„Erinnere dich an die Lötmittel für die Kugel von Santa Maria del Fiore... „ 2
Der rätselhafte Satz hat schon manchem Forscher, der sich mit dem Genie der Renaissance auseinander gesetzt hat, zu denken gegeben.
Was hat Leonardo da Vinci damit gemeint?
Warum spricht er in Rätseln und deutet in seinem Sammelsurium von Notizen und Skizzen diese Angelegenheit nur an, anstatt sie im Sinne einer Belehrung für die Nachwelt nieder zu legen, wie er es sonst oft tut?
Manchmal begegnen uns Fragen, die sich bei dem Versuch sie zu lösen, wie eine lang vergessene Angelschnur verhalten. Man zieht sie aus dem Schlick und eine Menge seltsame und unerwartete Dinge sind darin verheddert. Man nimmt eines nach dem anderen verwundert in die Hand und denkt: „Oh, wie interessant, ich wusste nicht, was hier alles zum Vorschein kommen wird!“
Und schon hat man einen bunten Gemischtwarenladen an Kuriositäten, Besonderheiten und Alltäglichem beisammen, die einfach zu schade sind, sie der Öffentlichkeit vorzuenthalten.
So kommt es, dass Sie jetzt ein Buch in der Hand halten, das ein kunterbuntes Stelldichein von Themen darbietet - und doch einen roten Faden hat, der alles zusammenhält. Der rote Faden heißt „Leonardo Da Vinci, Spiegel, Spiegelungen und das Phänomen Zeitgeist“. Aber der Anfang des Fadens, an dem wir zogen, war Leonardos geheimnisvolle Reminiszenz:
„Erinnere dich an die Lötmittel für die Kugel von Santa Maria del Fiore... „
Niemand möchte von einer weiteren Biografie über Leonardo da Vinci oder einer trockenen wissenschaftlichen Abhandlung gelangweilt werden, wenn er nicht muss. Wir gehen guter Dinge davon aus, dass dieses Buch niemals Schullektüre wird, also müssen Sie nicht, wenn sie nicht wollen. Wie wunderbar!
Sie stellen sich also freiwillig der Aufgabe, mit uns an diesem Faden, den Leonardo da Vinci vor ca. 500 Jahren für uns ausgelegt hat, zu ziehen und sich überraschen zu lassen, welchen Fang wir darin einholen.
Seit die Menschheit über das Betrachten natürlicher Spiegelungen (z.B. im Wasser) hinausgelangt ist und es lernte, Oberflächen effektiv zu polieren und nach Bedarf künstliche Spiegel herzustellen, fasziniert den Menschen das Phänomen der Spiegelung ungebrochen und offenbart immer neue faszinierende Seiten, die direkt oder indirekt auf diesem Prinzip beruhen.
Sicher stand auch bei der Erfindung des Kunstspiegels die Neugier auf das eigene Abbild an erster Stelle, aber zugleich stellten sich Fragen, über das wie, warum und was zu den mannigfaltigen Erscheinungen, die man im Zusammenhang mit Spiegeln beobachten kann.
So bekam der Spiegel weit über die eitle Selbstbetrachtung hinaus drei Bedeutungsebenen:
eine mystische, eine praktische und eine wissenschaftliche Seite.
Auf den mystischen Aspekt des Spiegels gehen wir im nebenstehenden Bildteil in unserer artenreichen Sammlung gesondert ein, doch zuerst verfing sich am Angelhaken unserer Recherche ein Zitat Leonardos, in dem er von einer ganz praktischen Anwendung des Spiegels in der Malerei spricht.
Was zuerst nicht sehr spektakulär aussieht, erweist sich bei genauerem Hinsehen dann doch als ganz, ganz dicker Fisch. Denn unter der Oberfläche der glänzenden Schuppenhaut unseres Fangs liegen sozusagen innere Werte, die uns bis zu den hochaktuellen und erstaunlichen Ergebnisse der Hirnforschung und Neuropsychologie führen. Folgen Sie uns, es lohnt sich.
Leonardo da Vinci, inzwischen weltweite Kultfigur und auch zu seiner Zeit schon ein Star (geboren am 15. April 1452, gestorben am 2. Mai 1519 im Alter von siebenundsechzig Jahren) wusste dem Spiegel, unter einigem anderen, einen für die Malerei sehr praktischen Nutzen abzugewinnen.
In seinem „Traktat über die Malerei“ schreibt er unter dem Kapitel „Wie der Spiegel der Lehrmeister der Maler ist“ folgendes:
„Wenn du sehen willst, ob dein Gemälde mit dem in natürlicher Weise abgebildeten Gegenstand vollkommen übereinstimmt, so nimm einen Spiegel, spiegle darin den wirklichen Gegenstand, vergleiche den gespiegelten Gegenstand mit deinem Gemälde und prüfe genau, ob die beiden Bilder im wesentlichen übereinstimmen.“
Diese einfache und doch sehr effektive Methode ist beinahe in Vergessenheit geraten, obwohl sie einem Schüler und Kunststudenten selbst heute noch sehr nützlich sein könnte. Doch da, bis auf Ausnahmen, in der Kunst das Anfertigen naturgetreuer Abbilder gegenwärtig kaum noch eine Rolle spielt - zumal uns die Fotografie3 diese Aufgabe weitgehend abnimmt - streben Künstler in ihren Werken meist etwas anderes an als eine bloße Kopie dessen, was das Auge sieht.
