, aber das reicht jetzt nicht mehr.«
  • »Es könnte noch viel tiefer gehen, aber dazu bin ich jetzt zu müde.«
  • »Warum meine Frau? Sie hat doch niemandem etwas getan.«

Bei dem Versuch einer Definition schreiben Arndt Büssing et al.: »Spiritualität ist ein sehr komplexes Konstrukt mit vielen Bedeutungsnuancen.« (Büssing, Ostermann, Matthiessen 2005 a: 15)

So wird als ›spirituell‹ eine Vielfalt von Erlebensmöglichkeiten bezeichnet, z. B.,

  • wenn Menschen eine besonders bewegende Erfahrung machen,
  • wenn sie eine Seelenverwandtschaft mit anderen spüren,
  • wenn sie die Erfahrung machen, ganz bei sich selbst und in Einklang mit ihrem innersten Wesen zu sein,
  • wenn sie eine tiefe Einsicht in Lebens- oder Weltzusammenhänge haben,
  • wenn sie eine tief empfundene Zustimmung zu ihrem (vielleicht sehr eingeschränkten) Sosein und Dasein verspüren,
  • wenn ein Mensch spürt, dass er noch woanders beheimatet ist als im Greifbaren dieser Welt,
  • wenn Menschen sich mit einem höheren Prinzip oder dem Göttlichen in Verbindung wissen.

Spiritualität ist demnach ein tief innerliches Erleben und eine ganz individuelle, sehr intime Gestimmtheit. Und genau dies macht es in der beruflichen Begegnung schwer, angemessen mit dieser Innerlichkeit umzugehen und dazu in Resonanz zu gehen.

Ein erster Begriff

In einer ersten Bestimmung möchte ich zunächst eher formal und noch ganz unspezifisch definieren:

Spiritualität ist eine innerste Gestimmtheit, ein bewusster oder nicht bewusster innerer Geist, der das Alltagsleben transzendiert, aus dem heraus Menschen ihr Leben empfinden, sich inspiriert fühlen und ihr Leben gestalten.

Diese Umschreibung geht davon aus, dass eine solche Gestimmtheit und eine Fähigkeit zu solchem Empfinden im Prinzip jedem Menschen gegeben ist. »Spiritualität ist eine allen Menschen gemeinsame Eigenschaft. Sie ist der Kern unserer Humanität.« (Puchalski 2006: 11)

Die International Work Group on Death, Dying, and Bereavement formuliert in ihren Prinzipien: »Jeder Mensch hat eine spirituelle Dimension.« (IWG 1990: 75) »Spiritualität gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen.« (ebda.) Es ist wichtig, das zu betonen. Denn das bedeutet, dass Menschen eine Spiritualität ›haben‹, auch wenn diese nicht sehr erschlossen ist oder sie derzeit über keinen ausdrücklichen Zugang dazu verfügen. Ebenso können Menschen sich dieses innersten ›Geistes‹ aber auch bewusst sein, diese Verbindung als ›ihre‹ Spiritualität erfahren und sich immer wieder auch in Lebenskrisen darauf beziehen. Eine spirituelle Einstellung kann Menschen also in der eher indirekten Form ein allgemeines Sinnempfinden vermitteln oder sie kann in der ausdrücklichen Form, z. B. einer Religion, einen Welt- und Sinnzusammenhang erfahren lassen, der dem ganzen Leben Halt, Orientierung und Hoffnung gibt.

