Die Kommandozentrale unseres Körpers
Das Gehirn
»Betrachten wir unser Denkorgan als Eis mit drei Bällchen«Gerade für uns Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte sind die Erkenntnisse aus den vergangenen 50 Jahren Hirnforschung sehr wichtig. Wir können damit viele Verhaltensweisen unserer kleinen Patienten und auch ihrer Eltern viel besser verstehen, und das macht es uns möglich, bessere und klarere Empfehlungen auszusprechen.
Wir wissen mittlerweile, dass unser Gehirn nicht starr, sondern viel flexibler und anpassungsfähiger ist, als wir angenommen hatten. Wir können also lernen, die Strukturen in unserem Gehirn zu unserem Vorteil zu verändern, und damit nicht nur unser Leben und unsere Entscheidungen, sondern auch das Leben unserer Kinder und Mitmenschen positiv zu beeinflussen.
Der berühmte Hirnforscher Paul MacLean teilt das Gehirn in drei Bereiche ein: das Stammhirn, das Mittelhirn und die Hirnrinde. Sie können sich die Struktur vorstellen wie ein Eis mit drei Bällchen: Die erste Kugel, die in die Waffel einsinkt, ist der Hirnstamm. Die Kugel darüber ist das Mittelhirn, und die ganz oben ist die Hirnrinde.
Das Stammhirn – es steuert überlebenswichtige Funktionen
»Kinder schaffen es immer wieder, das Krokodil in uns zu wecken«Unser Stammhirn (Medulla Oblongata) ist die Verlängerung des Rückenmarks aus dem Hals heraus und endet im Gehirn. Es hat sich in der Evolution als Erstes entwickelt und ist der primitivste und älteste Teil des menschlichen Gehirns. Es bildet also tatsächlich den Stamm. Hier werden die überlebenswichtigen Funktionen des Körpers gesteuert, wie zum Beispiel die Atmung oder unser Herz-Kreislauf-System.
So übernimmt das Stammhirn etwa die Kontrolle über unseren Körper, wenn wir bewusstlos sind oder nicht denken können. Es läuft immer weiter – wie ein Motor, der noch funktioniert, wenn die Elektrik längst ausgefallen ist.
Das Stammhirn wird manchmal auch als Reptilienhirn bezeichnet, weil Reptilien vereinfacht gesagt nur dieses eine Hirn besitzen. Reptilien denken nicht wie wir, sie handeln reflektorisch. Krokodile oder auch Eidechsen fressen und paaren sich, sie schlafen, fliehen oder attackieren Feinde. Das alles sind Handlungen, die das Überleben der Art sichern. Das Krokodil schnappt sich die Beute, frisst zügig, bis es satt ist, und schläft. Wenn Gefahr droht, flieht es.
Wenn Menschen Gefahr droht, schaltet sich dieses Notaggregat an und sagt uns: »Kämpfen oder fliehen!« Wenn Eltern gestresst sind, ausrasten, ihre Kinder anschreien oder sie sogar schlagen, ist das oft nichts anderes als unüberlegtes primitives Verhalten, wodurch sie sich plötzlich in ein kämpfendes Krokodil verwandeln. Kinder schaffen es immer wieder, das Krokodil in uns zu wecken.
Das Mittelhirn – hier sitzen die Emotionen
»Das Mittelhirn verwaltet unsere Gefühle und beherbergt große Teile des Gedächtnisses«Das Mittelhirn liegt wie ein Saum über dem Stammhirn. Aus diesem Grund wird das Mittelhirn auch limbisches System genannt (Saum heißt auf Lateinisch limbus).
Hier ist der Sitz der Emotionen, der Gefühle und des Gedächtnisses. Jedes Säugetier verfügt über ein Mittelhirn – anders als zum Beispiel Krokodile oder Fische. Im Mittelhirn befinden sich zwei wichtige Bereiche: die Amygdala (lateinisch für: Mandelkern) und der Hippocampus (lateinisch für: Seepferdchen).
Der Mandelkern – hier werden die Sinneseindrücke verarbeitet
Unsere Amygdala (Mandelkern) ist wie ein Detektiv, der nie schläft. Sie bekommt Signale von den Sinnesorganen und verarbeitet die ankommenden Impulse.
Alles, was wir riechen, hören, tasten, spüren, schmecken und sehen, wird von den Sinnesorganen zu diesem kleinen Mandelkern geleitet, von ihm aufgenommen, kategorisiert und in verschiedenste Emotionen übertragen.
»Schon ein Gedanke kann eine Kettenreaktion auslösen, die Botenstoffe durch den ganzen Körper schickt«Diese Informationen werden automatisch an das nebenan befindliche Seepferdchen (siehe unten) kommuniziert, unser Erinnerungszentrum, das Erfahrungswerte speichert und dafür sorgt, dass wir eine Emotion oder ein Gefühl empfinden und ein Stück weit auch wieder abrufen können.
Davor ist aber zunächst der kleine Mandelkern in unserem Gehirn für alles zuständig, was mit Emotionen und Gefahr zusammenhängt. Werden wir auf der Straße angegriffen, schaltet sich als Erstes die Amygdala ein. Durch sie sind wir in der Lage, Ängste und Sorgen zu fühlen, und durch sie nehmen wir Stress wahr.
