How do you do?
How do you do? Auch nach dem Brexit-Votum, durch das sich so einiges ändern wird – wohlgemerkt in Großbritannien und der EU mit ihrer Brüsseler Schaltzentrale –, muss sich kein deutscher Tourist Sorgen machen, im Lande William Shakespeares nicht freundlich willkommen geheißen zu werden. Nur eines könnte sich ändern. Während sich in deutschen Landen auf die Frage «Wie geht’s?» ein Gegenüber durchaus schon einmal zur Klage über dieses und jenes Wehwehchen hingerissen fühlt, blieb sie jenseits des Ärmelkanals bis zum Juni 2016 in aller Regel aus. Wird das auch in einem Jahr noch so sein?
Andere Länder, andere Sitten. Wenn zum Beispiel morgens die Hausdame eines Hotels freundlich lächelnd befindet: «Lovely day, isn’t it?», ist der skeptische Blick gen Himmel unnötig. Schließlich kann diese Bekundung, selbst wenn es gerade die sprichwörtlichen Hunde und Katzen regnet, als Auftakt zu einem lockeren Plausch bzw. Smalltalk genutzt werden, der wiederum mit allerlei Bemerkungen über das auch in Deutschland einfach unkalkulierbare Wetter bestens verlaufen wird. Politische Sottisen oder gar kritische Anmerkungen über das Königshaus sind beim echt britischen Smalltalk tabu.
How do you do? Als die meisten der rund 46,5 Millionen wahlberechtigten Briten am 23. Juni 2016, einem ganz normalen Werktag, in die von 7 bis 22 Uhr geöffneten Wahllokale, die polling stations, strömten, um mit einem Kreuzchen darüber zu entscheiden, ob ihr Königreich in der EU bleiben oder austreten solle, tummelte ich mich in der Fußgängerzone von Newbury. Dieses in der Grafschaft Berkshire angesiedelte Städtchen beherbergt nicht zuletzt die Verwaltungsbauten des Vodafone-Konzerns, dessen Beschäftigte vom örtlichen Handel nur zu gern gesehen werden. In der Highstreet traf ich mittags auf mehrere Aktivistinnen und Aktivisten der Vote-Remain-Kampagne – der Befürworter der EU-Mitgliedschaft. Ich erhielt von ihnen einen schmalen blauen Werbezettel mit den durch kleine Fotos ergänzten Aussagen: mehr Jobs, niedrigere Preise, geschützte Arbeitnehmerrechte, eine bessere Zukunft. Darunter die Aufforderung: VOTE REMAIN TODAY. Einen Sticker erhielt ich auch – als ich ihn am Revers anbrachte, ging ein älterer Herr vorbei, der ein rotes Klebeschildchen mit weißer Schrift trug: VOTE LEAVE. Viele Leute mit dieser Austritts-Aufforderung an der Kleidung begegneten mir im Zentrum Newburys nicht – auch stieß ich auf keine Werberinnen und Werber der Vote-Leave-Kampagne. Stattdessen stand ich kurz darauf vor dem Marktstand eines Kurzwarenhändlers, der die Rückseite seines Stands mit einer großen Europaflagge geschmückt hatte. Als ich ihn fragte, wie er die Abstimmungslage einschätzte, meinte er: «Es wird knapp. Aber ein Austritt aus der EU wäre das Letzte, was ich zu erleben wünsche.»
In Newbury, das nicht weit von Oxford liegt, hatte ich nicht den Eindruck, dass sich die Briten für den Brexit entscheiden würden. Einige Tage zuvor, nach meiner Ankunft in Dover, indessen schon. In der Grafschaft Kent waren die orangeroten Vote-Leave-Plakate nicht zu übersehen – sie hingen nicht nur an vielen Stellwänden, sondern zu meiner Verblüffung auch an unzähligen Hauseingängen und sogar an einigen landestypischen, mit hohen kegelförmigen Dächern versehenen Darrehäusern, den Oast Houses. So typisch wie allgegenwärtig sind vor den Häusern Großbritanniens von jeher die bunten Stelltafeln der Hausmakler – es gibt auf der Insel keine längere Straße, in der nicht mindestens ein Verkaufs- oder SOLD-Schild ins Auge springt. Aber so viele Tafeln mit politischen Absichtsbekundungen vor Privathäusern hatte ich in England nie zuvor wahrgenommen – sie wirkten auf mich so gar nicht British.
