Sie sind hier
E-Book

Die spinnen, die Briten

Das Buch zum Brexit

AutorJohann-Günther König
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783644400351
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
Sie haben es wirklich getan. Und es ist ein politisch unerhörter, noch nie dagewesener Vorgang, der uns alle betreffen wird: Wirtschaft, Tourismus, den englischen Freund und die Freundin von nebenan, die in Deutschland arbeiten. Dass sich beim Referendum am 23. Juni 52 Prozent der Stimmberechtigten für den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU aussprachen - im Grunde hatte niemand es geglaubt. Zerfällt jetzt Großbritannien? Oder gar Europa nach weiteren Referenden? Was bedeutet der «Brexit» für die Briten, die Europäer und für uns? Wie geht es jetzt weiter, nachdem das britische Volk gesprochen hat? Im Vereinigten Königreich, in Brüssel und in den verbliebenen 27 EU-Staaten? Und wie konnte es überhaupt so weit kommen? England- und EU-Experte Johann-Günther König erklärt das moderne Großbritannien, Land und Leute, ihr Alltagsleben, ihre Obsessionen, ihre kulturelle und ethnische Vielfalt. Er zeigt, wie kulturelle Eigenheiten, wirtschaftliche Hybris, politische Grundsatzentscheidungen und der Zerfall gesellschaftlicher Eckpfeiler die Briten immer weiter vom Kontinent entfernt haben. Das Brexit-Votum macht die Tragik eines Landes sichtbar, das vorher schon zerrissen war und seine Probleme am falschen Ort auslebte - und damit alles nur noch schlimmer gemacht hat. Ein kompetenter und kompakter Übersichtsband, der anhand zahlreicher Fakten über Ursachen und Folgen des Brexit informiert und sie verstehbar macht - alles, was man jetzt wissen muss; Orientierung aufs Wesentliche im Dschungel der Berichte und Debatten.

Johann-Günther König, geboren 1952 in Bremen, Dr. phil; Studium der Sozialpädagogik, Promotion im Rahmen der Kinderkulturforschung. In den 1990er Jahren arbeitete er als Manager für ein Großunternehmen.  Bei Rowohlt zuletzt erschienen: 'Die spinnen, die Briten' (2016).       

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

How do you do?


How do you do? Auch nach dem Brexit-Votum, durch das sich so einiges ändern wird – wohlgemerkt in Großbritannien und der EU mit ihrer Brüsseler Schaltzentrale –, muss sich kein deutscher Tourist Sorgen machen, im Lande William Shakespeares nicht freundlich willkommen geheißen zu werden. Nur eines könnte sich ändern. Während sich in deutschen Landen auf die Frage «Wie geht’s?» ein Gegenüber durchaus schon einmal zur Klage über dieses und jenes Wehwehchen hingerissen fühlt, blieb sie jenseits des Ärmelkanals bis zum Juni 2016 in aller Regel aus. Wird das auch in einem Jahr noch so sein?

Andere Länder, andere Sitten. Wenn zum Beispiel morgens die Hausdame eines Hotels freundlich lächelnd befindet: «Lovely day, isn’t it?», ist der skeptische Blick gen Himmel unnötig. Schließlich kann diese Bekundung, selbst wenn es gerade die sprichwörtlichen Hunde und Katzen regnet, als Auftakt zu einem lockeren Plausch bzw. Smalltalk genutzt werden, der wiederum mit allerlei Bemerkungen über das auch in Deutschland einfach unkalkulierbare Wetter bestens verlaufen wird. Politische Sottisen oder gar kritische Anmerkungen über das Königshaus sind beim echt britischen Smalltalk tabu.

How do you do? Als die meisten der rund 46,5 Millionen wahlberechtigten Briten am 23. Juni 2016, einem ganz normalen Werktag, in die von 7 bis 22 Uhr geöffneten Wahllokale, die polling stations, strömten, um mit einem Kreuzchen darüber zu entscheiden, ob ihr Königreich in der EU bleiben oder austreten solle, tummelte ich mich in der Fußgängerzone von Newbury. Dieses in der Grafschaft Berkshire angesiedelte Städtchen beherbergt nicht zuletzt die Verwaltungsbauten des Vodafone-Konzerns, dessen Beschäftigte vom örtlichen Handel nur zu gern gesehen werden. In der Highstreet traf ich mittags auf mehrere Aktivistinnen und Aktivisten der Vote-Remain-Kampagne – der Befürworter der EU-Mitgliedschaft. Ich erhielt von ihnen einen schmalen blauen Werbezettel mit den durch kleine Fotos ergänzten Aussagen: mehr Jobs, niedrigere Preise, geschützte Arbeitnehmerrechte, eine bessere Zukunft. Darunter die Aufforderung: VOTE REMAIN TODAY. Einen Sticker erhielt ich auch – als ich ihn am Revers anbrachte, ging ein älterer Herr vorbei, der ein rotes Klebeschildchen mit weißer Schrift trug: VOTE LEAVE. Viele Leute mit dieser Austritts-Aufforderung an der Kleidung begegneten mir im Zentrum Newburys nicht – auch stieß ich auf keine Werberinnen und Werber der Vote-Leave-Kampagne. Stattdessen stand ich kurz darauf vor dem Marktstand eines Kurzwarenhändlers, der die Rückseite seines Stands mit einer großen Europaflagge geschmückt hatte. Als ich ihn fragte, wie er die Abstimmungslage einschätzte, meinte er: «Es wird knapp. Aber ein Austritt aus der EU wäre das Letzte, was ich zu erleben wünsche.»

