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E-Book

Trau dich, neu zu werden

Verwandeln statt verändern

AutorAnselm Grün
VerlagVier-Türme-Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl158 Seiten
ISBN9783736502550
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Immer wieder gibt es im Leben Phasen der Veränderung und des Neuanfangs. Doch Veränderung, so sagt Anselm Grün, ist eher negativ und sagt aus, dass das Gegenwärtige nicht richtig sei und verändert werden muss. In der Verwandlung entfaltet sich unser Potential gerade auch in unseren Schwächen und Wunden. Diese können zu unseren Begleiter und Führern werden und uns den Weg zu dem Schatz zeigen, der in uns liegt.

Anselm Grün, geboren 1945, ist Mönch der Abtei Münsterschwarzach und der bekannteste spirituelle Autor in Deutschland. Seine Bücher sind Bestseller.

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Leseprobe

I • Verwandlung in den Märchen

Die Gespräche mit den Gästen, denen ich von Verwandlung erzählt habe, machten mich neugierig, über das Thema »Verwandlung« zu lesen, was mir in die Hände kam. Dabei fand ich kaum etwas in theologischen oder spirituellen Lexika, wohl aber beim Schweizer Psychologen Carl Gustav Jung und in den Märchen. Vor allem faszinierte mich das Märchen »Die drei Sprachen«. Es drückte in einem Bild genau das aus, was ich erahnte und wofür ich doch keine Worte fand. Ich möchte das Märchen vollständig erzählen und dann auslegen. Es sagt für mich etwas Wesentliches über die Verwandlung des Menschen:

In der Schweiz lebte einmal ein alter Graf, der hatte nur einen einzigen Sohn, aber er war dumm und konnte nichts lernen. Da sprach der Vater: »Höre, mein Sohn, ich bringe nichts in deinen Kopf, ich mag es anfangen, wie ich will. Du musst fort von hier, ich will dich einem berühmten Meister übergeben, der soll es mit dir versuchen.« Der Junge ward in eine fremde Stadt geschickt und blieb bei dem Meister ein ganzes Jahr. Nach Verlauf dieser Zeit kam er wieder heim, und der Vater fragte: »Nun, mein Sohn, was hast du gelernt?« – »Vater, ich habe gelernt, was die Hunde bellen«, antwortete er. »Dass Gott erbarm«, rief der Vater aus, »ist das alles, was du gelernt hast? Ich will dich in eine andere Stadt zu einem anderen Meister tun.« Der Junge ward hingebracht und blieb bei diesem Meister auch ein Jahr. Als er zurückkam, fragte der Vater wiederum: »Mein Sohn, was hast du gelernt?« Er antwortete: »Vater, ich habe gelernt, was die Vögel sprechen.« Da geriet der Vater in Zorn und sprach: »Du verlorner Mensch, hast die kostbare Zeit hingebracht und nichts gelernt und du schämst dich nicht, mir unter die Augen zu treten? Ich will dich zu einem dritten Meister schicken, aber lernst du auch diesmal nichts, so will ich dein Vater nicht mehr sein.« Der Sohn blieb bei dem dritten Meister ebenfalls ein ganzes Jahr, und als er wieder nach Haus kam und der Vater fragte: »Mein Sohn, was hast du gelernt?«, so antwortete er: »Lieber Vater, ich habe dieses Jahr gelernt, was die Frösche quaken.« Da geriet der Vater in den höchsten Zorn, sprang auf, rief seine Leute herbei und sprach: »Dieser Mensch ist mein Sohn nicht mehr, ich stoße ihn aus und gebiete euch, dass ihr ihn hinaus in den Wald führt und ihm das Leben nehmt.« Sie führten ihn hinaus, aber als sie ihn töten sollten, konnten sie nicht vor Mitleiden und ließen ihn gehen. Sie schnitten einem Reh Augen und Zunge aus, damit sie dem Alten die Wahrzeichen bringen konnten.

