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Das Konzept der 'Offenen Tür' in der akutpsychiatrischen Regelversorgung

Und dessen Wirkung auf Zwangsmaßnahmen und Zwangsbehandlungen von Patienten

AutorCedric Butze
VerlagStudylab
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl117 Seiten
ISBN9783668579231
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Trotz grundlegender Reformen bei der Behandlung von Patienten ist Zwang in der deutschen Psychiatrie noch immer weit verbreitet. Jede Zwangsbehandlung sowie jede Zwangsmaßnahme stellt dabei einen gravierenden Grundrechtseingriff dar. In einer Stellungnahme der zentralen Ethikkommission der Deutschen Ärztekammer hat Wiesing im 'Deutschen Ärzteblatt' festgestellt, dass dieses Bewusstsein bei den Fachkräften in der Psychiatrie nicht immer vorhanden zu sein scheint. Das Statement und die ethische Brisanz dieses Themas zeigen Mängel sowie den großen Handlungsbedarf in der psychiatrischen Praxis. Vor diesem Hintergrund entstand ein Umdenken hin zu einer Psychiatrie, die Zwang, Türschließung, Restriktion und Isolation in der Behandlung psychiatrisch erkrankter Menschen so weit wie möglich reduziert. Das Konzept 'Offenen Tür' wird bereits in mindestens zwanzig psychiatrischen Kliniken in Deutschland praktiziert und gilt dennoch mancherorts noch als unrealistische Vision. In dieser Publikation stellt der Autor die Öffnung von psychiatrischen Abteilung im Krankenhaus und einhergehende Konzepte auf institutioneller und organisatorischer Ebene in der akutpsychiatrischen Regelversorgung dar und vergleicht diese. Außerdem untersucht er in diesen Zusammenhang, inwieweit diese Ansätze dazu beitragen können, Zwangsmaßnahmen und -behandlungen von Patienten zu reduzieren. Darüber hinaus schließt der Autor rechtliche Fragestellungen ein, die sich in psychiatrische Einrichtungen mit offenen Eingangstüren stellen. In diesem Zuge klärt er beispielsweise, ob das Konzept der 'offenen Türen' überhaupt rechtlich zulässig ist und gerichtliche Unterbringung trotz geöffneter Türen durchgeführt werden kann. Aus dem Inhalt: - Psychiatriereform; - Akutpsychiatrie; - Zwangsmaßnahmen; - Versorgungssystem; - Gemeindepsychiatrie; - Home Treatment; - Soteria

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Leseprobe

4 Das psychiatrische Versorgungssystem


 

Die Versorgung von Menschen mit psychiatrischen Störungen ist von großer Bedeutung, unabhängig wie stark die krankheitsspezifische Symptomatik ausgeprägt ist. Dabei ist die Psychiatrie als wissenschaftlicher und medizinischer Schwerpunkt sowie als Hilfesystem geprägt durch die starken ethischen und strukturellen Wandlungen der letzten vierzig Jahre. Das Versorgungssystem entwickelte sich von einer traditionellen, krankenhauszentrierten Behandlung zu einer dezentralen, gemeindeorientierten und personenzentrierten Behandlung und Versorgung.[53] Die psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungsstrukturen, welche als Hilfsangebot für die Betroffenen dienen sollen, müssen die Aufgabe erfüllen, eine bedarfsgerechte und nach aktuellen fachlichen Standards orientierte Basisversorgung zu gewährleisten. Um dies adäquat umsetzen zu können, bedarf es einem multiprofessionellen Angebot. Daraus abgeleitet zeigt sich die psychiatrische Versorgungslandschaft als fragmentiertes Konstrukt mit einer Vielzahl von unterschiedlich agierenden Berufsgruppen, Leistungserbringern und Kostenträgern.[54]

 

4.1 Zum Verständnis von Psychiatrie


 

Der Begriff der Psychiatrie kann laut der einschlägigen Literatur in drei unterschiedlichen Zusammenhängen betrachtet werden.

 

Zunächst ist die Psychiatrie als ein Fachgebiet der Medizin zu verstehen. Als medizinische Wissenschaft beschäftigt sie sich mit der Prävention, Diagnose, Behandlung und Erforschung psychiatrischer Krankheiten.[55] Ein Überblick über die verschiedenen psychiatrischen Störungen gibt das weltweit anerkannte Diagnose-klassifikationssystem der Medizin, die ICD-10[56] (Tab. 1). Psychiatrische Krankheiten sind nach dem Internationalen Diagnoseklassifikationssystem per Definition „Störungen des Erlebens und Verhaltens“. Psychiatrische Krankheiten äußern sich demnach im gestörten Erleben, wenn ein Patient folglich unter Halluzinationen oder Ängsten leidet oder bei schweren Verhaltensauffälligkeiten, wie Suizidabsichten, Selbstvernachlässigung oder krankheitsbedingtem eigen- und fremdaggressiven Verhalten.[57]

 

 

Tabelle 1: ICD-10-WHO Version 2016, Psychische und Verhaltensstörungen[58]

 

Des weiteren wird Psychiatrie als ein konkreter sozialer Ort verstanden, worunter Kliniken, Landeskrankenhäuser und psychiatrische Abteilungen zählen. An diesen Orten wirken die theoretischen Erkenntnisse aus der Medizin in die Behandlung von Patienten ein. Die psychiatrische Klinik als institutionelle Organisationsform trug wesentlich dazu bei, die Psychiatrie als medizinische Disziplin gesellschaftlich zu etablieren. Dörr ist außerdem der Meinung, dass psychiatrische Kliniken „[...] eine der härtesten Formen manifester sozialer Kontrolle und institutioneller Verwahrung darstellen [...].[59]

