1 Ich will nicht immer die Undankbare sein
Dankbar, mit dem neuen Jahr ein Leben voller Dankbarkeit beginnen zu können
Glücklich, weil ich jetzt weiß, dass Dankbarkeit Stress vermindern, den Schlaf verbessern und mich glücklicher machen kann
Froh über dieses hübsche Tagebuch, das ich nur mit guten Gedanken füllen werde
Mein Wunsch nach einem Leben voller Dankbarkeit erwachte an einem Silvesterabend kurz vor Mitternacht. Die Finger um ein Champagnerglas geklammert und ein festgefrorenes Lächeln auf den Lippen, stand ich auf einer Party. Eigentlich hätte ich mir bewusst machen sollen, wie gut es mir ging, stattdessen zählte ich die Minuten, bis ich endlich nach Hause aufbrechen konnte. Wegen meiner extrem hohen High Heels taten mir die Füße weh, und mir dröhnte der Kopf von der lauten Musik. Ich trug mein kleines Schwarzes, das ein bisschen zu eng war, und konnte es kaum erwarten, mir zu Hause die Miederwäsche vom Leib zu reißen.
Im Fernseher in der Ecke lief New Year’s Rockin’ Eve, die traditionelle Silvestersendung, und als ich sah, wie erst die Leute in Kalifornien jubelten, dann die Menschen in Washington miteinander anstießen und schließlich in Boston die Massen ausgelassen tobten, fragte ich mich, ob ich als Einzige in ganz Amerika nicht in Feierlaune war. Vielleicht waren die anderen aber auch nur bessere Schauspieler.
In New York stießen ungefähr eine Million Menschen einen donnernden Schrei aus, als es auf Mitternacht zuging und am Times Square der Ball langsam am Wolkenkratzer herabsank. Es herrschten ungefähr sieben Grad minus, und da die Menge von mobilen Metallzäunen in Schach gehalten wurde und keine Dixi-Klos in Reichweite waren, konnte man verstehen, dass sie Mitternacht herbeifieberte. Das neue Jahr auf der Toilette zu begießen würde in jeder Hinsicht eine große Erleichterung sein.
Der Ball hatte sein Ziel erreicht, und unter dem Konfettiregen leuchtete auf der Anzeigetafel das neue Datum auf.
«Ein gutes neues Jahr!»
Mein Mann Ron küsste mich kurz auf die Wange, und wir stießen miteinander an.
Nun, da die Spannung verflogen war, schien niemand mehr recht zu wissen, was er mit sich anfangen sollte. Im Fernsehen senkte sich der Ball bereits in der x-ten Wiederholung, als handelte es sich um die Mondlandung oder den entscheidenden Touchdown beim Super Bowl. Nicht weit von mir an der Bar schenkte sich eine Frau ein weiteres Glas Champagner ein. Ihre Wimperntusche war verschmiert, Tränen liefen ihr über die Wangen.
«Alles in Ordnung?», fragte ich.
«Nein.» Sie wischte sich über die Augen. «Ich hasse Silvester. Warum macht man sich vor, alles wäre anders, nur weil der Zeiger über die Zwölf gerückt ist? Der Prinz mit seinem Schuh ist auch nicht vorbeigekommen und hat mich zur Prinzessin gemacht.»
Ich beschloss, mit ihr lieber nicht über die Details von Aschenputtel zu streiten (nein, meine Gute, um Mitternacht hat sie den Schuh verloren und sich von einer Prinzessin wieder in ein normales Mädchen verwandelt), und wandte mich ab. Ihre Frage aber ließ mich nicht mehr los. Würde sich tatsächlich etwas ändern? Wir feiern Silvester mit großen Hoffnungen und wahnsinnigen Erwartungen – was (abgesehen von der Miederwäsche) der Grund dafür sein mag, dass sich so viele Menschen unwohl fühlen. Die Frau hatte recht: Das Leben wurde nicht besser, bloß weil man ein Kalenderblatt umgeschlagen hatte.
Objektiv gesehen ging es mir gut, das wusste ich. Ich hatte zwei wunderbare Söhne, einen attraktiven Ehemann, einen interessanten Beruf und gute Freunde. Doch wie so viele von uns konzentrierte ich mich eher auf die negativen Seiten meines Lebens als auf die positiven. Die vergangenen zwölf Monate waren ohne Probleme verlaufen, allerdings auch ohne Höhen, die mich veranlasst hätten, außer mir vor Freude durch die Straßen zu tanzen. Ich stellte mir vor, wie ich den Silvesterabend in einem Jahr verbringen würde. Was brauchte ich, um zu Mitternacht in einem Jahr glücklicher zu sein, als ich es augenblicklich war? Vielleicht würde ich in den kommenden zwölf Monaten im Lotto gewinnen, in ein Südseeparadies umziehen oder einen Bestseller schreiben. Aber würde sich dadurch wirklich etwas ändern? Ich hörte mich bereits murren, die Steuern auf den Gewinn seien viel zu hoch, die Sonne auf Maui brenne zu heiß, und sechs Wochen auf der Bestsellerliste seien kaum zufriedenstellend.
