TEIL 1: VORHER
1. Das Braunkohlerevier Borken
Im Jahr 1898 wurde beim Ausheben eines Brunnens im Dorf Arnsbach bei Borken ein mehrere Meter mächtiges Kohleflöz entdeckt. Es war der Rohstoff gefunden, der in den kommenden 93 Jahren das Bild, die Bevölkerung und das Schicksal des damaligen Ackerbürgerstädtchens Borken und seiner umliegenden Dörfer prägen sollte. Es war der Beginn von Wohlstand und starkem Bevölkerungszuzug, aber auch von Entbehrung, Gefahr und blindem Vertrauen in die Macht des reich machenden Rohstoffs Braunkohle.
Nur zwei Jahre später, im Jahr 1900, wurde schon die Braunkohle in der Grube Arnsbach im Tiefbau abgebaut.
Im August 1922, nur wenige Jahre nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und noch mitten in der wirtschaftlichen Depression der Nachkriegsjahre, wurde der Grundstein für das Braunkohlekraftwerk Borken gelegt.
Im Jahr 1927 wurden verschiedene Kraftwerke und Abbaugebiete vom preußischen Staat zu der Preußischen Elektritäts AG fusioniert. Das Braunkohlerevier Borken gehörte nun jenem Konzern, der über Jahrzehnte die alles bestimmende Macht in Borken sein sollte: der späteren PreußenElektra AG, von allen kurz PREAG genannt, welche noch viel später in der heutigen E.ON SE aufging.
Im Jahr 1925 waren schon 236 Menschen im Bergbau beschäftigt, 10 Jahre später waren es bereits 356. In den Jahren des zweiten Weltkriegs betrug die Zahl etwa 1.000 Menschen, bis 1963 stieg die Zahl der bei der PREAG Beschäftigen auf 1.609 Menschen an. Die Stadt Borken, einst nicht mehr als ein Dorf mit Stadtrechten, wuchs von 1.226 Einwohnern im Jahr 1910 auf 5.130 Einwohnern im Jahr 1970. Mit den umliegenden Dörfern, die meist ebenso durch die Braunkohle geprägt waren, hatte die Großgemeinde Borken/Hessen im Jahr 1975 insgesamt etwa 15.000 Einwohner.
Geht man von den Beschäftigten im Bergbau und im Kraftwerk aus, zählt man deren Partner, Kinder sowie die verrenteten PREAG-Mitarbeiter mit, rechnet man dann noch die Arbeitsplätze hinzu, die durch die beträchtliche Kaufkraft der PREAG-Mitarbeiter im Borkener Einzelhandel und im Handwerk gesichert wurden, so lebte mehr als die Hälfte der Einwohner direkt oder indirekt von der Braunkohle. Oder von der PREAG, so wie es die Einwohner bevorzugt sahen.
Braunkohlbergbau und Kraftwerk oder – je nach Lesart - die PREAG eröffneten begabten und fleißigen Menschen einen sozialen Aufstieg, die aufgrund ihres sozialen Hintergrundes oder ihres Bildungsstandes in der Gesellschaft der Weimarer Republik niemals auf einen solchen Aufstieg hätten hoffen können.
So wie Fritz Witzel aus dem Dorf Mosheim, nördlich von Homberg. Geboren wurde er im Jahr 1900 als ältester Sohn eines Steinbrucharbeiters. Nach dem frühen Tod seines Vaters musste Fritz nicht nur für seine Mutter und seine vier jüngeren Geschwister sorgen, sondern ab dem Jahr 1923 auch für seine Frau und sein erstes Kind. Im nur etwa 20 Kilometer entfernten Borken wurde 1923 das Braunkohlekraftwerk gebaut. Trotz der in Deutschland vorherrschenden Wirtschaftskrise wurden in den Gruben junge Männer wie er gesucht, die Erfahrung aus den Steinbrüchen mitbrachten. Also fing Friedrich Witzel im Tiefbau in Borken als Bergarbeiter an. Er schaffte es, alle Familienmitglieder satt zu bekommen.
Fritz war trotz seiner dürftigen Bildung von nur wenigen Jahren Volksschule ein kluger Mann. Und er konnte organisieren. Im Jahr 1930 gründete er mit anderen Bergleuten aus Mosheim einen Verein, legte mit den Kollegen Geld zusammen, machte den Busführerschein und kaufte einen kleinen Bus. Angeführt von Fritz Witzel setzen die Bergarbeiter durch, dass alle Mosheimer Bergleute nur noch zu gemeinsamen Schichten eingeteilt wurden, damit sie zusammen im neuen Bus von Mosheim nach Borken pendeln konnten.
1937 wurde er Reichssieger im Berufswettkampf des nationalsozialistisch gewordenen Deutschen Reiches. Als Belohnung durfte er für knapp drei Jahre auf die Bergschule in Clausthal-Zellerfeld. Er war mit 37 Jahren der älteste Teilnehmer und zudem der einzige seines Studienjahrgangs, der ausschließlich die Volksschule besucht hatte. Mit viel Intelligenz und noch mehr Disziplin ergriff er die einmalige Chance, in seinem Alter und mit seiner Bildung noch eine Fachhochschule besuchen zu dürfen.
Fritz Witzel sollte sein Diplom vom „Führer“ persönlich verliehen bekommen. Als alter (und immer noch heimlicher) Sozialdemokrat sagte er den Verleihungstermin mit dem „Führer“ in Berlin nur deshalb nicht ab, weil seine Frau Anna ihn anflehte, wegen der beiden Kindern und ihr auf diese politisch gefährliche Geste zu verzichten. Seine Solidarität gehörte nicht dem Staat, der sich nun als das „Dritte Reich“ bezeichnete, sondern seinen Kollegen und der PREAG, jenem Unternehmen, dem er in seinen Augen den Aufstieg verdankte.
