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Das Grundgesetz

Geschichte und Inhalt

AutorChristoph Möllers
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2019
ReiheBeck'sche Reihe 2470
Seitenanzahl127 Seiten
ISBN9783406734540
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Das Grundgesetz feiert im Mai 2019 seinen 70. Geburtstag. Christoph Möllers stellt die Entstehung des Grundgesetzes, seinen historischen Ort in der deutschen Verfassungsgeschichte und vor allem natürlich seine wesentlichen Inhalte vor. Die aktualisierte Neuauflage nimmt auch die politischen Veränderungen des letzten Jahrzehnts kritisch aus der Perspektive des Grundgesetzes und der Rechtsstaatlichkeit in den Blick.

Christoph Mäöllersist Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Leseprobe

II. Das Grundgesetz als Text


Die Lektüre eines Verfassungstextes kann eine mühselige und enttäuschende Angelegenheit sein. Mühselig ist sie, weil es wohl kaum eine Textsorte jenseits von Lyrik gibt, die in solcher Dichte verschiedene, auch sich widersprechende Bedeutungsmöglichkeiten liefert wie Rechtstexte. Wenn der Rechtstext gut gemacht ist – und das Grundgesetz ist jedenfalls in seiner Urfassung ein sehr gut gemachter Rechtstext –, dann zählt jedes Wort. Einen Rechtstext, selbst wenn er so kurz wie das Grundgesetz ist, wird man daher kaum an einem Stück lesen können. Der Gehalt ist zu dicht, zu erschlagend. Die Lektüre kann aber auch enttäuschend sein: Denn Verfassungen im Allgemeinen und das Grundgesetz im Besonderen geben uns Versprechen, die uns schnell uneingelöst vorkommen: «Die Würde des Menschen ist unantastbar.», «Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.» Stimmen diese Sätze mit Blick auf die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik?

Mühe und Enttäuschung bei der Lektüre des Grundgesetzes können wir durch Aufklärung lindern: Aufklärung über die Struktur des Textes und über die Bedeutung seiner Versprechen. In diesem Kapitel wollen wir uns dem Grundgesetz daher aus der Perspektive der Leser nähern, die den Text in die Hand nehmen, in ihm blättern und an einigen Stellen hängen bleiben. Nach einem kurzen Blick auf den systematischen Aufbau des Grundgesetzes wollen wir einige bedeutende Aussagen des Grundgesetzes genauer lesen und zu verstehen suchen. Für die Leser bietet es sich dabei an, ein Exemplar des Grundgesetzes zur Hand zu haben.

1. Der Aufbau des Grundgesetzes


Gliederung


Das Grundgesetz war ursprünglich – wenig elegant – in elf Abschnitte gegliedert, zwei weitere (Nr. VIIIa. und Xa.) wurden später eingefügt. Diese Aufteilung gibt freilich keinen guten Eindruck von der Struktur des Textes. Die maßgebliche Gliederung findet sich vielmehr zwischen dem ersten und dem zweiten Abschnitt. Der erste Abschnitt enthält fast alle Grundrechte des Grundgesetzes. Dies sind, wie wir noch genauer sehen werden, Rechte, die die Bürgerinnen und Bürger berechtigen und den Staat verpflichten. Dieser Abschnitt beginnt mit der Menschenwürde, augenscheinlich einer Norm mit einer besonderen Bedeutung für die ganze Verfassung. Dieser folgen die anderen Grundrechte. Fast alle in den folgenden Abschnitten des Grundgesetzes bis zum Ende in Art. 146 GG stehenden Normen stellen dagegen keine Grundrechte, sondern Organisationsnormen dar, die den Aufbau der Staatsgewalt der Bundesrepublik Deutschland regeln. Eine erste systematische Teilung unterscheidet also zwischen den Rechten der Bürgerinnen und Bürger einerseits und den Regeln für die Staatsorganisation andererseits.

Die Normen des Organisationsrechts ab dem zweiten Abschnitt beginnen, typisch für das Grundgesetz und später für andere Verfassungen vorbildlich, mit einer Norm, die die Grundprinzipien des Grundgesetzes aufzählt: Art. 20 Abs. 1 GG nennt Demokratie, Bundesstaat, Sozialstaat und Republik. Der Rechtsstaat ist nicht genannt, war aber auch gemeint, und zumindest einige seiner Elemente, wie die Gesetzesbindung, finden in Art. 20 GG Erwähnung. Klassischerweise beschränkten sich Verfassungstexte auf spezielle Regeln wie die Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens und verzichteten auf die Normierung von Prinzipien. Anders als im Grundgesetz wird man ein Demokratieprinzip etwa in der amerikanischen Verfassung vergeblich suchen.

