Eine ermutigende Perspektive:
PARADIGMENWECHSEL IN DER MEDIZIN
Wann genau es so weit sein wird, lässt sich jetzt noch nicht vorhersagen. Vielleicht dauert es noch ein oder zwei Jahrzehnte. Aber dass es so kommen wird, ist gegenwärtig bereits absehbar. Wer dann als Suchbegriff »Paradigmenwechsel in der Medizin« in sein Notebook – oder wie immer diese digitalen Geräte dann heißen mögen – eingibt, wird dort einen bemerkenswerten Eintrag finden.
»Ein zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Gang gekommener Prozess des Umdenkens, der in kurzer Zeit alle Bereiche der Heilkunde erfasst hat und zu einer grundsätzlichen Neuorientierung nicht nur von medizinischer Forschung und Theoriebildung, sondern vor allem auch der therapeutischen Praxis führte. Bis zur Jahrtausendwende war noch die historisch gewachsene Vorstellung verbreitet, Erkrankungen seien die Folge der Einwirkung schädlicher äußerer Einflüsse oder im Körper entstandener, angeborener oder im Verlauf des Lebens eingetretener Fehlfunktionen und Störungen. Aus diesem Grund wurde damals mit großem Aufwand versucht, die als objektive Ursachen von Erkrankungen betrachteten Einwirkungen und krankmachenden Veränderungen möglichst früh zu erkennen und sie durch entsprechende Eingriffe abzustellen. Diese aus dem Funktionsmechanismus von Maschinen abgeleitete Betrachtungsweise wurde abgelöst durch die Erkenntnis, dass jeder Organismus grundsätzlich in der Lage ist, von außen stammende oder in seiner inneren Organisation entstandene Störungen durch die Mobilisierung eigener Abwehrkräfte zu unterbinden, zu kompensieren oder auszugleichen. Was bis dahin als eine durch geeignete Verfahren zu bekämpfende Erkrankung betrachtet worden war, erwies sich nun als Folge einer Überlastung oder einer unzureichenden Wirksamkeit der Fähigkeit des Organismus zur Selbstheilung. Aus dieser Erkenntnis erwuchs nicht nur ein neues Verständnis über das Zusammenspiel von krankmachenden und gesundmachenden Prozessen. Es begann sich auch die Erkenntnis durchzusetzen, dass niemand einen Patienten heilen, sondern nur mit größtmöglicher Kompetenz dafür sorgen kann, die Fähigkeit des betreffenden Patienten beziehungsweise seines Organismus zur Selbstheilung wirksam zu stärken.
Diese neue Erkenntnis bedeutete das Ende der Reparaturmedizin. Angedeutet hatte sich der Paradigmenwechsel schon länger. Die ihm zugrundeliegende neue Betrachtungsweise war sogar bereits von Anfang an in der Heilkunde angelegt. Sie wurde auch schon in der Vergangenheit von einzelnen Vertretern immer wieder aufgegriffen und weiterentwickelt. Aber durchsetzen konnte sich dieser Ansatz nicht. Dazu war die ausschließlich auf die Bekämpfung von Krankheiten und die Reparatur gestörter Funktionen oder den Austausch defekter Körperteile orientierte Medizin über lange Zeit viel zu erfolgreich. Kaum jemand hatte es deshalb zu Beginn des 21. Jahrhunderts für möglich gehalten, dass sich ein so tiefgreifender Paradigmenwechsel in der Heilkunde innerhalb eines so kurzen Zeitraumes ereignen könne.«
Das Umdenken fällt uns Menschen nicht leicht. Allein das Nachdenken über irgendeine Entwicklung, die wir beobachten, bereitet uns Mühe. Das hat einen sehr einfachen Grund: Schon im Ruhezustand, also wenn wir überhaupt nichts tun und an nichts denken, verbraucht unser Gehirn etwa zwanzig Prozent der vom Körper bereitgestellten Energiereserven. Sobald wir uns erheben und zu denken anfangen, steigt dieser Energieverbrauch rapide an. Da die innere Organisation und die Arbeitsweise des Gehirns darauf ausgerichtet ist, die dort ablaufenden Prozesse und Beziehungen so zu ordnen, dass möglichst wenig Energie verbraucht wird, ist das Nachdenken oder gar das Umdenken, bildlich gesprochen, nicht das, was unser Gehirn am liebsten macht. Deshalb halten wir uns lieber an das Bewährte und versuchen das beizubehalten, was bisher gut geklappt hat und im Gehirn so gut gebahnt worden ist, dass es nun fast automatisch abläuft. Und je erfolgreicher wir bisher mit einer bestimmten Vorstellung oder Handlungsstrategie vorangekommen sind, desto schwerer fällt uns das Umdenken. Damit wir dazu bereit sind und uns darauf einlassen, muss schon etwas sehr Gravierendes passieren. Es muss etwas geschehen, das diese bewährten alten Denkmuster völlig infrage stellt. Wir müssen ein Problem haben, das sich mit diesem Denkansatz überhaupt nicht lösen lässt. Oder noch einfacher: Wir müssen uns mit unseren bisherigen Vorstellungen und Strategien in eine Falle hineinmanövriert haben, aus der wir so nicht wieder herauskommen.
