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Das Heilige und das Opfer

Zur Soziologie religiöser Heilslehre, Gewalt(losigkeit) und Gemeinschaftsbildung

AutorThomas Vollmer
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl281 Seiten
ISBN9783531921013
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis46,99 EUR


Thomas Vollmer promovierte an der Universität Bonn als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Dr. Werner Gephart am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Abteilung für Soziologie. Er ist Stipendiat der individuellen Graduiertenförderung der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

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Leseprobe
1. Judentum, Christentum und Islam (S. 123-124)

1.1 Gewalt, Urzustand und Schöpfung in der Bibel

„Deshalb ist die Bibel ein ewig wirksames Buch, weil, so lange die Welt steht, niemand auftreten und sagen wird: Ich begreife es im Ganzen und verstehe es im Einzelnen.“425
(Johann Wolfgang von Goethe)


In den Schriften des Alten Testaments ist immer wieder die Rede von der Ausübung von Gewalt. Es wird berichtet von Mord und Totschlag, Raub, Vergewaltigung, von Gewalt sogar gegen wehrlose Frauen und Kinder sowie einer Vielzahl heiliger Kriege, die in der totalen Vernichtung der unterlegenen Völker enden. Sieht man von der Frage ab, wie zuverlässig derartige Erzählungen im streng historischen Sinne sind, so ist es doch gemeinhin unbestritten, dass auf der Ebene des Textes die Problematik der Gewalt eine zentrale Rolle spielt.426 Den Auftakt dieser Welt schier endloser Gewalt bildet der Brudermord in der Genesiserzählung von Kain und Abel, in der sich sogleich ein enger Zusammenhang von Gewalt und Opfer zeigt.

Das unmittelbare Handlungsmotiv für die Tötung des Schafhirten Abels ist die Eifersucht Kains, die ihren Ursprung darin findet, dass Gott die Opfergabe Abels bereitwillig annimmt, aber die Opfergabe Kains verschmäht. Daher, so die Genesis, „griff Kain seinen Bruder an und erschlug ihn.“ Der Text zeigt, dass derjenige zum Brudermörder wird, dessen Opfer seine Funktion der Gewaltabsorption nicht (mehr) hinreichend erfüllt. „Nicht weil Kain böse war, wurde sein Opfer abgelehnt; sondern weil sein Opfer nicht die gewünschte Wirkung erzielte, wurde er zum Rivalen und Mörder.“

Dabei sehen die Texte des Alten Testaments das Opfer stets in einem doppelten und ambivalent bewerteten Bezugszusammenhang, denn einerseits weist eine Vielzahl der Aussagen auf den Umstand hin, „dass die Gewalt dort aufbricht, wo die Opfer nicht mehr richtig funktionieren. Andererseits werden gerade wegen einer tieferen Einsicht in das Wesen der Gewalt die Opfer als unfähig erkannt, dieses Böse aus der Gemeinschaft wegzuschaffen. Kain hat Blut vergossen, weil sein Opfer nicht angenehm war.“

Die Bedeutung der Erzählung von Kain und Abel gewinnt ein noch schärferes Profil, wenn man sie mit anderen mythischen Texten vergleicht. So findet man beispielsweise in der römischen Mythologie ähnlich zum biblischen Text ebenfalls ein Brüderpaar, das am Anfang einer neuen Kultur steht: Romulus und Remus. Romulus tötet seinen Bruder Remus und wird zur identifikatorischen Leitfigur eines Weltimperiums. Kain gleicht in dieser Beziehung ganz dem Romulus, auch er ist ein Brudermörder und wurde ebenfalls ein Städtegründer, nämlich der Stadt Henoch.

Allerdings existiert ein gewichtiger Unterschied zwischen den beiden Brüderpaaren, denn der biblische Text ergreift ganz die Partei des Opfers, nämlich die von Abel, wohingegen Romulus die unkritisierte Gründungsfigur des römischen Reiches wird. Entscheidend ist für diese erste perspektivische Umkehr, dass der Brudermord bestraft wird: „Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders? Der Herr sprach: Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zur mir vom Ackerboden.“

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