I. Spiritualität – nur etwas für »Esoteriker«?
Jeder Mensch ist spirituell!
Spiritualität verbinden viele nur mit der Esoterik, mit Menschen, die auf Esoterikmessen gehen, Tarotkarten legen, Wasseradern suchen oder in Indien irgendwelche Gurus aufsuchen. Dass dies falsch ist, wird klar, wenn man sich beispielsweise bewusst macht, dass allein 2010 über 270 000 Menschen auf dem Jakobsweg pilgerten. Die Soziologin Julia Reuter untersuchte den Pilgerboom und fand heraus, dass sich der Anteil der deutschen Pilger in den letzten 20 Jahren verzwanzigfacht hat. Darunter sind Lehrer, Manager, Berater und Ingenieure, also ganz unterschiedliche Berufsgruppen. Auch die Verkaufszahlen des Buchs »Ich bin dann mal weg« von Hape Kerkeling zeigen das starke Interesse am Pilgern vieler Menschen.
Was ist Spiritualität dann? Das lateinische Wort »spiritus« bedeutet »Geist« und damit zielt die Spiritualität auf das Geistige im Menschen. Es geht aber weniger um Formen des Denkens (Bewerten, Planen usw.), sondern um eine übernatürliche und absolute Geistigkeit des Menschen, die uns gottähnlich und suchend macht. Deshalb wollen wir unsere Begrenzungen überwinden und wir fragen uns: »Warum lebe ich eigentlich?«, und: »Was will ich in meinem Leben erreichen?« Diese Fragen und dieses Suchen tragen wir alle in uns, wie auch der Psychologe Rudolf Sponsel betont:
Jeder Mensch ist seiner Natur nach spirituell […]. Spiritualität ist weder eine eigentlich esoterische noch religiöse Praktik, sondern eine grundlegende Dimension des Menschseins. Damit ist Spiritualität auch kein Reservat von Gurus, Religionsstiftern, Propheten oder Priestern.
Spiritualität begegnet uns auch als Mitgefühl, Dankbarkeit, Achtung vor allem Leben, Toleranz, Gebet oder Gottvertrauen. Diese Themen berühren und bewegen viele Menschen, sonst gäbe es zum Beispiel nicht solch ein riesiges Angebot an spirituellen Büchern.
Mit der Spiritualität eng verbunden ist eine bestimmte Form von Glück, ein Glückszustand von Einssein und Ganzheit, nach dem sich unsere Geistigkeit sehnt. Einssein bedeutet, mit allem Leben eine tiefe Verbundenheit und Liebe zu spüren. Ganzheit heißt, nicht einseitig zu leben, sondern alle Facetten des Selbst zum Ausdruck bringen zu können. Es sind von innen heraus entstehende Qualitäten und deshalb kann das Glück der Spiritualität nie von Äußerlichkeiten, von etwas Materiellem bewirkt werden. Der spirituelle Mensch lässt sich weder mit Zufriedenheit abspeisen, noch sucht er sein Heil im Erfolg, in einem Lottogewinn oder in einem attraktiven Äußeren. Diese zerbrechlichen, oberflächlichen und schnelllebigen Formen des Glücks befriedigen ihn nicht, können seinen Hunger nicht stillen.
Wer sich nicht selbst erkennt, wird sich immer fremd bleiben
Finden können wir dieses Glück nur in uns, denn die Liebe eines Menschen und seine Ganzheit liegen tief in ihm als etwas Geistiges verborgen. Es ist nur für denjenigen zu erlangen, der sich aufrichtig mit sich selbst auseinandersetzt und sich ernsthaft fragt: »Wer bin ich wirklich?«, und: »Was liegt in mir verborgen?«
Auf diese Weise wird ein Mensch sich seiner Stärken bewusst und kämpft mit seinen Schwächen. Er wird nach und nach optimistischer, offener, gelassener und geduldiger. Mit dem Schwierigen im Leben lässt sich leichter und konstruktiver umgehen und es entwickeln sich zu anderen Menschen tiefere und damit erfüllte Beziehungen.
Schauen wir tiefer, erkennen wir, dass das Geistige nicht nur in uns lebt, sondern alles Ausdruck eines Geistigen ist. Dieses schrittweise Erwachen lässt uns das Leben noch einmal anders und klarer erleben und man beginnt, sich über die einfachsten Dinge zu freuen. Es wächst ein Bewusstsein für das Glück zu leben und für die Liebe, die man von anderen Menschen geschenkt bekommt. Ein solcher Mensch ist empfänglicher für das »kleine Glück«, also für die Freude, die wir bei einem Sonnenaufgang empfinden oder wenn uns jemand ein Lachen schenkt. Für ihn ist vieles ein Wunder, worüber er nur staunen und glücklich sein kann. Für den »geistig Schlafenden« hat dies keine Bedeutung, ihm fehlt dafür das Bewusstsein. Er wird von seinen Defiziten durchs Leben getrieben, die er immer durch etwas Äußeres vergessen machen will, anstatt sich selbst zu ändern.