Aus diesem Grund lautet jetzt die spannende Frage: Was war Anfang des 21. Jahrhunderts so Einschneidendes geschehen? Was war damals der entscheidende kräftige Strahl oder der ausschlaggebende Tropfen, der den Wassereimer der bis dahin von der überwiegenden Zahl von Medizinern geteilten Überzeugungen zum Überlaufen und sogar zum Umkippen brachte? Um eine politische Entscheidung wird es sich dabei nicht gehandelt haben. Es war sicher auch kein Beschluss oder eine Erklärung einer Ärzteversammlung. Es musste wohl etwas gewesen sein, das nicht nur einige wenige Mediziner zum Nachdenken zwang, sondern sehr viele. Möglicherweise also ein Befund, der etwas zutage gefördert hatte, das bis dahin niemand für möglich hielt. Und der ein völlig neues Licht auf eine Erkrankung warf, an der sehr viele Menschen litten und für die es mit den bisher verfolgten Strategien nicht gelungen war, eine wirksame Behandlung zu finden. Krebserkrankungen beispielsweise. Aber auf diesem Gebiet war Anfang des Jahrhunderts nichts Einschneidendes passiert. Wenn also Krebs ausfiel, bliebe nur noch die andere große Plage der Menschheit im 21. Jahrhundert übrig: Demenz. Demenzerkrankungen erfüllen alle Voraussetzungen unserer Überlegungen. Sie breiteten sich damals immer weiter aus und stellten die Gesundheitssysteme vor enorme Herausforderungen. Seit Jahrzehnten war auf diesem Gebiet erfolglos geforscht und nach geeigneten Behandlungsmethoden gesucht worden.
Versuchen wir es einmal, und geben wir in unsere Suchmaschine »Demenz« ein. Das Ergebnis: 5,3 Millionen Treffer. So kommen wir nicht weiter. Also spezifischer: »Demenz, bahnbrechende Studien«. Ziemlich weit oben taucht nun »Nonnenstudie« auf, eine etwas seltsame, salopp wirkende Bezeichnung. Doch dazu gibt es dann noch mehr zu finden. Und beim Lesen wird klar, dass das Ergebnis dieser offenbar recht sorgfältig durchgeführten und nicht so leicht angreifbaren Untersuchung an Nonnen damals jedes Medizinerhirn in Wallung gebracht haben muss. Denn laut dieser Nonnenstudie gibt es offenbar Personen, deren Gehirn genauso degeneriert und mit Ablagerungen übersät ist wie das von Patienten mit einer schweren Alzheimer-Demenz, bei denen aber – und jetzt halten Sie sich bitte fest – bis ins hohe Alter, bis zu ihrem Tod kein Gedächtnisverlust oder andere Symptome einer Demenz aufgetreten sind.1
Das ist nun in der Tat ein Befund, der so ziemlich alles auf den Kopf stellt, was Mediziner und Demenzforscher im vergangenen Jahrhundert geglaubt und zur Grundlage ihrer Suche nach einer wirksamen Behandlung gemacht hatten. Wenn es nicht die objektiv sichtbaren und messbaren Degenerationen und Ablagerungen im Gehirn sind, die eine dementielle Erkrankung mit all ihren Symptomen verursachen, was ist es dann?
Fast zwei Jahrzehnte sind nun schon seit der Veröffentlichung dieser Nonnenstudie vergangen. Das Ungeheuerliche ihrer Ergebnisse beginnt erst jetzt allmählich in das Bewusstsein all jener zu gelangen, die sich mit der Erforschung und Behandlung dementieller Erkrankungen befassen. Aber jeder Paradigmenwechsel – nicht nur in der Medizin, sondern auch in allen anderen Wissenschaftsdisziplinen – beginnt mit einer Beobachtung, die mit den bis dahin für zutreffend erachteten Vorstellungen unvereinbar ist.
Wenn wir also in ein oder zwei Jahrzehnten die anfangs erwähnten Erklärungen zum Suchbegriff »Paradigmenwechsel in der Medizin« bis zum Ende lesen, könnte dort der Hinweis stehen: »Ausgelöst wurde diese Entwicklung durch die Ergebnisse einer bahnbrechenden Studie auf dem Gebiet der Demenzforschung, die als Nonnenstudie bezeichnet wird.«
Aber wir leben nicht in der Zukunft. Und dieser große Paradigmenwechsel hat noch nicht stattgefunden. Er ist lediglich jetzt schon absehbar. Und wie bei jedem grundlegenden und tiefreichenden Veränderungsprozess, den eine Wissenschaftsdisziplin, eine Gesellschaft oder auch ein einzelner Mensch durchläuft, wird sich auch in diesem Fall erst im Nachhinein sehr gut beschreiben lassen, wie er seinen Anfang nahm und welche ungeahnte Kettenreaktion er auslöste. Ob es sich dabei, wie im ausgehenden Mittelalter, um ein grundlegend neues Verständnis vom Aufbau unseres Planetensystems handelt oder um die Auflösung des Ostblocks und die friedliche Revolution in der DDR oder um eine endlich vollzogene Trennung von einem anderen Menschen nach vielen Jahren einer unglücklichen und unerfüllten Partnerschaft – immer geht es dabei weniger um die Frage, wie ein so grundlegender und offenbar auch notwendiger Veränderungsprozess im Einzelnen abläuft, sondern warum es so lange dauert, bis er endlich in Gang kommt.
Das gilt auch für den...