Einleitung
Jeder Mensch sehnt sich danach, zu lieben und geliebt zu werden. Diese Ursehnsucht des Menschen ist seit jeher in zahllosen Gedichten, Liedern, Romanen, Bildern und Plastiken ausgedrückt worden. Alle Kunst kreist letztlich um das Thema der Liebe: In der Musik wird sie hörbar, in den Bildern sichtbar. Doch zugleich bleibt die Liebe auch immer ein Geheimnis, das die Menschen nie ganz verstehen. Wir sind dankbar für das Geschenk der Liebe. Traurigkeit überfällt uns jedoch, wenn unsere Sehnsucht nach Liebe nicht erfüllt wird. Liebe vermag zu verzaubern, aber sie schlägt auch viele Wunden. Jeder weiß, was Liebe bedeutet. Dennoch tun wir uns zugleich schwer, wirklich zu lieben. Es braucht eine eigene Kunst, um Liebe zu lernen. Alle Kulturen haben uns Wege gewiesen, wie sie gelingen kann. Dabei ist die Weisheit der Völker immer auch in die Sprache eingegangen.
Wir haben im Deutschen nur das eine Wort Liebe, um ihr Geheimnis zum Ausdruck zu bringen: die Liebe zwischen Mann und Frau, die Liebe der Eltern zu ihren Kindern, die Liebe zwischen Freunden, die Nächstenliebe, die Liebe zu sich selbst, die Liebe Gottes zu uns und unsere Liebe zu Gott. All diese verschiedenen Formen von Liebe haben offensichtlich einen gemeinsamen Kern. Und der wird nach Ijob, gut, benannt. Dieser Kern steckt auch in den Worten glauben und loben. Glauben heißt: das Gute im anderen zu sehen; loben bedeutet: das Gute zu benennen und es auszusprechen; und lieben meint: gut zu behandeln, gut und wohlwollend mit dem anderen umzugehen, weil das Gute in ihm mich anzieht und ich gute Gefühle zu ihm habe.
Die Griechen differenzieren zwischen Eros, der begehrlichen Liebe, die vor allem die Liebe zwischen Mann und Frau meint, der Philia, der Freundesliebe, die sich am Sein des Freundes freut, und der Agape, der selbstlosen Liebe zum Nächsten, der Liebe zu Gott und der Liebe Gottes zum Menschen. Für die Griechen gibt es drei verschiedene Weisen der Liebe und doch gehören alle auch wieder zusammen. Auch die Agape braucht den Eros, um lebendig zu sein, und die Philia, die sich am Sein des anderen freut. Und umgekehrt gibt es keinen Eros, der nicht Anteil hat an der Freundesliebe und an der reinen Liebe, die uns von Gott zukommt.
Das Neue Testament beantwortet die Frage nach dem Geheimnis der Liebe im Blick auf Jesus Christus. In diesem Jesus von Nazareth haben die Autoren des Neuen Testaments erkannt, was Liebe bedeutet und wie diese unser Leben bestimmen möchte. Sie haben uns in ihren Schriften einen Weg gewiesen, wie wir die Liebe erfahren und wie wir die Kunst der Liebe lernen können. Sie kreisen dabei vor allem um das Geheimnis der Agape. Agape, die reine Liebe, die göttliche Liebe, ist nicht in erster Linie eine Forderung an den Menschen, sondern sie ist Gabe Gottes, ja sie ist Gottes eigentliches Wesen. So gipfelt die neutestamentliche Lehre über die Liebe in dem Wort aus dem Ersten Johannesbrief: »Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.« (1 Joh 4,16) Dabei dürfen wir diesen Satz nicht umkehren. Wir können nicht einfach sagen: Die Liebe ist Gott. Vielmehr will Johannes sagen, dass das innerste Wesen Gottes Liebe ist. Aber jeder, der liebt und Liebe erfährt, erfährt darin etwas vom Geheimnis Gottes.
Gott ist von seinem Wesen her Liebe. Er liebt die Menschen. Aus Liebe hat er die Welt geschaffen, um sie mit seinen Geschöpfen zu teilen. Aus Liebe hat er seinen Sohn zu den Menschen gesandt. Für das Johannesevangelium ist die Liebe der Grund der Menschwerdung: »Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.« (Joh 3,16) Gott wollte in Liebe all jene aufsuchen, die sich selbst verloren hatten, damit sie wieder wirkliches, ewiges Leben finden. Seine Liebe hat sich in der Liebe des Sohnes ausgedrückt. Und die Liebe des Sohnes erlebte im Tod den Ausdruck der höchsten Vollkommenheit: »Da er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung.« (Joh 13,1) Wir Menschen dürfen teilhaben an der Liebe Gottes, die durch den Heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen ist. (Vgl. Röm 5,5) Aus dem Herzen Jesu strömte sein Geist, um unser Herz mit der Liebe zu erfüllen, die Christus geprägt und die er uns vorgelebt hat bis zum Ende.
Die Agape, die Liebe, die uns im Tod Jesu zufließt und unser Herz erfüllt, will sich in unserem Leben ausdrücken. Sie will sichtbar werden in unserer Liebe zu Gott und zum Nächsten. Aber sie ist mehr als ein Handeln. Sie ist ein Sein. Sie ist das neue Sein in Christus. Sie ist der tiefste Sinn und die Vollendung allen Seins. Die griechischen Kirchenväter haben versucht, die Aussagen der Bibel mit den Erkenntnissen der griechischen Philosophie über die Liebe zu verbinden. Die griechische Philosophie dachte weniger in moralischen Kategorien als vielmehr metaphysisch. Ihr ging es um das Sein, um den Grund allen Seins. Und dieser Grund allen Seins ist für Platon die Liebe. Er spricht dabei vom Eros, der für ihn weniger die begehrliche Liebe ist, sondern eine mächtige Kraft, die alles miteinander verbindet und vereint. Sie ist der Drang nach Vereinigung.