Die folgenden Abschnitte des Organisationsteils sind wiederum nach einer doppelten Systematik geordnet: Zunächst zählt das Grundgesetz die Organe des Bundes auf und definiert ihre Kompetenzen: Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung, Bundespräsident (III.–VI.). Danach schließt es drei Abschnitte an, die nach den drei Gewalten, gesetzgebende Gewalt, vollziehende Gewalt, also Exekutive, und rechtsprechende Gewalt, also Gerichtsbarkeit, geordnet sind (VII.–IX.). Diese Systematik macht es nicht immer einfach, die einschlägige Norm zu finden, denn offensichtlich können sich beide Ordnungskriterien überschneiden. Man muss wissen, wo man suchen muss: Die Regel, dass ein Gesetz mit der Mehrheit der Stimmen im Bundestag zu beschließen ist, könnte genauso gut beim gesetzgebenden Organ Bundestag stehen wie im Abschnitt über die Gesetzgebung – und dass die Zustimmung des Bundestages zu völkerrechtlichen Verträgen ausgerechnet beim Abschnitt über den Bundespräsidenten steht, ist wenig schlüssig. Trotzdem gibt dieses Raster einen ersten Anhalt und erfasst die wichtigsten Bestimmungen des Grundgesetzes relativ gut. Die drei anschließenden Abschnitte enthalten Regelungen über die Finanzverfassung, die Notstandsverfassung und Übergangsregelungen (X., Xa., XI.). Eine letzte systematische Hilfe geben schließlich Anfang und Ende des Grundgesetzes: Noch vor der Menschenwürdegarantie führt eine Präambel in die Verfassung ein und stellt klar, wer normativ als Autor des Grundgesetzes zu verstehen ist: «das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt». Am Ende, im letzten Artikel des Grundgesetzes, Art. 146 GG, weist das Grundgesetz den Weg zu seiner eigenen Aufhebung oder Weiterentwicklung (S. 55f.).

Wesentliche Regelungen


In seinen beiden Hauptteilen konstituiert das Grundgesetz also eine freiheitliche Ordnung, indem es, wie gesehen, zum Ersten dem Individuum bestimmte Freiheitsrechte garantiert (Art. 1–​19 GG) und zum Zweiten den durch das Grundgesetz konstituierten Staat, die Bundesrepublik Deutschland, auf bestimmte Standards verpflichtet (Art. 20–​146 GG). Der erste Teil schützt private Freiheiten, der zweite Teil stiftet staatliche Pflichten. Diese Unterscheidung ist für das Verständnis moderner liberaler Verfassungen wesentlich, auch wenn die Grenzziehung im Einzelnen immer umstritten sein wird (S. 109). Ein einfaches Beispiel für den Anfang: Ein religiöser Verein kann sich auf die Religionsfreiheit oder die Vereinigungsfreiheit berufen. Er muss nicht demokratisch organisiert sein. Eine staatliche Behörde muss demokratisch legitimiert sein und kann sich bei ihrer Aufgabenwahrnehmung nicht auf Grundrechte berufen.

Die entscheidende normative Achse des Grundgesetzes verläuft daher nicht zufällig zwischen der letzten Norm des Grundrechtsteils und der ersten Norm des Organisationsteils. Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG lautet: «Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.» Dies ist eine durchaus revolutionäre Entscheidung, die alle Eingriffe in die Rechte gerichtlicher Kontrolle unterstellt – so wie andererseits alle Staatsgewalt, wie der folgende Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG feststellt, vom Volke ausgehen muss. Das Grundgesetz konstituiert ganz bewusst eine ausnahmslose Ordnung. In anderen demokratischen Verfassungsstaaten ist es durchaus üblich, Ausnahmen vom Rechtsschutz etwa für die Bekämpfung des Terrorismus vorzusehen. Im Grundgesetz ist dies dem Gesetzgeber verwehrt, auch wenn das Grundgesetz mittlerweile eine Ausnahme zugelassen hat (S. 88). Art. 19 Abs. 4 GG gibt dem Grundrechtsteil durch die Garantie gerichtlicher Kontrolle institutionelle Zähne. Der folgende Art. 20 GG definiert dann als erste Norm des Organisationsteils die entscheidenden organisationsrechtlichen Prinzipien: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Bundesstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und das praktisch weniger bedeutende Prinzip der Republik, das die Wiedereinführung der Monarchie verbietet.

Mit einer von Hannah Arendt verwendeten Unterscheidung können wir von einem herrschaftsbegründenden und einem herrschaftsbegrenzenden Teil des Grundgesetzes sprechen. Der Grundrechtsteil enthält die wesentliche Herrschaftsbegrenzung. Der Organisationsteil, insbesondere das Demokratieprinzip und die Regeln für den demokratischen Prozess, begründen erst den Herrschaftsverband der Bundesrepublik Deutschland. Aber auch der Organisationsteil enthält herrschaftsbegrenzende Elemente wie das Rechtsstaatsprinzip.

Um die Grundrechte verstehen zu können, muss man den Zusammenhang zwischen beiden Teilen erkennen: Fast alle grundrechtlichen Garantien stehen unter einem sogenannten ...

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