Spiritualität: nicht nur Gefühl. An den bisherigen Umschreibungen wird bereits deutlich, dass Spiritualität einmal mehr im Gefühls- und Stimmungsbereich beheimatet sein kann, ein anderes Mal mehr in bewussten, reflektierten Lebenskonzepten und wieder ein anderes Mal eher implizit in Haltungen und Einstellungen der Welt und den Lebensereignissen gegenüber. Sie kann aber ebenso in allen drei Bereichen verankert sein und den Menschen in all seinen Dimensionen erfüllen und motivieren. Wenn Spiritualität mehr im Gefühls- oder Denkbereich beheimatet ist, heißt das nicht, sie sei nur Gefühls- oder Gedankensache. Natürlich können Gefühle wesentlich dabei beteiligt sein; kognitive Prozesse können eine sehr wichtige Rolle dabei spielen; ethische Handlungsimpulse können sich damit verbinden. Aber entscheidend ist das Empfinden einer bedeutsamen, ergreifenden Kraft, die sich über Gefühls-, Denk- oder Tu-Funktionen vermittelt, aber nicht darin aufgeht. Wenn man z. B. Menschen mit einer Nahtod-Erfahrung fragt, welches Gefühl oder welche Idee diese Erfahrung ausmacht, dann schauen sie den Frager oft ratlos an: »Das ist kein Gefühl, das ist keine bloße Idee, das ist etwas ganz Anderes, eine unvergleichlich überwältigende Erfahrung.« Manche sagen: »Das ist eher etwas Mystisches.« Spiritualität ist also in gewissem Sinn etwas ›Jenseitiges‹: Sie liegt jenseits des Normalen, Materiellen und der objektiven Wahrnehmung und wird doch im ›Diesseits‹ erfahren.

Die Unschärfe des Begriffs: Nach- und Vorteil. Aus dieser ersten Sichtung wird deutlich, wie diffus und schwer beschreibbar die Wirklichkeit ›Spiritualität‹ ist und wie schwierig es ist, sie einheitlich und allgemeingültig zu definieren. Allan Kellehear schlägt sogar vor, das Phänomen mit »Sehnsucht nach Transzendierung und Sinngebung« zu umschreiben und ansonsten die weitere Entwicklung in der Forschung und auf dem Deutungsmarkt abzuwarten. (Kellehear 2000) Zweifellos ist die begriffliche Unschärfe ein Nachteil im Umgang mit dieser Wirklichkeit. Gleichzeitig steckt in dem schillernden Begriff die Chance, ganz unterschiedliche innere Erfahrungen und subjektive Deutungen mit einem Wort benennbar zu machen, mit dem sich viele Menschen in ihrem sehr persönlichen Erleben von dem, was ihnen tief bedeutsam ist, verstanden fühlen. Das spirituelle Thema ist so inzwischen trotz seiner Vieldeutigkeit zu einem wichtigen Medium des Dialogs zwischen therapeutischen und seelsorglichen Berufen geworden. Das, was mit Spiritualität bezeichnet wird, kommt in der säkularen Welt seit etwa zehn bis fünfzehn Jahren in höchst vielfältiger und unterschiedlicher Weise vor und scheint dennoch von allen verstanden zu werden.

Es ist, als ob man für eine in der Moderne verloren gegangene und vermisste Wirklichkeit jetzt endlich einen Namen gefunden hätte, um damit das Geheimnis des Lebens wieder und neu berühren zu können.

1.1.2 Spiritualität im postmodernen Diskurs

Spiritualität versus Religion?

Während ›Spiritualität‹ noch bis vor wenigen Jahrzehnten ein spezifischer Begriff der Frömmigkeitsgeschichte der christlichen Religion war, ist er heute über den Bereich der Religion hinausgewachsen. Auch wenn ›Spiritualität‹ heute vorwiegend für geistliche Einstellungen außerhalb der christlichen Religion verwendet wird, so muss doch betont werden, dass auch religiöse Menschen das mit ›Spiritualität‹ Gemeinte auch in ihrer eigenen religiösen Praxis und ihrem Erleben empfinden.

Sich von Religion distanzieren? Für viele Europäer ist ›Spiritualität‹ aber zum Gegenbegriff geworden, mit dem sie sich von den traditionellen Religionen und den klassischen Kirchen distanzieren wollen. Im Laufe der Neuzeit und der Entwicklung der Moderne wurde es vielen Menschen wichtig,...

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