Die Kirchenväter haben in ihrer Deutung der neutestamentlichen Aussagen über die Agape immer auch die platonische Lehre vom Eros im Hintergrund. Sie möchten den Gegensatz zwischen Eros und Agape überbrücken. Sie sprechen nicht nur von der Agape (lateinisch: caritas oder dilectio) Gottes, sondern vom Eros (amor), der Gottes Liebe zu uns Menschen prägt. Origenes kann die Definition des Johannes, »Gott ist Agape«, umformen in »Gott ist Eros«. Gott liebt die Menschen leidenschaftlich. Und auch unsere Liebe zu Gott soll von der Glut des Eros, des amor, geprägt sein.
Für mich ist das nicht einfach nur Theologiegeschichte. Vielmehr sehe ich darin den Versuch, die von Gott geschenkte Liebe, die durch den Heiligen Geist in uns wirkt, mit der natürlichen Liebe und mit der Kraft des Eros zu verbinden. Ohne Eros wird unsere Liebe zu Gott oft farblos und unser Sprechen von der Liebe Gottes zu uns kraftlos. Unsere Nächstenliebe wird ohne Eros langweilig. Wir werden dem Geheimnis der Liebe nur gerecht, wenn wir unsere menschlichen Erfahrungen von der verzaubernden, aber auch uns übermächtigenden Liebe verbinden mit den Aussagen der Bibel über das Geheimnis der Agape, die Gottes Wesen ausmacht und an der wir in Jesus Christus teilhaben.
Die ganze Theologiegeschichte durchzieht der Versuch, die beiden Pole von Eros und Agape miteinander zu verbinden. Für mich bedeutet das, dass ich über die Liebe nicht nur aus der Sicht der Psychologie spreche, sondern immer auch die spirituelle Dimension im Auge behalte. Die Liebe (amor) ist nach dem mittelalterlichen Theologen Johannes Scotus Eriugena die natürliche Kraft, die alle Dinge bewegt. Und Gott ist letztlich die Ursache aller Liebe. Die Liebe bewegt die Menschen zueinander. Sie ist der tiefste Beweggrund der Geschichte. Aber im Grund dieser Liebe begegnen wir letztlich Gott als Liebe.
Über die Liebe ist schon so viel nachgedacht und geschrieben worden, dass es schwer ist, alles menschliche Wissen über die Liebe angemessen ins Wort zu bringen oder gar etwas Neues über die Liebe zu sagen. Ich möchte mich in diesem kleinen Buch daher auf die Auslegung des Hoheliedes der Liebe beschränken, das Paulus im Ersten Korintherbrief (1 Kor 13) angestimmt hat. Es ist ein zentraler Text des Neuen Testaments. Viele Hochzeitspaare wünschen sich diesen Text als Lesung bei der Trauung. Sie erbauen sich an den wunderbaren Aussagen über die Liebe und haben das Gefühl, dass Paulus damit ihre Liebe zueinander beschreibt. Sicher bringen die Worte des Paulus auch das Geheimnis der ehelichen Liebe zum Ausdruck. Aber im Text selbst ist weder von der Liebe zwischen Mann und Frau noch von der Nächstenliebe noch von der Selbstliebe noch von der Gottesliebe die Rede. Die Liebe ist einfach eine Macht, eine Kraft, die im Menschen ist. Ich kann das philosophisch erklären. Oder ich kann es – wie Paulus es tut – als Gabe des Heiligen Geistes verstehen. Gott hat uns durch Jesus Christus seinen Geist geschenkt. Und dieser Geist ist ein Geist der Liebe. In uns sprudelt eine Quelle der Liebe. Diese Liebe als Gabe Gottes kann und will sich dann konkret ausdrücken in der Liebe zwischen Mann und Frau, in der Liebe der Freunde zueinander und in allen Formen der Liebe, die wir sonst kennen. Für Paulus ist die Liebe ein Charisma, das heißt: eine Gabe, die Gott uns aus Gnade schenkt. Sie ist eine Befähigung zu einer neuen Weise des Lebens. Und für Paulus ist sie die höchste Gnadengabe, die Gott uns in Jesus Christus anbietet.
Wenn ich als Ministrant bei Hochzeiten Predigten über diesen Text gehört habe, dachte ich oft: »Zu schön, um wahr zu sein.« Oder aber ich hatte den Eindruck, der Pfarrer stellt hier Forderungen auf, die das Brautpaar nie erfüllen kann. Da wurde das Hohelied der Liebe vor allem moralisierend ausgelegt: »Du darfst nicht an dich denken. Du musst immer nachgeben. Du musst alles mit Liebe zudecken.« Das war oft romantisch und weltfremd.
Ich möchte den Text so auslegen, wie er dasteht, mit seinem philosophischen und psychologischen Hintergrund. Und ich möchte ihn immer wieder hineinübersetzen in die Erfahrungen von Lieben und Geliebtwerden, die wir in unserem Leben alle machen. Dann sind die Worte des Paulus nicht nur für die Liebenden eine Frohe Botschaft, sondern auch für die, die sich nach Liebe sehnen, sie aber nicht so erleben, wie sie es sich erhoffen. Auch in diesen von der Liebe enttäuschten Menschen will dieser Text etwas ansprechen: etwas, das sie in ihrem Herzen spüren und das sie in sich haben. Denn jeder Mensch...