1 Gehörbildung
Abb. 1.1: Das »magische Viereck«. Ein Jazz-Solo zu spielen ist wie eine freie Rede zu halten. Ohne eine solide Basis aus Wissen und Können geht es nicht. Gehörbildung unterstützt beides. Komponieren entspricht hier dem systematischen Schreiben.
Gehörbildung dient der instantanen Orientierung beim Hören. Genau wie das Auge trainiert ist, Farben und Formen auf Anhieb zu erkennen, kann das Ohr trainiert werden, Intervalle, Tonleitern und Akkorde zu erkennen. Ziel der Gehörbildung ist es, jedem musikalischen Phänomen (Intervall, Harmonie, Rhythmus) eine Empfindung zuzuordnen:
musikalisches Phänomen ⇔ Empfindung
Die meisten dieser Übungen werden am Besten mit einem Übungspartner zusammen durchgeführt. Es gibt aber auch gute Computerprogramme zur Gehörbildung, wie etwa das freie »Solfege«.3 Auch konventionelle Lehrmedien6 sind hilfreich.
1.1 Unabdingbare Übungen
Nachsingen: Einer spielt eine Phrase vor, der Andere singt sie nach. Ohne Übungspartner behilft man sich und singt Phrasen von Aufnahmen nach. Das ist auch generell für das Heraushören von Themen oder Soli hilfreich.
Tab. 1.1: Die Intervalle auf dem Griffbrett und deren Bezeichnungen. Hier sind die Intervalle relativ zur Leersaite angegeben. Es ist üblich, die Intervalle in Akkordsymbolschrift in Zweierschritten anzuordnen, also als ungerade Zahlen 1, 3, 5, 7, 9, 11, 13. Daher die Darstellung in der Doppeloktave. Damit ist eine 7-tönige Skala definiert.
1 Oktave I
2 Oktave II
3 Quinte I
4 Quinte II
5 Quarte
6 große Terz
7 große Sexte
8 kleine Terz
9 große Sekunde
10 kleine Sexte I
11 kleine Sexte II
12 kleine Septime
13 große Septime
14 Tritonus
15 kleine Sekunde
Abb. 1.2: Die Intervalle wie man sie greift, ohne offene Saiten zu benutzen. Die Intervalle sind nach ihrem Grad der Konsonanz sortiert (s. Abb. 7.4): am Anfang steht die Oktave als konsonantestes Intervall, am Ende die kleine Sekunde als dissonantestes.
Mitsingen: beim Selber spielen. Da man ab und zu Luft holen muss, begrenzt das die Phrasenlänge nebenbei auf ein sinnvolles Maß. Bläser müssen das ohnehin, und diese waren meistens stilbildend im Jazz.
»Schneebälle zuwerfen«: Der Eine spielt eine kurze Phrase vor, der Andere spielt sie nach. Beim Solistenwechsel innerhalb eines Stückes kann das Nachspielen der letzten Phrase des vorangegangenen Solisten einen schlüssigen Übergang zum eigenen Solo knüpfen.
1.2 Intervalle hören
Ziel dieser Übungen ist es, ein Klangempfinden für Intervalle zu entwickeln. Man soll einfach »wissen«, wie sich eine große Terz, reine Quarte oder übermäßige None anhört. Die Intervalle sind samt Bezeichnungen und Spielweise in den Abbildungen 1.1 und 1.2 zusammengestellt. Am Wichtigsten sind natürlich die Intervalle innerhalb einer Oktave bzw. kurz darüber hinweg, also von der Prim bis etwa zur None. Ein nettes Vehikel, um sich Intervalle schneller einzuprägen, können bekannte Liedanfänge verschiedener Stilistiken sein, siehe z.B. im »ABC Musik«,57 Abschnitt 155, oder bei Aebersold.5 Die Übungen können wie folgt variiert werden:
Nacheinander oder gleichzeitig: Beide Intervalltöne werden nacheinander gespielt (»melodische Intervalle«). Einer spielt, der Andere hört heraus, um welches Intervall es sich handelt. In einer zweiten (schwierigeren) Übung werden beide Intervalltöne gleichzeitig gespielt (harmonische Intervalle).
Relativ zueinander oder zum Bezugston: Man kann die Töne relativ zueinander (etwa in ihrer Aufeinanderfolge) orten oder alle auf einen festen Bezugston beziehen (z. B. auf die auf das tiefe c oder d herunter gestimmte tiefe e-Saite).
Diatonisch oder chromatisch: Man kann sich auf eine Tonleiter (z. B. Durtonleiter) beschränken oder alle Töne zulassen.
