1 Die Grundlagen des Yin Yoga
»Es ist nicht unser Lebensziel, perfekt zu werden. Unser Ziel ist es, ganz zu werden.«
Das moderne Yoga hat seine Wurzeln tief im östlichen Mystizismus, wurde durch die Traditionen des Turnens und Ringens im 19. Jahrhundert bereichert und durch westliche Sensibilitäten geformt. Das Yoga, das heute in der westlichen Welt praktiziert wird, ist völlig einzigartig: Diese Art des Yoga hat in keinem Teil der Welt jemals zuvor existiert und heutzutage praktizieren wir westliches Yoga, um daraus einen Nutzen zu ziehen, der unseren Bedürfnissen in der westlichen Welt entspricht. Dieser Nutzen ist beachtlich und wird im Laufe dieses Buches noch genauer betrachtet. Doch auch wenn Sie schon seit einiger Zeit Yoga praktizieren, kennen Sie es unter Umständen nur zur Hälfte und konnten nur einen Teil des verfügbaren Nutzens daraus ziehen. Yin Yoga ist die andere Hälfte.
Bei den meisten Formen des heutigen Yoga handelt es sich um dynamische, aktive Praktiken, die dafür entwickelt wurden, nur mit einem Teil unseres Körpers zu arbeiten, nämlich der muskulären Hälfte, dem »Yang-Gewebe«. Yin Yoga ermöglicht es uns, mit der anderen Hälfte zu arbeiten, mit dem in tieferen Schichten verborgenen »Yin-Gewebe« unserer Bänder, Gelenke, unserer tiefen faszialen Netzwerke und sogar unserer Knochen. Alle Teile unseres Gewebes sind wichtig und bedürfen des Trainings, damit wir optimale Gesundheit und Vitalität erzielen.
Unsere Gelenke trainieren?! Ist das nicht gefährlich? Ja und nein. Es hängt davon ab, wie wir es tun. Wir können unsere Gelenke auf eine sichere Art und Weise trainieren, wenn wir dabei intelligent vorgehen. Tun wir es auf eine unsachgemäße Art und Weise, besteht dabei ganz eindeutig Verletzungsgefahr. Aber das gilt natürlich für jede Art des Trainings.
Wenn wir sagen, dass es sich bei Yin Yoga um die andere Hälfte handelt, die mit den tiefer liegenden Gewebeschichten des Körpers arbeitet, haben wir uns damit aber lediglich einen ersten und kleinen Teil der ganzen Bedeutung von Yin Yoga erschlossen. Wir betrachten zunächst den Kern der zugrunde liegenden Prinzipien des Yin und des Yoga, um Klarheit zu erhalten, mit welcher Absicht man beginnt, Yoga zu praktizieren, um den Nutzen zu entdecken und die Methoden, die in die Yin Yoga-Praxis einfließen.
Bitte beachten Sie!
Bei Yin Yoga, wie es in diesem Buch beschrieben wird, handelt es sich nicht um regeneratives Yoga. Wenn das Gewebe, mit dem Sie arbeiten möchten, auf irgendeine Weise geschädigt ist, dann geben Sie ihm bitte eine Chance, zu heilen, bevor Sie Ihre gewohnte Übungspraxis wiederaufnehmen.
Es gibt viele Gründe, Yoga zu praktizieren. Einen optimalen Grad an physischer Gesundheit zu erzielen ist nur einer davon. Viele Menschen fühlen sich zum Yoga hingezogen, weil sie sich davon Hilfe beim Abbau der Auswirkungen von Stress in ihrem Leben versprechen. Andere möchten ihre Meditationspraktiken vertiefen oder ganz einfach bewusster durch ihr tägliches Leben gehen. Wie wir sehen werden, bietet Yoga im Allgemeinen und Yin Yoga im Besonderen einen physischen, mentalen, emotionalen, energetischen – und für manche Menschen auch einen spirituellen – Nutzen. Welchen Nutzen Sie ganz persönlich daraus ziehen, hängt wesentlich davon ab, mit welcher Absicht Sie Yoga praktizieren.
Wie Sie praktizieren, ist genauso wichtig, wie was Sie praktizieren. Das Leben hat eine Yin- und eine Yang-Komponente. Ebenso gibt es eine Yin- und eine Yang-Perspektive, aus der man Yoga praktizieren kann und die über die eigentlichen Bewegungen und Positionen, die man während einer Yoga-Session verwendet, hinausgeht. Yin ist nachgiebig, gewährend und nährend. Auch im Rahmen einer aktiven, schweißtreibenden Yang-Praxis können wir eine Yin-Sensibilität annehmen, die uns dabei unterstützt, einen wesentlich höheren Nutzen aus unserer Yoga-Praxis zu ziehen. Und auch im Rahmen eines aktiven Yang-Lebensstils können wir ein Yin-Bewusstsein und eine akzeptierende Haltung annehmen, die uns dabei helfen werden, in unserem Leben Zufriedenheit zu erlangen.