Freilich galt es auch zu Leonardos Zeiten nur als Vorstufe in der Kunst, naturgetreu, will heissen, nach visuellen Eindrücken malen zu können.
Obwohl man damals gerade erst dabei war, die Perspektive zeichnerisch zu verstehen und zu beherrschen, es unter seinen Zeitgenossen bereits von hohem Kunstverstand zeugte, Verkürzungen überzeugend darstellen zu können und man sich redlich mühte, eine möglichst realistische Darstellung von Schatten und Licht hinzubekommen, gingen Maler selbstverständlich weit über das reine Abmalen dessen hinaus, was das Auge oder der Spiegel darstellt - andernfalls dürften wir nichts als Stilleben in unseren Kunstsammlungen haben.
Leonardos Empfehlung, sich für das Schulen des Auges eines Spiegels zu bedienen und seine grundsätzliche Bevorzugung des übenden Zeichnens und Malens nach der Natur, war zu seiner Zeit jedoch mitnichten selbstverständlich. Viel üblicher, ja geradezu obsolet war es, sich übend und nachzeichnend an den Künstlern und Vorbildern der Antike (die gerade wieder einmal total hipp war) zu orientieren.
So fand sich der Maler gewissermaßen eingekeilt zwischen der mittelalterlichen Tradition, aus der er kam und dem antiken Ideal dem er nachstreben sollte.
Landschaften, so sie in Gemälden überhaupt eine Rolle spielten, waren nach mittelalterlicher Manier z.B. durchweg symbolischer Art, d.h. alles, was in dieser Landschaft4 erschien, hatte eine symbolische Bedeutung in Hinblick auf das zentrale Bildgeschehen, das fast immer religiös bestimmt war.
Deshalb z.B. gilt Leonardos, aus heutiger Sicht eher unspektakuläre Zeichnung des Arnotales (ohne symblische Überfrachtung, also schlicht so, wie es das Auge sieht) als absolutes Novum des Abendlandes und als Durchbruch in eine neue Dimension in der Kunst.
Doch bevor wir Leonardos Techniken, Vorlieben und Spiegelspielchen genauer unter die Lupe nehmen, betrachten wir, wenigstens theoretisch5, zwei seiner einflussreichsten Werke und erfahren Schritt für Schritt inwiefern das Prinzip Spiegelung, neben der realen Verwendung von Spiegeln, für Leonardo von so zentraler Bedeutung war...
Untersuchen wir zuerst das Gemälde „Die Schlacht von Anghiari“ (das Original von da Vinci existiert nicht mehr, jedoch vermittelt eine Zeichnung von Peter Paul Rubens einen lebhaften Eindruck davon - googeln)
Gut, das Bild mag realistisch erscheinen in der Art, wie Figuren, Gesichter, Bewegungen und Proportionen dargestellt sind, also insofern sie uns „richtig“ bzw. anatomisch und perspektivisch korrekt erscheinen - mit Realismus (Realismus ist hier als ‚Lebensechtheit‘ gemeint - nicht im Sinne des betreffenden Kunststils im 19. Jahrhundert) hat das Bild dennoch nichts zu tun, denn das, was uns die Zeichnung zeigt, hat exakt so nie stattgefunden. Was wir sehen ist das, was Leonardo sich erdachte, das was er uns zeigen wollte und von dem er überzeugt war, dass es seine Botschaft am treffendsten transportierten würde.
Dabei - wie praktisch wäre es selbst für einen Leonardo gewesen, hätte er ein solches Gemälde einfach nach dem Rezept des Abmalens und des Spiegelvergleichs oder auch nur nach der Vorlage einer Reportage-Fotografie erstellen können. Wie schnell und simpel wäre der Auftrag erledigt gewesen und unser „Multitasking-Tausendsassa“ wieder frei, sich anderen, spannenden Angelegenheiten zu widmen.
Doch nein, weder war die Aufgabe simpel, noch das Handwerkszeug an Könnerschaft, Wissen und Imaginationskraft leicht zu erringen, das für seine Anfertigung nötig war und leicht hat Leonardo es sich auch nie machen wollen.
Im Falle der Schlacht von Anghiari also sollte der Meister aus Vinci für den Stadtrat von Florenz im dortigen Ratssaal ein Fresko anfertigen, welches die für Florenz siegreiche Schlacht in der Nähe der Stadt Anghiari darstellt.
Leonardo hat den Auftrag gänzlich erfüllt - was für ihn keinesfalls eine Selbstverständlichkeit war. (Seinem gutem Ruf als Künstler stand nämlich der miserable Ruf gegenüber, als unzuverlässig und schrecklich langsam in der Ausführung zu gelten.) Leonardo nutzte die Gelegenheit, zu zeigen was er kann - aber er ging in seiner Darstellung deutlich weiter, als es die Maler vor ihm in solchen Szenarien je gewagt oder nur gedacht haben.
Er verzichtete auf die übliche monumentale Darstellung zweier sich gegenüber stehender Heere, sondern begab sich mit seinem Augenmerk - wie mit einem Zoom - direkt in das Zentrum des Schlachtengetümmels und verstand es, durch die geballte Ausdruckskraft jedes einzelnen der vier Akteure, eine solch lebensnahe Atmosphäre zu erzeugen, dass Betrachter des Bildes sich tatsächlich in das Gemälde hineingezogen fühlen konnten - und - sich die Wucht des Abgebildeten emotional übertrug. Sprich, die Menschen waren überwältigt von diesem Bild und es sollte der nächste Meilenstein auf Leonardos...