Die Diktatur der Zeit
Angst, Hektik, Erschöpfung: Unser überfrachteter Alltag macht uns kaputt. Der Sozialphilosoph Hartmut Rosa zeigt Wege zu einem besseren Leben.
von GABRIELE RIEDLE
Kurz vor neun Uhr abends wird er ein halbes Käsebrötchen aus der Instituts-Cafeteria gegessen haben, die andere Hälfte wird noch immer auf dem Schreibtisch neben den Papierstapeln und den Büchern liegen, und die Besucherin kann nur hoffen, dass, wenn sie sich endlich verabschiedet hat, um in letzter Sekunde auf den Zug vom Bahnhof Jena-Paradies in Richtung Berlin zu springen, Hartmut Rosa wenigstens noch die paar Bissen zu sich nehmen wird, bevor er nach diesem Zwölfstunden-Tag den halben Abend damit verbringt, Mails zu beantworten.
Warum haben Sie denn nicht wenigstens mittags etwas gegessen?
»War keine Zeit dazu. Ausufernde Gremiensitzung«, antwortet Rosa, ein Mann mit geraden Worten und geradem Blick. Außerdem, so fügt er hinzu, mache ihm das wirklich nichts aus und er sei an dergleichen gewöhnt. Die Besucherin zieht trotzdem ein bedenkenvolles Gesicht und ist kurz davor, ihm Ratschläge zu geben. Er ist ja ohnehin eher schmächtig.
Dabei hat sie inzwischen verstanden, dass es Wichtigeres gibt als Mittag- oder Abendessen beziehungsweise langsam vor sich hin trocknende Brötchenhälften.
Schließlich geht es Rosa, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität zu Jena, derzeit einer der einflussreichsten deutschen Gesellschaftstheoretiker, um nichts weniger als um die zumindest vorletzten Dinge, die das Diesseits kennt. Um die Grundfrage der abendländischen Philosophie seit Platon: danach, was ein gutes beziehungsweise ein gelingendes Leben ist. Wobei sich daran, laut Rosa, die nächste Frage gleich anschließt: warum wir kein gutes Leben haben.
Dass es mit unserem persönlichen und gesellschaftlichen Dasein unter den gegenwärtigen Bedingungen so nicht weitergehen kann, versteht sich dann praktisch von selbst.
Das Problem?
Eigentlich alles.
Wachstumsdenken. Beschleunigung. Allumfassender Wettbewerb.
Also genau das, was unser gegenwärtiges kapitalistisches Gesellschaftssystem hauptsächlich ausmacht.
Der Einzelne, so Rosa, sei darin ohnmächtig, alles und jeder unterliege dem Diktat der Zeit und der Steigerungslogik des Immerschneller und Immermehr. Schnellere Autos, schnellere Handys, mehr Arbeitsproduktivität, mehr Waren, mehr Absatz, mehr Kontakte. Alles, um wenigstens den Status quo zu erhalten. Und wer sich dem zu entziehen versuche und auch nur eine Sekunde stehen bleibe bei dem, was er schon erreicht hat, sei sofort verloren. Weil wir ständig weitermachen müssen, nur um nicht zurückzufallen, spricht Rosa vom »rasenden Stillstand« und davon, dass die ganze Gesellschaft vor der kollektiven Erschöpfung stehe. Und dass umgekehrt das System ohne Wachstum zusammenbreche und Modernität nun einmal vor allem Geschwindigkeit sei, sei ja ebenfalls bekannt. Das Bruttosozialprodukt muss in einer kapitalistischen Gesellschaft einfach ständig gesteigert werden, sonst sind wir alle am Ende.
Unsere gesamte Existenzweise sei »dringend reformbedürftig«, hat Rosa einmal geschrieben, womit er allerdings stark untertrieben hat. An diesem Dienstag in Jena benutzt er, was die Voraussetzungen für unser zukünftiges gutes Leben betrifft, lieber das Wort »Revolution«. Dabei zieht er genüsslich die Luft durch die Zähne und lacht so fröhlich, dass gar nichts anderes übrig bleibt als mitzulachen.
Winzige Unterbrechung eines Wasserfalls von Worten. Rosa spricht mit bezaubernd singender Schwarzwälder Melodie, aber in einem Tempo, das Zuhörer nach Luft schnappen lässt. Irgendwie schafft er es, andere Leute innerhalb kürzester Zeit zu so etwas wie Komplizen zu machen. Konspiration, fällt der Besucherin ein, heißt ja nichts anderes als gemeinsam zu atmen.
»Ja, genau!«, ruft Rosa. »Das ist letztlich auch das, was ich Resonanzverhältnis nenne. Und da sind wir fast schon beim guten Leben.«
Revolution? Resonanz? Das gute Leben?
Moment bitte noch.
Jetzt sind wir erst einmal bei heftiger Arbeitsverdichtung, und zwar im Leben des Hartmut Rosa. Auch so ein Schlüsselbegriff aus dem Sündenregister des Kapitalismus. Nur scheint Rosa zu denjenigen zu gehören, die unter all ihren Verpflichtungen nicht leiden. Im Gegenteil.
Zwei Vollzeit-Jobs, einer als Professor hier an der Uni Jena, wo er an diesem Dienstag in einem Büro mit Zimmerpflanzen und Fotos von Berglandschaften sitzt, einer als Direktor des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien an der Uni Erfurt. Gleichzeitig Direktor des Jenaer Forschungskollegs Postwachstumsgesellschaften. Tagungen hier, Kongresse dort, Bücher, Aufsätze, aber auch viel Hochschulgrau mit endlosen Gremiensitzungen und Verwaltungsarbeit.