Yin Yoga kann die gleichen Ziele haben wie jede andere Yoga-Richtung. Was wir im Yin Yoga tun, wird anders sein, doch der größte Unterschied wird darin liegen, wie wir es tun. Im Grunde praktizieren wir Yoga immer, weil wir damit unsere ureigenen, besonderen Absichten verwirklichen möchten. Die Vorzüge des Yin Yoga-Stils zu kennen wird Ihnen dabei helfen, Klarheit über die Absichten zu gewinnen, die Sie mit der Praxis verbinden.
Manche empfinden diesen Yoga-Stil zu Beginn als ziemlich langweilig, passiv oder weich. Sie lernen allerdings schnell, dass er aufgrund der langen Dauer der Positionen eine ziemliche Herausforderung darstellen kann. Yin Yoga ist einfach, aber einfach bedeutet keineswegs leicht. Wir können die Positionen für eine beliebige Dauer zwischen 1 und 20 Minuten halten! Wenn Sie dies erleben, auch wenn es nur ein einziges Mal ist, wird Ihnen klar werden, dass Sie bislang nur einen Teil der Asana-Praxis ausgeführt haben.
1.1 Yin und Yang
Muster bestimmen unser Leben. Schauen Sie sich genau jetzt in Ihrer Nähe um und Sie werden die Muster erkennen, von denen Sie umgeben sind. Schauen Sie nach oben und Sie sehen Dinge, die groß sind. Schauen Sie nach unten und Sie sehen Dinge, die klein sind. Lauschen Sie und Sie hören Dinge in der Nähe und in der Ferne. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit nach innen und Sie können Ihre Nasenspitze oder den Scheitelpunkt Ihres Kopfes spüren. Nun spüren Sie vielleicht die Spitzen Ihrer Zehen. Oben, unten … nah, fern … das sind nur einige der Adjektive, die wir wählen können, um die Muster des Lebens, unserer Existenz, zu beschreiben. Alle Muster werden von Kontrasten geprägt. Das Muster eines Schachbretts ist durch den Kontrast von Dunkel und Hell geprägt. Wenn Sie über das Muster Ihres Lebens nachdenken, dann wurde es durch den Kontrast von guten und schlechten Zeiten geprägt. In den Augen der Daoisten entstehen Harmonie und Gesundheit unter Bedingungen, in denen sich die kontrastierenden Aspekte im Gleichgewicht befinden.
Gleichgewicht ist kein statischer Zustand. Denken Sie an die typische Darstellung einer alten Waage: zwei Teller, die von einem gemeinsam genutzten Seil gehalten werden, das von einem Punkt in der Mitte zwischen beiden ausgeht. Wenn zwei Objekte mit dem gleichen Gewicht auf die Waagschalen gelegt werden, kommt es zu einer leicht schwankenden Bewegung wie bei einem Pendel. Wenn eines der beiden Objekte zu schwer ist, verschieben sich die Waagschalen nach oben und unten und das Gleichgewicht geht verloren. Doch auch wenn sich beide Seiten auf gleicher Höhe befinden, gibt es immer noch eine leichte Schwingung um den Mittelpunkt herum. Dieses Ausbalancieren stellt die Rückkehr zu Ganzheitlichkeit und Gesundheit dar.
Die alten Chinesen bezeichneten diese Mitte als Rückkehr zum Dao. Das Dao ist die Ruhe im Zentrum aller Ereignisse und gleichzeitig der Weg, der zu dieser Mitte führt. Es gibt stets eine Mitte, auch wenn wir uns nicht immer dort befinden und diesen Zustand genießen können. Wenn wir die Mitte verlassen, nehmen wir Färbungen von Yin oder Yang an.
Yin und Yang sind relative Begriffe: Sie beschreiben die beiden Facetten des Daseins. Wie bei den beiden Seiten einer Münze kann Yin nicht ohne Yang existieren, ebenso wenig wie Yang ohne Yin. Sie ergänzen einander. Und weil unser Dasein niemals statisch ist, sind die Merkmale von Yin und Yang stets im Fluss, verändern sich ständig.
Die alten Chinesen stellten fest, dass jedem Ding oder Wesen die Eigenschaften von Yin oder Yang zu eigen sind. Die Begriffe existierten bereits im Konfuzianismus und in den frühesten daoistischen Schriften. Der Yin-Charakter bezeichnet die schattige Seite eines Hügels oder Flusses. Yang bezieht sich auf die sonnige Seite. Schatten kann nicht ohne Licht existieren und Licht ist nur dann Licht, wenn es im Kontrast zur Dunkelheit steht. Und hier erkennen wir, wie schon bei der frühesten Verwendung dieser Begriffe Muster Beachtung fanden.
Eigenschaften von Yin und Yang
...