In dem kleinen Nest Pett Bottom gibt es ein beliebtes Anlaufziel: das Pub The Duck. Es logiert in einem 1621 errichteten, langgestreckten und mit Tonschindeln verkleideten Cottage und wartet mit gescheuerten Tischen, einem offenen Feuer und köstlichen real ales auf, die aus den hinter der Bar unter Kühlmänteln liegenden Fässern gezapft werden. Zu den früheren Stammgästen des Landgasthofs gehörte der 1964 verstorbene James-Bond-Schöpfer Ian Fleming. Als ich, der deutsche EU-Bürger, an der Bar mit zwei jungen englischen EU-Bürgern das Gespräch suchte und dabei zaghaft gegen die zu normalen Zeiten gepflegte britische Höflichkeitsregel verstieß, nicht mit der Politik ins Haus zu fallen, blieben meine beiden Gesprächspartner zwar kurz angebunden; der eine gab mir jedoch zu verstehen, es sei höchste Zeit, dass Britannien wieder unabhängig werde und die Immigrantenflut zurückdränge, denn die Jobs würden immer schlechter bezahlt, weil die Polen und Rumänen für die Unternehmer billiger als jeder anständige Brite wären. Der andere murmelte zwischen zwei Schlucken aus dem Bierglas, es sei wirtschaftlich wenig sinnvoll, aus der EU auszutreten, aber er hätte sich noch nicht entschieden, wie er abstimmen werde. Als ich darauf etwas irritiert in die Runde schaute, tippte mir eine gerade an die Bar gekommene ältere Dame auf die Schulter. «I will vote Leave!», sagte sie. Ich fragte nach ihrem Namen – «Pamela» –, fragte, was ich ihr bestellen könne, orderte den gewünschten Cider und lauschte eine gute halbe Stunde den Argumenten, die sie mir zu meiner Verwunderung, denn politische Positionsmitteilungen sind in England bei Kneipengesprächen in der Tat unüblich, nur zu bereitwillig offenlegte.
Pamela erklärte, das Königreich müsse wieder unabhängig werden, denn nur so könne es den verlorengegangenen self-respect und die Identität als große Nation wiedererlangen, nur so könne es als souveräne Demokratie ohne Maßregelungen vom Europäischen Gerichtshof seine Zukunft gestalten. «Wir müssen endlich wieder selbst über unsere Gesetze, Grenzen und Steuern bestimmen können», meinte sie nachdrücklich, nippte am Cider und schaute mir dann fest und freundlich lächelnd in die Augen. «Ich weiß, Sie hören das nicht gern als Deutscher, und glauben Sie mir, ich bin gern im Rheinland bei Bekannten und bin eine gute Freundin Ihres Landes, aber bei Licht betrachtet ist unser Land nur noch ein Satellit des von Ihren Politikern beherrschten Superstaats Europäische Union. Wir werden immer mehr von der sklerotischen Brüsseler Bürokratie gegängelt und müssen dafür viel zu viel bezahlen. Mit der von der EU ermöglichten Einwanderung kann es so nicht weitergehen. Wir haben nicht genug Wohnraum, und unsere Schulen werden platzen, wenn das so weitergeht. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht», beschloss sie ihre Ausführungen, «aber wir Briten haben nicht vergessen, wie übel den Griechen und Italienern mitgespielt wurde, als von ihnen gewählte Regierungen durch die EU abgesetzt wurden. Schon deshalb müssen wir unser Schicksal selbst in die Hände nehmen und nicht Brüsseler Entscheidern überlassen, die wir nie ins Amt gewählt haben und die wir nicht abwählen können.»
So weit mein kleiner Beitrag zur oral history des Geschehens kurz vor dem Ereignis, das die einen dann als «Independence Day» feierten und die anderen fassungslos als «Black Friday» beklagten.
Bevor ich in den folgenden Kapiteln den faktischen Hintergrund für das Geschehen um die Abstimmung über Brexit oder Bremain skizziere und zum Verständnis der Hintergründe auf Land und Leute näher eingehe, möchte ich eine vielen Deutschen liebgewonnene Gewohnheit ansprechen. Die für das Vereinigte Königreich oder Großbritannien alternativ gern gebrauchte Bezeichnung «England» führt spätestens nach dem Übertritt der «Grenzen» zu Schottland und Wales zu Irritationen, denn dort hört England auf. Wales heißt bei den Einheimischen auch nicht Wales, sondern Cymru. Im Falle der unionistischen Iren sind die Dinge komplexer. Mein Kollege, der Nordire Ian Watson, schrieb mir, ich müsse den Lieblings-Chant der nordirischen Fans beachten (zur Melodie «She’ll be coming round the mountain»): «We hate England more than you.» Und er vermerkte: «Mein unionistischer Vater hat immer behauptet: ‹In Dublin they hate the British and love the English, and in Belfast they hate the English and love the British.›»
Übrigens gibt es auch gewisse gesetzliche Einschränkungen für die Titulierung «Brite»; ich komme darauf zurück.
Der Zeitraum 43 bis 410 unserer Zeitrechnung liegt zwar schon ein Weilchen zurück. Aber auch in jenen Tagen fürchteten sich viele Bewohner der Insel vor Fremden, die in ihr Land strömten. Vor den Besatzern des römischen Imperiums, um genau zu sein. René Goscinny und Albert Uderzo veranlassen ihre Helden Asterix und Obelix in einem ihrer Abenteuer dazu, sich in jener Zeit BEI DEN BRITEN umzutun. Auf einer Wagenfahrt gen London fragt Asterix den Kutscher: «Ist es noch weit bis Londinium?» – «Nein, nur ein paar Fuß. Die Römer messen die Entfernungen in Schritten, wir in Fuß!» Als sich Obelix an den Kopf fasst – «In Fuß?» –, erklärt der Kutscher: «Man braucht sechs Fuß, um zu tun einen Schritt!» Prompt entfährt Obelix der Befund: «Die spinnen, die Briten!»[1]
Noch immer? Schließlich sind die Zeiten der römischen Besatzer lange vorbei. In Form der zum Unionsvertrag erweiterten römischen Verträge sind kontinentale Einflüsse freilich höchst gegenwärtig. Und vielen Insulanern geht das offensichtlich zu weit. Auf die unbedingte...