Der Jüngling wanderte fort und kam nach einiger Zeit zu einer Burg, wo er um Nachtherberge bat. »Ja«, sagte der Burgherr, »wenn du da unten in dem alten Turm übernachten willst, so gehe hin, aber ich warne dich, es ist lebensgefährlich, denn er ist voll wilder Hunde, die bellen und heulen in einem fort, und zu gewissen Stunden müssen sie einen Menschen ausgeliefert haben, den sie auch gleich verzehren.« Die ganze Gegend war darüber in Trauer und Leid und konnte doch niemand helfen. Der Jüngling aber war ohne Furcht und sprach: »Lasst mich nur hinab zu den bellenden Hunden und gebt mir etwas, das ich ihnen vorwerfen kann; mir sollen sie nichts tun.« Weil er nun selbst nicht anders wollte, so gaben sie ihm etwas Essen für die wilden Tiere und brachten ihn hinab zu dem Turm. Als er hineintrat, bellten ihn die Hunde nicht an, wedelten mit den Schwänzen ganz freundlich um ihn herum, fraßen, was er ihnen hinsetzte, und krümmten ihm kein Härchen. Am anderen Morgen kam er zu jedermanns Erstaunen gesund und unversehrt wieder zum Vorschein und sagte zu dem Burgherrn: »Die Hunde haben mir in ihrer Sprache offenbart, warum sie da hausen und dem Lande Schaden bringen. Sie sind verwünscht und müssen einen großen Schatz hüten, der unten im Turme liegt, und kommen nicht eher zur Ruhe, als bis er gehoben ist, und wie dies geschehen muss, das habe ich ebenfalls aus ihren Reden vernommen.« Da freuten sich alle, die das hörten, und der Burgherr sagte, er wolle ihn an Sohnes Statt annehmen, wenn er es glücklich vollbrächte. Er stieg wieder hinab, und weil er wusste, was er zu tun hatte, so vollführte er es und brachte eine mit Gold gefüllte Truhe herauf. Das Geheul der wilden Hunde ward von nun an nicht mehr gehört, sie waren verschwunden, und das Land war von der Plage befreit.

Über eine Zeit kam es ihm in den Sinn, er wollte nach Rom fahren. Auf dem Weg kam er an einem Sumpf vorbei, in welchem Frösche saßen und quakten. Er horchte auf, und als er vernahm, was sie sprachen, ward er ganz nachdenklich und traurig. Endlich langte er in Rom an, da war gerade der Papst gestorben und unter den Kardinälen großer Zweifel, wen sie zum Nachfolger bestimmten sollten. Sie wurden zuletzt einig, derjenige sollte zum Papst erwählt werden, an dem sich ein göttliches Wunderzeichen offenbaren würde. Und als das eben beschlossen war, in dem selben Augenblick trat der junge Graf in die Kirche, und plötzlich flogen zwei schneeweiße Tauben auf seine beiden Schultern und blieben da sitzen. Die Geistlichkeit erkannte darin das Zeichen Gottes und fragte ihn auf der Stelle, ob er Papst werden wolle. Er war unschlüssig und wusste nicht, ob er dessen würdig wäre, aber die Tauben redeten ihm zu, dass er es tun möchte, und endlich sagte er: »Ja« Da wurde er gesalbt und geweiht, und damit war eingetroffen, was er von den Fröschen unterwegs gehört und was ihn so bestürzt gemacht hatte, dass er der heilige Papst werden sollte. Darauf musste er eine Messe singen und wusste kein Wort davon, aber die zwei Tauben saßen stets auf seinen Schultern und sagten ihm alles ins Ohr.

Wilhelm Laiblin, ein Schüler C. G. Jungs, hat mich auf dieses Märchen aufmerksam gemacht. Für mich ist es ein Märchen, das die Verwandlung eines »dummen« Jungen zum Papst wunderbar beschreibt. Wenn wir das auf uns beziehen, heißt es: es beschreibt, wie wir aus unserem oft oberflächlichen Leben heraus verwandelt werden zu einem spirituellen Menschen. Der Papst steht für den spirituellen Menschen. Wir müssen erst die Sprache der bellenden Hunde lernen. Das heißt für mich: Ich muss die Sprache meiner Leidenschaften, Emotionen und meiner psychischen Probleme lernen. Ich muss lernen, wie ich mich mit meinen Leidenschaften und Gefühlen unterhalten kann.