In Newbury, das nicht weit von Oxford liegt, hatte ich nicht den Eindruck, dass sich die Briten für den Brexit entscheiden würden. Einige Tage zuvor, nach meiner Ankunft in Dover, indessen schon. In der Grafschaft Kent waren die orangeroten Vote-Leave-Plakate nicht zu übersehen – sie hingen nicht nur an vielen Stellwänden, sondern zu meiner Verblüffung auch an unzähligen Hauseingängen und sogar an einigen landestypischen, mit hohen kegelförmigen Dächern versehenen Darrehäusern, den Oast Houses. So typisch wie allgegenwärtig sind vor den Häusern Großbritanniens von jeher die bunten Stelltafeln der Hausmakler – es gibt auf der Insel keine längere Straße, in der nicht mindestens ein Verkaufs- oder SOLD-Schild ins Auge springt. Aber so viele Tafeln mit politischen Absichtsbekundungen vor Privathäusern hatte ich in England nie zuvor wahrgenommen – sie wirkten auf mich so gar nicht British.

In dem kleinen Nest Pett Bottom gibt es ein beliebtes Anlaufziel: das Pub The Duck. Es logiert in einem 1621 errichteten, langgestreckten und mit Tonschindeln verkleideten Cottage und wartet mit gescheuerten Tischen, einem offenen Feuer und köstlichen real ales auf, die aus den hinter der Bar unter Kühlmänteln liegenden Fässern gezapft werden. Zu den früheren Stammgästen des Landgasthofs gehörte der 1964 verstorbene James-Bond-Schöpfer Ian Fleming. Als ich, der deutsche EU-Bürger, an der Bar mit zwei jungen englischen EU-Bürgern das Gespräch suchte und dabei zaghaft gegen die zu normalen Zeiten gepflegte britische Höflichkeitsregel verstieß, nicht mit der Politik ins Haus zu fallen, blieben meine beiden Gesprächspartner zwar kurz angebunden; der eine gab mir jedoch zu verstehen, es sei höchste Zeit, dass Britannien wieder unabhängig werde und die Immigrantenflut zurückdränge, denn die Jobs würden immer schlechter bezahlt, weil die Polen und Rumänen für die Unternehmer billiger als jeder anständige Brite wären. Der andere murmelte zwischen zwei Schlucken aus dem Bierglas, es sei wirtschaftlich wenig sinnvoll, aus der EU auszutreten, aber er hätte sich noch nicht entschieden, wie er abstimmen werde. Als ich darauf etwas irritiert in die Runde schaute, tippte mir eine gerade an die Bar gekommene ältere Dame auf die Schulter. «I will vote Leave!», sagte sie. Ich fragte nach ihrem Namen – «Pamela» –, fragte, was ich ihr bestellen könne, orderte den gewünschten Cider und lauschte eine gute halbe Stunde den Argumenten, die sie mir zu meiner Verwunderung, denn politische Positionsmitteilungen sind in England bei Kneipengesprächen in der Tat unüblich, nur zu bereitwillig offenlegte.