Das Glück der Spiritualität muss noch aus einem anderen Grund individuell gefunden und gelebt werden: Das Geistige eines Menschen drückt sich immer als etwas Einzigartiges aus. Deshalb sind Menschen verschieden und daher gibt es ganz unterschiedliche Wege, dieses Glück auszudrücken. Die Glückskonzepte anderer – etwa die, die uns Familie oder Gesellschaft aufdrängen – sind also nicht nur häufig zerbrechlich, sie missachten vor allem unsere Individualität.
Begibt man sich auf die Suche nach weiteren Voraussetzungen für das spirituelle Glück, findet man besonders viele und auch nützliche Hinweise in unzähligen spirituellen Ratgeberbüchern. Im »Leitfaden zu Besinnung, Gelassenheit und vollkommener geistiger Stärke« spricht Sharon Janis beispielsweise von der Ehrlichkeit, Bescheidenheit und Willensstärke. Dem Thema fehlt allerdings oft die Tiefe, weil keine Zusammenhänge beschrieben, sondern nur einfache Handlungsempfehlungen gegeben werden. Auf den Einzelnen und seine individuelle Situation wird nicht eingegangen, was aber notwendig ist, um die eigenen Blockaden überhaupt verstehen und überwinden zu können. Bleibt man an der Oberfläche, kommt man nicht wirklich weiter, weil Spiritualität auf das Tiefgründige und Verborgene im Menschen zielt.
Aber auf etwas weiteres Wichtiges sind wir schon gestoßen: Das Glück der Spiritualität hat einen Außenbezug, weil das Wesen des Menschen – insbesondere seine Liebe – nichts Isoliertes ist, das nur auf sich selbst bezogen ist.
Dieser Seite des spirituellen Glücks können wir uns über den Sinn nähern. Denn etwas macht glücklich, wenn es Sinn enthält oder, wie es der Philosoph Wilhelm Schmid (47) ausdrückt: »Wo aber Sinn erfahrbar wird, ist Glück die Folge.« Sprechen wir zum Beispiel mit jemandem und ist das Gesagte Sinn machend aufeinander bezogen, entsteht ein schönes Gefühl. Dazu gehört zunächst einmal, sich selbst, also die eigenen Vorstellungen und Gefühle, ausdrücken zu können. Die zweite Herausforderung ist, uns so zur Umwelt in Beziehung zu setzen, dass eine fruchtbare und lebendige Verbindung entsteht. Dieses gelungene Bezogensein können wir nur erleben, wenn wir Situationen verstehen und es uns gelingt, auf sie angemessen zu reagieren. Denn vielleicht will unser Gesprächspartner gar kein angenehmes Gespräch führen, sondern provozieren, indem er unsere Worte ganz bewusst unsachlich aufgreift und aus dem Zusammenhang reißt. Dann sind wir aufgefordert, dies zu erkennen und darauf zu reagieren, sonst ärgert oder zumindest ermüdet uns die Unterhaltung.
Leicht ist das nicht. Etwas wirkt sinnlos, wenn wir den Zusammenhang zwischen einer Erfahrung und uns selbst nicht sehen. In astrologischen und psychologischen Beratungsgesprächen dreht sich viel um die Frage nach dem Sinn. Der Ratsuchende kämpft mit dem Sinn, kann ihn nicht erkennen. Manchmal erscheint ihm sogar sein ganzes Leben sinnlos. Das Leben selbst ist aber vollkommen und ohne Fehler. Es liegt vielmehr an der Art und Weise, wie wir dem Leben gegenübertreten, auf Situationen reagieren.
Spirituelle Entwicklung bedeutet deshalb nicht, die materielle Welt, in der wir leben, gering zu schätzen oder den Bezug zu ihr zu verlieren und im wahrsten Sinne des Wortes abzuheben. Sie ist der Weg und das Schulhaus für ein geistiges Leben. Ohne diese materielle Welt mit all ihren Irrwegen kann niemand zu dem werden, der er im tiefen Inneren ist. Aufgabe ist es, sich ihren Herausforderungen zu stellen, sie tatsächlich zu meistern, nicht nur fadenscheinig, sich selbst täuschend. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn behauptet wird, Spiritualität sei ohne Mühe zu haben. So sagt Christian Opitz (7) in seinem Buch über den Weg des direkten Erwachens:
Wir müssen keine besonderen Voraussetzungen erfüllen, um das zu erfahren, was die Mystiker in glorreichen Worten als »Gott«, »Erleuchtung«, »Tao« oder das »Absolute« beschrieben haben. Wir müssen uns nichts verdienen, erarbeiten, unser Denken transformieren oder irgendetwas anderes aus uns machen.
Wo sind dann aber die vielen Erleuchteten, wenn es derart einfach ist? Das klingt so, wie wenn jemand die Besteigung des Mount Everest mit einem Spaziergang vergleicht (man müsse es nur klug genug anstellen). Oder wie viele Menschen kennen Sie, die ihre Schattenthemen ganz einfach, ohne Kampf überwunden haben? Es erscheint nicht gerade hilfreich, zu versichern: »Spiritualität musst du dir nicht erarbeiten, du musst dich nicht verändern.« Sicherlich verkauft es sich besser, als ehrlich und unumwunden zu sagen: »Du musst dich schon von Grund auf hinterfragen und bereit sein, alles einzusetzen, willst du das Höchste erlangen.«
Auf dem Weg zum Einssein gilt es also einiges zu...