Wenn das kommende Jahr nach dem Muster des vergangenen Jahres ablief, würden zahlreiche gute und weniger gute Dinge passieren. Ich hatte kürzlich eine landesweite Umfrage zum Thema Dankbarkeit betreut und in der Talkshow Today darüber berichtet. Die Umfrage hatte mich nachdenklich gestimmt und angeregt, mich intensiver mit den Auswirkungen einer positiven Einstellung zu befassen. Daher wusste ich, dass meine Gefühle beim nächsten Jahresrückblick vermutlich weniger von den tatsächlichen Ereignissen abhängen würden als von der Stimmung, Gemütsverfassung und Haltung, mit der ich jedem einzelnen Tag gegenübertrat. Nicht die Umstände waren entscheidend, sondern meine Art und Weise, damit umzugehen. Ich konnte tatenlos darauf warten, dass etwas Wunderbares passierte – und daran dann immer noch etwas auszusetzen haben. Oder ich akzeptierte, was geschah, und versuchte allem ein bisschen mehr Wertschätzung entgegenzubringen.
Als ich meinen Mantel holte, traf ich auf die Frau, die nicht länger Aschenputtel sein wollte.
«Ich wünsche Ihnen alles Gute für das neue Jahr», sagte ich.
«Das nützt auch nichts mehr», entgegnete sie.
«Vielleicht können Sie etwas tun, um es besser zu machen. Übrigens ein hübscher Mantel, den Sie da haben», sagte ich, als sie einen braunen Lammfellmantel überstreifte.
«Ach, der ist schon alt. Ich hätte lieber einen neuen. Ihrer ist viel hübscher.»
Ich hätte sie darauf hinweisen können, dass meiner kaum neuer war als ihrer und einen Fleck auf dem Ärmel hatte, aber ich hielt mich zurück. Hatte ich nicht gerade beschlossen, meine Stimmung, Gemütsverfassung und Haltung zu ändern? Mein Mantel war plötzlich ein Symbol für mein Leben: Ich besaß ihn, also galt es ihn auch zu schätzen. Ich wollte nicht länger undankbar sein.
«Er ist weich und warm», sagte ich fröhlich und schob die Hände in die Taschen. Sogleich glitt mein Finger in ein Loch. Aber weder das Loch noch ein Fleck oder ein unordentlicher Saum konnte mich bremsen. Wenn ich am kommenden Silvester glücklicher sein wollte als an diesem, musste ich noch heute anfangen, meine Einstellung zu ändern.
* * *
Am nächsten Morgen wachte ich früher auf als beabsichtigt. Die milde Wintersonne schien durch die Plisseerollos in unserer Wohnung im Zentrum Manhattans. Vor knapp zwei Jahren waren wir in die Stadt gezogen, nachdem wir lange Zeit in einem Vorort gewohnt hatten, und wir liebten die großen Fenster und die Aussicht auf den Fluss. (Meine erwachsenen Söhne hatten gescherzt, wir hätten den einzigen Platz in der Stadt gefunden, an dem man sich fühle wie in den Außenbezirken.) Die Wettervorhersage hatte vor einem Schneesturm gewarnt, dabei war der Winter ohnehin schon extrem schneereich und kalt. Doch ich zwang mich, innezuhalten und die wenigen Sonnenstrahlen zu genießen, die durch die stahlgrauen Wolken drangen.
Als ich aus der Küche Geschirrklappern hörte, zog ich rasch eine Jeans und ein T-Shirt an und gesellte mich zu Ron, der das Frühstück machte. Obwohl wir an dem Morgen allein waren, hatte er so viele Lebensmittel auf der Arbeitsplatte ausgebreitet, dass eine ganze Armee satt geworden wäre.
«Findest du mich eigentlich undankbar?», fragte ich.
«Du brauchst dich nicht zu bedanken, wenn ich Arme Ritter brate», antwortete er und drehte die Toastscheibe um, die in der Pfanne brutzelte. «Es macht mir Spaß.»
«Ich meine größere Dinge als das Frühstück. Findest du, ich sollte es mehr würdigen … was ich habe im Leben?»
«Oh, im Leben.» Er starrte in die Pfanne, offenbar damit beschäftigt, einen hausgemachten Sinnspruch zusammenzubrutzeln. «Vielleicht ist es dir wirklich nicht so viel wert, wie es sollte. Du siehst eher die Fehler als das Gute.»
«Ich will mich bemühen, von jetzt an dankbarer zu sein», erklärte ich. «Das ist mein Vorsatz für dieses Jahr. Ich glaube, es wird mich glücklicher machen. Vielleicht sogar uns beide.»
«Einen Versuch ist es wert», meinte er.
Das war alles. Mein Entschluss stand fest. Wir würden sehen, was sich daraus ergab.
Ron legte den Pfannenheber beiseite, und heißes Fett tropfte auf die Arbeitsplatte. Ich wollte schon etwas sagen, biss mir dann aber auf die Zunge. Wenn ich eher das Gute sehen wollte als die Fehler, dann sollte ich den kleinen Buttersee auf der Granitplatte wohl besser ignorieren und stattdessen auf den Duft von warmem Zimt und Vanille achten, der durch den Raum zog. Ich schloss die Augen und machte mir bewusst, was für ein...