Wir führen eine offene Ehe –
und das bringt uns
wieder näher zusammen
Luise, 37
Vor fünf Minuten bin ich nach Hause gekommen und sitze jetzt mit einer Apfelschorle am Küchentisch. Auf meiner Zunge tanzt die Kohlensäure – und im Kopf die Erinnerungen an das, was in den vergangenen Stunden passiert ist.
Die Tür geht auf, mein Mann trägt zwei volle Supermarkt-Tüten herein. Er lächelt mich an und fragt: »Na, gut gevögelt?«
Ich antworte strahlend: »Ja – und was kochen wir heute Abend?«
Eine typische Szene aus unserer Ehe, so wie sie seit drei Monaten ist: offen. Christian und ich haben uns frei gemacht von dem, was die Gesellschaft als gute Beziehung bezeichnet. Wir haben uns gelöst vom konservativen Bild des monogamen Lebens. Wir sind ein Paar, ein sehr gutes sogar. Aber nun hat jeder die Freiheit, seine Sexualität so auszuleben, wie er es möchte. Es gibt also auch eine neben dem Eheleben.
Ich glaube, das würde sehr vielen Menschen sehr guttun. Mal in sich selbst hineinzuhorchen und herauszufinden: Was will ich eigentlich? Und kann ich das in meiner Beziehung bekommen? Wenn nicht, sollte es erlaubt sein zu sagen: Mir fehlt was. Darf ich mir das woanders holen?
Ich habe diesen Schritt gewagt, aber erst, nachdem es mir lange schlecht ging. Denn schließlich erlaubst du dir als gute Ehefrau nicht den Gedanken, dass es überhaupt die Möglichkeit gäbe, auch mit anderen Männern zu schlafen. Aus Angst, das würde die Liebe zerstören. Dabei hat unsere neue Offenheit das Gegenteil bewirkt: Christian und ich sind uns heute so nah wie nie zuvor. Und das, nachdem wir über zwei Jahre lang gar keinen Sex mehr miteinander hatten!
Wir sind seit 14 Jahren zusammen, verheiratet seit sieben. Ich lernte ihn nach einer sehr wilden Zeit in Münster kennen. Dort hatte ich meine Ausbildung gemacht und es richtig krachen lassen. Ich hatte mir alles gegönnt: kurze Beziehungen, Affären oder einfach nur Fickfreunde. Sehr euphorisiert und vielleicht auch ein bisschen übersexualisiert kam ich in meine alte Heimat zurück und traf dort auf Christian, einen sehr gut aussehenden, humorvollen und sportlichen Mann.
In den ersten Wochen liegen frisch Verliebte ja normalerweise jede freie Sekunde eng umschlungen im Bett. Bei uns aber war das anders. Wir gingen stundenlang spazieren, lachten und fanden heraus, dass wir im Leben die gleichen Ziele haben. Es passte einfach! Und ich fand es toll, von einem Mann mal nicht nur auf das Eine reduziert zu werden.
Was Erotik angeht, sind wir grundverschieden: Ich würde mich als sehr sexuellen Menschen bezeichnen, Christian ist das nicht. Meine Wünsche sind nicht extrem, aber was die Häufigkeit und Intensität unserer sexuellen Beziehung anging, war ich ziemlich unterversorgt. Nachdem wir zusammengezogen waren, beschäftigte sich Christian im Bett meist lieber mit einem Buch als mit mir. Andererseits stimmte es in allen anderen Bereichen: Christian ist wahnsinnig fürsorglich, das kannte ich von anderen Männern nicht. Er hat mich geerdet und tut das bis heute. Als sich herauskristallisierte, dass das zwischen uns etwas Ernstes ist, dachte ich: Mein unerfülltes Sexleben ist wohl der Preis, den ich dafür zahlen muss, dass ich einen ansonsten rundum tollen Mann erwischt habe. Du findest doch niemanden, der hundertprozentig zu dir passt. Wenn du auf 80 Prozent kommst, ist das doch ein super Wert!
Christian und ich sind ein tolles Team. Wir bewältigen gemeinsam unseren Alltag, erfüllen uns Träume.
So wie vor fünf Jahren – da kündigten wir unsere Drei-Zimmer-Stadtwohnung und zogen auf einen Resthof außerhalb von Osnabrück. Wir steckten alles rein, was wir an Zeit, Geld und Nerven zu erübrigen hatten. Schon als kleines Mädchen malte ich Bilder von einem Haus, neben dem ein Pony stand. Nun hatte ich es – und daneben grasten sogar zwei Pferde! Dazu Hühner, Kaninchen, Katzen und ein großer Bauerngarten mit einem Gewächshaus, in dem wir Paprika, Tomaten, Gurken und Mangold anpflanzten. Wenn uns Freunde besuchten, sagten sie immer: »Idyllischer geht’s nicht – das ist ja wie im Urlaub!«
Allerdings wie in einem sehr enthaltsamen, denn der Sex mit Christian wurde immer seltener. Es gab kleine Hochphasen, dann passierte mal wieder lange nichts. Es folgte eine Zeit, in der ich mir hintereinander gleich mehrere Körbe von ihm einfing. Und da hatte ich die Faxen dicke. Ich sagte: »Wenn du irgendwas von mir willst, sag mir Bescheid. Ich mache jetzt keine Versuche mehr. Das frustriert mich.« Normalerweise sind es ja immer die Männer, die öfter wollen als ihre Frauen. Bei uns war es anders herum. Und nach meiner Ansage folgte die erwähnte Sexpause, denn über zwei Jahre lang äußerte Christian kein Verlangen nach Sex mit mir. Wir lagen nebeneinander im Bett, doch mir schien es, als wären wir körperlich meilenweit voneinander entfernt.