Um den Schwierigkeitsgrad allmählich zu steigern, beschränkt man sich zuerst auf die wichtigsten Intervalle, bevor man mehr und mehr hinzunimmt:
- Nur sehr konsonante Intervalle: Oktaven, reine Quarten und reine Quinten
- . . . + kleine und große Terzen
- . . . + kleine und große Sekunden
- . . . + kleine und große Sexten (sind Kehrintervalle von Terzen)
- . . . + kleine und große Septimen und Tritonus
- . . . + Intervalle jenseits der Oktave
1.3 Dreiklänge und deren Bezeichnungen
Wir wollen uns hier auf die klassischen Dreiklänge beschränken, die aus einer Schichtung von Terzen (groß und klein) bestehen, siehe auch Kap. 4.4.1. Diese Dreiklänge befinden sich in Abb. 7.2 im inneren Fünfeck. Jeder Ton darf natürlich in jeder beliebigen Oktave erklingen!
Dreiklang als Ganzwort: Lerne, die Dreiklänge Dur, Moll (–), vermindert (○) und übermäßig (+) zu erkennen. »Als Ganzwort« bedeutet, dass jeder Dreiklang von Deinem Übungspartner (oder einem Computer) als Ganzes angeschlagen werden soll (und nicht als Arpeggio).
Als geordnete Tonmenge: Lasse Dir Dreiklänge vorspielen und erhöre, wo sich die Einzeltöne im Akkord befinden. Ist die Quinte ganz oben oder die Prim? Wo ist die Terz? Für jeden Akkord soll zugeordnet werden, wo die 1, 3, und 5 ist (unten, in der Mitte oder oben). Der tiefste Ton benennt die »Stellung«, der höchste die »Lage«.
Als Intervallstapel: Erkenne und benenne die Intervalle in vorgespielten Dreiklängen. Durch Umkehrungen und Oktavierungen entstehen in Dreiklängen Intervalle jenseits der Terz, z. B. Sext- oder Quartsextakkorde, siehe Tab. 4.2.
1.4 Stufen und Funktionen orten
Innerhalb von Kadenzen: Welcher Akkord in einer vorgespielten Kadenz ist die Tonika? Welcher die Dominante? Welche Funktionen können noch zugeordnet/erhört werden?
Im diatonischen Zusammenhang / Volkslieder begleiten nach Gehör: Versuche, ein Volkslied ausschließlich mit den Akkorden aus einer Tonleiter zu begleiten. Das ist bei den meisten Volksliedern problemlos möglich: Da ein beliebiger Ton einer gegebenen Tonleiter mindestens einmal in T, S oder D enthalten ist, lässt sich ein diatonisches Lied mit allein diesen drei Akkorden harmonisieren (vgl. auch Abschnitt 6.4):
Der Grundton (1) der Durtonleiter ist beispielsweise in der Tonika T als Prim sowie in der Subdominante S als Quinte enthalten. So kann jeder leitereigene Ton mit mindestens einem, manchmal sogar zwei verschiedenen Akkorden harmonisiert werden. Nicht-leitereigene oder sehr kurze Töne sind meist Durchgangstöne, die nicht extra harmonisiert werden.
1.5 Vierklänge erkennen
Vierklänge als Ganzwort: Erhöre und unterscheide die Qualitäten Δ, 7, –7, und ∅. Achtung, es gibt Mehrdeutigkeiten: –7/3 = 6, also z. B. A–7 = C6, oder, wenn man weitere Optionstöne hinzunimmt: Δ ≈ –7/9, also z. B. CΔ ≈ A–7/9, genauer CΔ = A–7/9 ohne Grundton, kurz A –7/9(1).
Vierklänge als zwei Dreiklänge: Jeden Vierklang kann man sich aus zwei Dreiklängen zusammensetzen, wobei zwei der Töne in jedem der Einzeldreiklänge enthalten sind. Beispiele: CΔ = C-Dur + E– oder E–7 = E– + G-Dur. Dies erschwert natürlich die Zuordnung Dur/Moll!
1.6 Tonleitern
Verschiedene Tonleitern sollen beim Hören erkannt werden. Die Einzeltöne sollten dabei natürlich nacheinander vorgespielt werden. Man beschränkt sich sinnvollerweise zuerst auf die gängigsten Tonleitern und nimmt, sofern diese mühelos erkannt und unterschieden werden, nach und nach weitere hinzu. Eine Zusammenstellung siebentöniger Skalen findet sich z. B. in Tab. 6.7.
- Starte z.B. mit Ionisch, Äolisch, Mixolydisch, Dorisch
- . . . plus restliche Kirchentonleitern
- . . . plus harmonisch und melodisch Moll
- . . . plus andere Modi aus harmonisch / melodisch Moll
- . . . plus exotische Skalen oder Modi, wenn man möchte.
Als Entscheidungshilfe zum Erkennen einer vorgespielten Skala beantworte man die Fragen
- Ist es eine Dur- oder Molltonleiter? Ist sie überhaupt tonal?
- Hat sie eine große oder kleine Septime?
- Welche Sexte? Groß oder klein?
- Welche None? Groß, klein oder gar übermäßig?
1.7 Rhythmus und Timing
Klopfübungen: Mache Dich mit binären, ternären und Polyrhythmen vertraut. Dazu sollen unterschiedliche...