Der nunmehr diplomierte Bergbauingenieur Friedrich Witzel zog mit der Familie nach Trockenerfurth bei Borken, ging zurück in den Tiefbau, wurde dort Fahrsteiger und schließlich von 1954 bis zu seiner Verrentung Betriebsleiter im damaligen Tiefbau Altenburg 1 nahe dem Borkener Dorf Trockenerfurth.
Borken hatte Arbeit, viel Arbeit. Direkt nach dem 2. Weltkrieg, noch vor der Währungsreform von 1948, bekamen zahlreiche Kriegsheimkehrer aus der Region sofort eine Beschäftigung. Mit dem sogenannten Wirtschaftswunder Anfang der Fünfzigerjahre fanden die Vertriebenen in Borken Arbeit und Heimat: Im Kraftwerk, beim Führen der Eisenbahnen und der Reparatur der Maschinen, als Bürogehilfen oder als Bergleute und Handwerker im Tief- und im Tagebau.
Noch später folgen die damals noch Gastarbeiter genannten Migranten, vornehmlich aus der Türkei.
Die Borkener Braunkohle wurde seit Ende der Fünfzigerjahre mehrheitlich im Tagebau abgebaut. Dies ist bei dem Braunkohlebergbau die übliche Abbauvariante, weil die Braunkohle im Gegensatz zu der meist im Tiefbau abgebauten Steinkohle geologisch noch sehr jung ist und deshalb nah an der Erdoberfläche liegt. Der Abbau im Tagebau kann nach dem Abtragen der oberen Erdschichten viel kostengünstiger als die Förderung im Tiefbau erfolgen.
Wie viele andere nordhessische Braunkohlereviere wies auch das Borkener Revier einige Besonderheiten auf. So lag ein Teil des mächtigen Braunkohleflözes tief unter der Erde, so dass die Förderung teilweise im Tiefbau erfolgen musste. Diese Besonderheit bewirkte, – für den späteren Verlauf der Dinge fatal - dass ein Rohstoff hier ausnahmsweise im Tiefbau abgebaut wurde, obwohl deutschland- und weltweit die allermeisten Bergbauerfahrungen auf einem Abbau im Tagebau beruhten. Entsprechend richtete sich auch die Forschung, die Ausbildung und letztlich das Sicherheitsdenken der meisten Verantwortlichen an Lehrsätzen aus, die im Tagebau und nicht im Tiefbau gewonnen wurden.
In den Sechziger- und Siebzigerjahren wurden rund um Borken die Tagebaufelder Altenburg 4, Singlis und Gombeth ausgebeutet. Parallel dazu, organisiert durch jene PreußenElektra AG, welche mit dem gleichen Führungspersonal die genannten Tagebauten betrieb, wurde in den Gruben Altenburg 4 und Weingrund die Braunkohle im Tiefbau gefördert.
Das Braunkohlevorkommen bei Stolzenbach war bereits Anfang der Zwanzigerjahre durch die Gewerkschaft Frielendorf nachgewiesen worden. Anfang der Fünfzigerjahre wurde direkt südwestlich des kleinen Dorfes Stolzenbach mit der Anlegung des Zechenhofes begonnen, um einen Tiefbau bei Stolzenbach einzurichten. Die Arbeiten gestalteten sich anfangs sehr aufwändig. Das Deckgebirge war an dieser Stelle schwierig, so dass es häufig zu Wasser- und Sandeinbrüchen kam und die Arbeiten zwischenzeitlich unterbrochen werden mussten.
Der erste Schacht erreichte schließlich 1956 die Tiefe des Kohleflözes. Danach wurde mit den Ausbauarbeiten unter Tage begonnen, bis in der Grube Stolzenbach im Mai 1958 schließlich die erste Braunkohle gefördert werden konnte.
Die Grubenanlage lag etwa fünf Kilometer Luftlinie vom Stadtzentrum Borkens entfernt. Das Abbaugebiet grenzte im Westen direkt an das zur PREAG gehörende Gebiet Weingrund. Nachdem sie die Grube Stolzenbach seit dem 1. Januar 1968 zunächst nur über mehr als sieben Jahre gepachtet hatte, erwarb die PREAG zum 31. Dezember 1975 schließlich die Abbaurechte für das gesamte Gebiet der Grube Stolzenbach.
Zwischen dem Abbaugebiet Weingrund, welches sich direkt südwestlich an das Stadtgebiet Borken anschloss, und dem Abbaugebiet Stolzenbach im Borkener Südosten liegt der Stolzenbacher Graben. Hierbei handelt es sich um eine bis zu 200 Meter mächtige geologische Verwerfung aus Sand und Ton mit starken Wasserläufen, die sich zwischen dem westlichen und östlichen Abbaugebiet erhebt. Vereinfacht gesagt wurde das ehemals einheitliche und durchgängige Braunkohleflöz im Borkener Kohlerevier durch Spannungen in der Erdoberfläche getrennt, so dass das westliche Gebiet Weingrund separiert von dem östlichen Gebiet Stolzenbach abgebaut werden musste.
Solche geologischen Details mögen zwar zunächst bedeutungslos erscheinen, für die Zurechnung der Verantwortung für das spätere Unglück kommt dieser Trennung eine wichtige Bedeutung zu. Für...