Daneben all die Interviews und öffentlichen Auftritte. Zeitungen, Radio, Fernsehen, kaum ein Tag ohne irgendeine Anfrage, irgendwie ist Rosa im Moment überall. Bei seinen Vorträgen müssen manchmal Säle wegen Überfüllung geschlossen werden, und im Frühsommer erschien er sogar beim Kirchentag in der Stuttgarter Schleyer-Halle. Podiumsdiskussion mit Joachim Gauck, auch hier zum Thema »Gutes Leben, kluges Leben«. Fast zehntausend Zuschauer, der Bundespräsident, mit Kirchentags-Fan-Schal und staatstragender Gemächlichkeit, und der jungenhafte Rosa mit maximalem sprachlichem Furor. Mehrzweckhallenjubel für sozialphilosophische Thesen. Wann hat es so etwas schon einmal gegeben?
Gleichzeitig kommt in Rosas Leben aber auch immer noch ein Heimatdorf in der Nähe des Schluchsees im Hochschwarzwald vor. Samt Häuschen, Garten, Bienenstöcken, Katze und Griff in die Tasten der Kirchenorgel zu hohen Feiertagen. Später Höhepunkt einer frühen Karriere als Keyboarder in einer dörflichen Heavy-Metal-Band. Sei übrigens eine gar nicht allzu seltene Entwicklung, sagt Rosa lachend, »bei Menschen mit einem gewissen Hang zum Gedröhn«. Außerdem hat er einen verbundenen und geschienten rechten Zeigefinger vorzuzeigen: »Hammerfinger nennen die das, schauen Sie sich das an.« Sehnenverletzung, zugezogen beim Volleyballspielen. Dafür findet er tatsächlich auch noch Zeit? Aber das ist doch sicher alles viel zu viel!
Entspanntes Kopfschütteln.
»Nö.«
Die Erklärung folgt auf dem Fuß. Das Stichwort heißt »Selbstwirksamkeitserfahrung«. So nennt Rosa das, was er, anders als so viele andere heutzutage, durch seine Arbeit erlebt und was man in einer weniger sozialwissenschaftlichen Terminologie womöglich auch als »Erfüllung« bezeichnen könnte. Oder womöglich einfach als Glück.
Schlimm werde es hingegen, wenn es an dieser Erfahrung mangele. Die Leute, sagt Rosa, mache ja oft nicht so sehr die schiere Masse dessen, was sie zu tun haben, fertig. Sondern dass ihnen das, was sie machen, gar nichts mehr sagt und sie damit auch nichts bewegen und niemanden berühren können – ein Gefühl völliger Entfremdung von dem, was sie umgibt. Obendrein wüssten sie, dass es ihnen nicht einmal etwas hilft, wenn sie sich ständig abstrampeln. Wenn sie heute schnell arbeiteten, müssten sie, gemäß der Steigerungslogik des kapitalistischen Systems, morgen noch schneller werden. Aber übermorgen seien sie womöglich trotzdem ihren Job los, weil er wegrationalisiert wird. Ein schon strukturell grauenhaft anstrengendes Dasein, zusätzlich zu den täglichen Aufgaben und Mühen, weshalb Rosa eine »wachsende Erschöpfung des spätmodernen Subjekts« diagnostiziert.
Und er formuliert dazu Sätze, die so viele in der einen oder anderen Weise berühren, weil jeder mit ihnen eigene Erfahrungen verbinden kann. Kein Wunder, dass die Leute an Rosas Lippen hängen.
Es sind dies meist keine grundstürzend neuen Erkenntnisse. Aber immerhin hat Rosa damit eine Diskussion begonnen, die sonst kaum geführt wird in Zeiten, in denen selbst in der Krise positives Denken, gute Laune am stressigsten Arbeitsplatz, fröhlicher Konsum der überflüssigsten Waren, freudiges Einverständnis in die Gesetze des Marktes und generelle politische Alternativlosigkeit angesagt sind. »Kulturpessimismus«, schimpfte deshalb der Bundespräsident beim Kirchentag, »Schlechtreden des westlichen Freiheitsmodells«, »Verächtlichmachung der Welt«, wo die Leute doch vielmehr dankbar sein sollten für Freiheit und Wohlstand und überhaupt alles Erreichte. Selbst eine so liebenswürdig vorgetragene Kritik wie die von Rosa gilt offensichtlich schon als Sakrileg, erst recht, wenn er dazu noch die Systemfrage stellt.
Rosa spricht jedenfalls unbeirrt von den rutschenden Abhängen, an denen wir stehen. Von der Angst, zu versagen und missachtet zu werden. Vom Kampf um Wertschätzung und Anerkennung, der in unserer Wettbewerbsgesellschaft jeden Tag von Neuem beginnt. Vom Ausgeliefertsein an etwas, das unseren Bedürfnissen radikal zuwiderläuft. Von existenzieller Unsicherheit. Von der Furcht vor sozialem Abstieg, der uns nachts schweißgebadet aufwachen lässt. Vom Gefühl, dass alle unsere Bemühungen umsonst sind.
Schließlich erkennt Rosa gar eine »neue Form des Totalitarismus«. Weil wir dem System einfach nicht entrinnen können. »Was hat das«, ruft Rosa, »noch mit den Versprechen der Moderne von Glück, Freiheit, Demokratie, Selbstbestimmung zu tun?!«
Hört sich so an, als sei jetzt doch die Sache mit der Revolution dran.
Rosa: »Sag ich ja.«
Wobei die Revolution allerdings ein weiteres Mal kurz warten muss.
Erst noch Gremiensitzung, Doktorandensprechstunde und jetzt gleich Vorlesung. Einführung in die theoretische Soziologie, heute Karl Marx...