Wenn wir uns erschrecken oder Gefahr bemerken, veranlasst die Amygdala eine Kettenreaktion, die in verschiedenen Orten im Körper zu einer sofortigen Freigabe von sogenannten Stresshormonen wie Kortisol, Noradrenalin und Adrenalin ins Blut führt. Allein ein Gedanke kann diese Kettenreaktion auslösen.
Wenn wir erfahren oder auch nur glauben, dass unsere Kinder krank werden, geschieht genau das. Schon eine Diagnose kann diese Kettenreaktion auslösen, und wir spüren, wie durch die Ausschüttung der Stresshormone unsere Knie weich werden und unser Mund austrocknet.
Auch der Puls steigt, damit das Blut schneller durch den Körper fließt. Ist der Stress hoch, wird die Nebennierenrinde ständig von Nerven und Botenstoffen »informiert«, doch bitte noch mehr Kortisol und Adrenalin in die Blutbahn zu setzen.
Diese Achse ist ein zentraler Bestandteil des sogenannten sympathischen Nervensystems. Es ist eine Reiz-Reaktions-Verbindung, die unbewusst abläuft und, einmal in Gang gesetzt, nicht mehr bewusst vom Gehirn kontrolliert werden kann.
Eigentlich haben die Stresshormone sehr nützliche Funktionen. Sie sollen uns bei der Anpassung an Veränderungen im Leben helfen und verschaffen uns die nötige Energie dazu. So geben sie uns etwa Kraft, wenn wir weglaufen oder kämpfen müssen. Es ist letztlich eine Verstärkung des Stammhirn-Konzeptes »Kämpfen oder Fliehen«.
Doch während das Stammhirn das Konzept vor allem bei akuter Gefahr in Gang setzt – etwa bei einer heranrauschenden Straßenbahn –, reichen für die Aktivierung der Achse über die Amygdala auch schlechte Gedanken, wie Unzufriedenheit, Kummer und Unglücklichsein, als Stress. In der Fachsprache werden alle Faktoren, die unsere Amygdala dazu bringen, das sympathische Nervensystem zu aktivieren, Stressoren genannt.
Die Amygdala ist aber nicht nur zuständig für Stress und Angstgefühle, sondern auch für alle positiven Gefühle, die wir empfinden. Dazu gehören unter anderem Glück und Bindungsgefühle.
In der Evolution unterschieden sich Säugetiere im Allgemeinen und der Mensch im Besonderen schon früh von anderen Lebewesen dadurch, dass sie soziale Bedürfnisse hatten. Sie lebten in Herden, wanderten gemeinsam umher und beschützen sich gegenseitig auf der Suche nach Nahrung. Im Laufe der Zeit prägten sich diese Bedürfnisse immer stärker aus. Es entstanden Gefühle der Bindung wie Liebe, Empathie, Dankbarkeit, Respekt, Demut, Trauer, Freude, Angst und Hass.
Die Amygdala nimmt all diese Emotionen auf.
Das Seepferdchen – ein Tierchen mit enormem Gedächtnis
»Der Hippocampus ist wie eine intelligente Festplatte, die verarbeitet und speichert, was wir erleben – und das schon ab der Zeit im Mutterleib«Eng benachbart zur Amygdala liegt ein anderer Teil des Mittelhirns, der Hippocampus (Seepferdchen). Der Name kommt von der gebogenen Form, die dem Tier ähnelt. Der Hippocampus ist zuständig für unser Kurzzeitgedächtnis und Erinnerungsvermögen. Wenn der Detektiv Amygdala etwas spürt, wird das Seepferdchen aktiv und liefert sofort dazu passende Informationen.
Unsere Erlebnisse im Alltag werden permanent mit den Erinnerungen im Hippocampus abgeglichen und entsprechend bewertet: »Das war schlecht, das war gut, und als du das gemacht hast, gab es Probleme und du hast Ärger bekommen. Das machst du besser nicht noch mal.«
Der Hippocampus ist wie eine intelligente Festplatte, die alles aufnimmt, was wir erleben, und sie wird bereits im Mutterleib aktiviert. Sie speichert unsere ganze Kindheit mit ihren Erlebnissen und Beobachtungen ab, auch wenn wir uns später nicht bewusst daran erinnern. Die hier gesammelten Informationen sind nicht nur wichtig für unser Überleben. Die Erfahrungen und Erinnerungen prägen auch unser Verhalten und unsere Meinungen.
Emotionen und Erlebnisse, also Amygdala und Hippocampus, sind wie Zwillinge.
Vereinfacht gesagt erinnern wir uns mit ihnen an unsere Erlebnisse, und wir reagieren mit der passenden Emotion wie Freude oder Trauer, Wut oder Angst darauf.
Die Erlebnisse sind wie ein Film im Hippocampus gespeichert. Er hat die Bilder der Vergangenheit fein säuberlich aufgezeichnet. Die damit verbundenen Emotionen wiederum nähren Urteile und Vorurteile, und so entstehen Handlungsabläufe, die auf Erfahrungen beruhen.
Vor allem die gefährlichen oder schlimmen Erinnerungen werden sehr sorgfältig aufbewahrt. Das ist eine Art Schutzmechanismus, um Fehler nicht zu wiederholen.
Leider erlebe ich in meiner Praxis oft, dass...