Pamela erklärte, das Königreich müsse wieder unabhängig werden, denn nur so könne es den verlorengegangenen self-respect und die Identität als große Nation wiedererlangen, nur so könne es als souveräne Demokratie ohne Maßregelungen vom Europäischen Gerichtshof seine Zukunft gestalten. «Wir müssen endlich wieder selbst über unsere Gesetze, Grenzen und Steuern bestimmen können», meinte sie nachdrücklich, nippte am Cider und schaute mir dann fest und freundlich lächelnd in die Augen. «Ich weiß, Sie hören das nicht gern als Deutscher, und glauben Sie mir, ich bin gern im Rheinland bei Bekannten und bin eine gute Freundin Ihres Landes, aber bei Licht betrachtet ist unser Land nur noch ein Satellit des von Ihren Politikern beherrschten Superstaats Europäische Union. Wir werden immer mehr von der sklerotischen Brüsseler Bürokratie gegängelt und müssen dafür viel zu viel bezahlen. Mit der von der EU ermöglichten Einwanderung kann es so nicht weitergehen. Wir haben nicht genug Wohnraum, und unsere Schulen werden platzen, wenn das so weitergeht. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht», beschloss sie ihre Ausführungen, «aber wir Briten haben nicht vergessen, wie übel den Griechen und Italienern mitgespielt wurde, als von ihnen gewählte Regierungen durch die EU abgesetzt wurden. Schon deshalb müssen wir unser Schicksal selbst in die Hände nehmen und nicht Brüsseler Entscheidern überlassen, die wir nie ins Amt gewählt haben und die wir nicht abwählen können.»

So weit mein kleiner Beitrag zur oral history des Geschehens kurz vor dem Ereignis, das die einen dann als «Independence Day» feierten und die anderen fassungslos als «Black Friday» beklagten.

Bevor ich in den folgenden Kapiteln den faktischen Hintergrund für das Geschehen um die Abstimmung über Brexit oder Bremain skizziere und zum Verständnis der Hintergründe auf Land und Leute näher eingehe, möchte ich eine vielen Deutschen liebgewonnene Gewohnheit ansprechen. Die für das Vereinigte Königreich oder Großbritannien alternativ gern gebrauchte Bezeichnung «England» führt spätestens nach dem Übertritt der «Grenzen» zu Schottland und Wales zu Irritationen, denn dort hört England auf. Wales heißt bei den Einheimischen auch nicht Wales, sondern Cymru. Im Falle der unionistischen Iren sind die Dinge komplexer. Mein Kollege, der Nordire Ian Watson, schrieb mir, ich müsse den Lieblings-Chant der nordirischen Fans beachten (zur Melodie «She’ll be coming round the mountain»): «We hate England more than you.» Und er vermerkte: «Mein unionistischer Vater hat immer behauptet: ‹In Dublin they hate the British and love the English, and in Belfast they hate the English and love the British.›»

Übrigens gibt es auch gewisse gesetzliche Einschränkungen für die Titulierung «Brite»; ich komme darauf zurück.

Der Zeitraum 43 bis 410 unserer Zeitrechnung liegt zwar schon ein Weilchen zurück. Aber auch in jenen Tagen fürchteten sich viele Bewohner der Insel vor Fremden, die in ihr Land strömten. Vor den Besatzern des römischen Imperiums, um genau zu sein. René Goscinny und Albert Uderzo veranlassen ihre Helden Asterix und Obelix in einem ihrer Abenteuer dazu, sich in jener Zeit BEI DEN BRITEN umzutun. Auf einer Wagenfahrt gen London fragt Asterix den Kutscher: «Ist es noch weit bis Londinium?» – «Nein, nur ein paar Fuß. Die Römer messen die Entfernungen in Schritten, wir in Fuß!» Als sich Obelix an den Kopf fasst – «In Fuß?» –, erklärt der Kutscher: «Man braucht sechs Fuß, um zu tun einen Schritt!» Prompt entfährt Obelix der Befund: «Die spinnen, die Briten!»[1]

Noch immer? Schließlich sind die Zeiten der römischen Besatzer lange vorbei. In Form der zum Unionsvertrag erweiterten römischen Verträge sind kontinentale Einflüsse freilich höchst gegenwärtig. Und vielen Insulanern geht das offensichtlich zu weit. Auf die unbedingte...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Gesellschaft - Männer - Frauen - Adoleszenz

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Weitere Zeitschriften

BEHINDERTEPÄDAGOGIK

BEHINDERTEPÄDAGOGIK

Für diese Fachzeitschrift arbeiten namhafte Persönlichkeiten aus den verschiedenen Fotschungs-, Lehr- und Praxisbereichen zusammen. Zu ihren Aufgaben gehören Prävention, Früherkennung, ...

dima

dima

Bau und Einsatz von Werkzeugmaschinen für spangebende und spanlose sowie abtragende und umformende Fertigungsverfahren. dima - die maschine - bietet als Fachzeitschrift die Kommunikationsplattform ...

ea evangelische aspekte

ea evangelische aspekte

evangelische Beiträge zum Leben in Kirche und Gesellschaft Die Evangelische Akademikerschaft in Deutschland ist Herausgeberin der Zeitschrift evangelische aspekte Sie erscheint viermal im Jahr. In ...

e-commerce magazin

e-commerce magazin

e-commerce magazin Die Redaktion des e-commerce magazin versteht sich als Mittler zwischen Anbietern und Markt und berichtet unabhängig, kompetent und kritisch über ...