Immerhin wusste ich, wie ich bei mir den Druck nehmen konnte. Ich arbeite nämlich nebenbei als Beraterin für Erotikspielzeug und zeige Frauen auf Partys bei ihnen zu Hause die neuesten Trends. Zum Höhepunkt bumsen muss mich keiner, das kann ich auch allein. Ganz gezielt, gar kein Problem. Aber das ganze Drumherum – das kann kein Spielzeug dieser Welt.
Mit einer Freundin sprach ich darüber, dass bei Christian und mir tote Hose herrschte. Sie meinte: »Du warst früher so wild, ich erkenne dich gar nicht wieder!« Ich spielte das Ganze runter: »Ach komm, Sex ist nicht alles.« Ich redete mir meine Situation lange schön. Es braucht manchmal seine Zeit, bis man darauf kommt, dass man nicht mehr man selbst ist und der Sex einem einfach im Leben fehlt.
Der Prozess meines Erwachens zog sich durchs ganze vergangene Jahr.
FRÜHLING
Durch den Frust in meiner Ehe habe ich mich richtig fett gefressen. So, dass ich mich selbst schon nicht mehr im Spiegel anschauen will. Doch im Frühling ist der Punkt erreicht, an dem ich entscheide: Du machst jetzt Sport und nimmst endlich ab! 15 Kilo verliere ich in einem Jahr und werde plötzlich wieder von anderen Männern wahrgenommen.
In der Zeit träume ich aber meist von einem ganz speziellen: ein Exfreund, mit dem ich vor einer Ewigkeit sensationellen Sex hatte. In diesem Punkt waren er und ich genau auf einer Wellenlänge – in anderen nicht, deswegen haben wir uns getrennt. Trotzdem ist er bis heute ein besonderer Mensch für mich.
Eines Morgens wache ich auf und habe seine alte Handynummer im Kopf. Ich gebe sie ein und sehe über WhatsApp, dass sie noch aktiv ist. Himmel hilf!
SOMMER
Ich traue mich, ihm zu schreiben. Nach einem zögerlichen Hallo, wie geht’s dir? von mir schreibt er gleich zurück. Hin und her gehen unsere Botschaften – und natürlich landen wir innerhalb von 48 Stunden beim Thema Sex. Sein Kommentar zu dem, was bei mir zu Hause abgeht:
Das ist ja so, als hätte man einen Ferrari in der Garage stehen und würde mit nem Fiat Punto zur Arbeit fahren!
Und ich denke nur: Wie toll wäre es, wenn du jetzt neben mir liegen würdest …
Mein Verlangen nach einem anderen Mann belastet mich ziemlich, und ich fange an, alles in Frage zu stellen: Wohin geht meine Reise? Wäre ich eventuell bereit, alles für einen anderen aufzugeben? Aber Christian und ich sind so gut zusammen! Das kann ich nicht einfach wegwerfen, nur weil ich mich chronisch untervögelt fühle. Das wäre doch dumm! Und abgesehen davon: Ich will mich nicht von ihm trennen!
HERBST
Im Herbst leide ich plötzlich unter extremen Schlafstörungen. Ich liege nachts um zwei wach, und in meinem Kopf rattert es – weil ich keinen logischen Ausweg aus meiner Situation sehe! Um wieder besser zu schlafen, trinke ich Alkohol, nehme Tabletten, kombiniere beides und lasse alles weg. Aber nichts funktioniert. Nachts rolle ich mich schlaflos von einer Seite auf die andere, tagsüber schlurfe ich hundemüde und mit Trauermusik auf den Ohren durch die Gegend. Christian gegenüber mache ich zunächst subtile Andeutungen, dann sage ich ihm direkt ins Gesicht: »Jetzt vögel mich doch mal wieder durch, damit ich vernünftig schlafen kann!«
Seine Antwort: »Meinst du wirklich, das hilft?«
WINTER
An Weihnachten, dem Fest der Liebe, platzt es aus mir heraus: »Ich kann das nicht mehr! Mir fehlt das Körperliche zwischen uns.« Christian erstarrt innerlich und äußerlich, weil er damit nichts anfangen kann. Er fragt: »Was soll ich denn jetzt machen?« Ich schweige, denn ich will keine Regieanweisungen geben. Darauf folgt eine hölzerne Umarmung. Du weißt, er macht das jetzt, weil er muss – nicht, weil es von Herzen kommt. Christian liebt mich, das steht außer Frage. Aber er hat die Bedeutung dieser Gesten nie gelernt. Er war noch nie ein Kuschler oder jemand, der dich gern in den Arm nimmt.
Wir gehen beide getrennt voneinander schon länger zu einer Hypnosetherapeutin, die uns hilft, uns weiterzuentwickeln. Sie rät mir: »Das ist Christians Thematik, die kannst du nicht für ihn mittragen. Unterstütze ihn, aber grenze dich auch ganz klar ab. Das ist seine Baustelle.« Obwohl ich weiß, dass es anscheinend einen triftigen psychologischen Grund für Christians Verhalten gibt, kann ich den Ist-Zustand nur noch schwer akzeptieren. Mir sind Berührungen nun einmal wahnsinnig wichtig! Die Therapeutin gibt mir ein wichtiges Mantra mit auf den Weg: Jeder ist für sich selbst verantwortlich!
Weil ich also nicht erwarten kann, dass Christian mein Problem löst, grüble ich weiter. Anfang Januar präsentiert Christian mir stolz einen Ratgeber, den er für mich bestellt hat. Darin geht es darum, wie man mit Hilfe von energetischer Medizin sein Schlafproblem los wird. »Probier das doch mal aus«, schlägt mein Mann vor.
In dem Moment klappe...