Dann muss ich die Sprache der Vögel lernen. Das ist die Sprache des Geistes. Ich muss mich über meine Leidenschaften und Gefühle erheben. Ich muss mein Leben von einer höheren Warte aus betrachten, indem ich die Vogelperspektive einnehme. Und dann kann ich es wagen, in das Unbewusste einzutauchen und die Sprache der Frösche lernen, die vor allem im Traum zu mir sprechen.

Das Märchen zeigt den zweiten Weg der Verwandlung: den Weg des Gespräches, den Weg über die Sprache. Ich lerne die Sprache meiner Seele kennen, die sich in meinen Leidenschaften und Emotionen ausdrückt. Und ich spreche mit meinen Gefühlen und mit allem, was in meiner Seele auftaucht. Der Graf möchte, dass sein Sohn etwas Gescheites lernt, das ihn lebensfähig macht. Doch der Sohn lernt das, was ihn zu einem ganzen Menschen macht, ja was ihn letztlich zu einem Menschen mit spiritueller Kompetenz werden lässt. Das ist mit dem Bild vom Papst gemeint.

Wilhelm Laiblin fasst die Botschaft dieses Märchens so zusammen: »Lerne zuerst einmal die Sprache der bellenden Hunde in dir verstehen und nähere dich ihnen als Freund und Bruder. Dann werden sie dir sagen, dass sie, die Verstoßenen, Verachteten und Gefürchteten, nur darum so unruhig sich gebärden, weil sie als deine treuesten und besten Freunde deine Aufmerksamkeit auf den verborgenen Schatz lenken wollen, der im Grunde deiner Seele auf dich wartet und den zu heben deine eigentliche Aufgabe ist.« (Laiblin 297)

Die bellenden Hunde können meine Leidenschaften sein, meine Wut, meine Eifersucht, meine Sexualität, meine Empfindlichkeit, meine depressiven Stimmungen, meine Ängste. Ich soll sie nicht in den Turm einschließen, sonst bin ich selbst irgendwann einmal aus dem Haus meines Lebens ausgeschlossen. Ich soll vielmehr mit ihnen reden. Sie bellen deshalb so laut, weil sie einen Schatz hüten. Überall dort, wo es mich drückt, wo ich mit mir nicht zurechtkomme, wo ein Konflikt sich lauthals meldet, wo eine Krankheit unüberhörbar schreit, da liegt auch ein Schatz bereit. Gerade dort, wo es in mir brodelt, will etwas in mir zum Leben kommen und aufblühen.

Verwandlung meint, dass ich nichts in mir ausschließe, sondern dass ich mit meinen Leidenschaften, Krankheiten, Konflikten, Problemen, ja auch mit meinen Sünden ins Gespräch komme. Dann werden sie mich zu dem Schatz führen, der in mir verborgen liegt: zu neuen Lebensmöglichkeiten, zu einer neuen Qualität, die ich bisher unterdrückt habe. Dort, wo ich mich ohnmächtig fühle und auf meine Unfähigkeit stoße, meine Fehler, meine Schwächen, meine Probleme in den Griff zu bekommen, dort liegt auch ein Schatz begraben.

Statt meine Energie dazu zu verwenden, die Fehler gewaltsam zu beseitigen oder zu unterdrücken, sollte ich mit meinen Fehlern und Sünden, mit meinen Konflikten und Problemen ins Gespräch kommen. Dann können diese mir den Schatz zeigen, der auf dem Grund meiner Seele darauf wartet, geborgen zu werden, und sie können mir zugleich auch den Weg zu diesem Schatz weisen.

Die Art, wie unsere Leidenschaften oder Krankheiten »bellen«, gibt uns auch an, wie wir durch sie hindurch zur Quelle in uns vordringen können. Das verlangt aber ein Umdenken in unserer Spiritualität. Unsere Spiritualität war oft zu männlich, zu animus-besetzt, zu sehr darauf aus, zu unterdrücken, zu beherrschen, in den Griff zu bekommen und zu beseitigen....

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