 

Schlussendlich wird die Psychiatrie als eine soziale Institution betrachtet, die „[...] als Antwort auf soziale Fragen entstanden und folglich ein Resultat des Zusammenspiels von gesellschaftlichen Bedarf und Ressourcen ist.“[60]

 

4.2 Die gemeindenahe Psychiatrie und dessen Bedeutung für die psychiatrische Versorgungslandschaft


 

Die Expertenkommission der Enquête beschreibt Gemeindenähe als „[...] Kopplung psychosozialer Versorgung mit allen anderen kommunalen Betreuungsstrukturen und eine möglichst geringe Entfernung aller Behandlungsmöglichkeiten vom Lebensbereich der Patienten, um einen Abbruch der sozialen Bezüge zu verhindern, bzw. eine Wideraufnahme zu erleichtern.“[61] Entsprechend sollen psychiatrische Erkrankungen dort behandelt werden, wo sie entstehen und zum Vorschein kommen, nämlich im unmittelbaren Lebensumfeld der Betroffenen und nicht in spezialisierten Institutionen und gar hinter Anstaltsmauern.[62]

 

Die gemeindenahe Psychiatrie versteht sich in Reflexion als versorgungsstrukturelles System, welches das Ergebnis der Psychiatrie-Enquête aus dem Jahr 1975 war.[63] Hinsichtlich der Grundforderungen der Enquête wurde nun durch die Aktivitäten des Gesetzgebers eine gemeindenahe Versorgung sowie die Stärkung kommunaler Verantwortlichkeiten angestrebt. Es ging also darum, die psychiatrische Versorgungslandschaft in Deutschland von Grund auf umzustrukturieren, um eine bedarfsgerechte und umfassende psychiatrische Versorgung betreffend aller psychiatrisch Erkrankten und Behinderten zu sichern.[64] Bei dem durch die Enquête ausgelösten Prozess der Umstrukturierung, weg von den menschenunwürdigen Groß-krankenhäusern, hin zu einem Mehr an integrierten psychiatrischen Abteilungen in den Allgemeinkrankenhäusern, ging es vor allem darum, ambulante Versorgungsstrukturen in der Gemeinde aufzubauen - also Angebote im direkten Lebensumfeld der Betroffenen zu schaffen. In Folge dessen haben psychiatrisch erkrankte Menschen nunmehr die Möglichkeit, sich ganzheitlich in die Gemeinde, also in die Gesellschaft zu integrieren. Das ermöglicht ihnen, im gewohnten Lebensumfeld zu wohnen, zu arbeiten und dort ihre Freizeit zu verbringen.[65]

 

Die ambulanten Versorgungsangebote haben sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend entwickelt. Inzwischen sind zahlreiche Angebote, wie psychiatrische Institutsambulanzen, Kontakt- und Beratungsstellen sowie (ambulante) sozial-psychiatrische Dienste, entstanden.[66] Der Entwicklungsprozess war merklich weitreichend, doch scheint dieser bis heute nicht abgeschlossen zu sein, vor allem vor dem Hintergrund des großen Angebotsunterschieds zwischen ländlicher Gemeinde und den Behandlungs- und Versorgungsangeboten in städtischen Ballungsgebieten. Selbst in Städten, die meistens eine relative gute psychiatrische Versorgung aufweisen, sind aufgrund des Ärztemangels die Wartezeiten für einen Termin beim Facharzt oft über drei Monate. In ländlichen Regionen findet dahingehend oft gar keine psychiatrische oder psychotherapeutische Versorgung statt.[67]

 

4.3 Die Säulen des gemeindepsychiatrischen Versorgungssystems


 

Die Gemeindepsychiatrie, das Fundament der psychiatrischen Grundversorgung[68], ist geprägt durch eine Vielzahl von Leistungserbringern und Angeboten. Die Versorgungs- und Behandlungsangebote beziehen sich, wie im vorherigen Kapitel beschrieben, auf die Gemeinde, also auf eine Region, in der eine bestimmte Anzahl von Menschen leben.[69] Das gemeindenahe Versorgungssystem setzt sich dabei aus vier Säulen zusammen. Grundsätzlich kann hier von stationären, teilstationären, ambulanten und komplementären Versorgungsangeboten unterschieden werden.[70] Neben den eingangs genannten traditionellen Behandlungssettings ((teil-)stationär, ambulant und komplementär) haben sich in den letzten Jahren neue integrative Versorgungsformen modellhaft entwickelt und zum Teil etabliert.[71] Diese verschiedenen Formen sind nicht an bestimmte Behandlungssettings gebunden. Vor dem Hintergrund der zentralen Ziele der Psychiatrie-Enquête, nämlich alle an der psychiatrischen Versorgung beteiligten Berufsgruppen und Leistungserbringer kontinuierlich zu vernetzen, als auch aufgrund der Fragmentierung des Systems, ist es notwendig, die verschiedenen Behandlungs- und Hilfsangebote hinreichend miteinander zu koordinieren. Deshalb ist es wichtig, dass alle an dem Versorgungssystem beteiligten Akteure miteinander kooperieren, um einerseits die Zusammenarbeit und andererseits eine bedarfsgerechte Behandlung psychiatrisch kranker Menschen zu gewährleisten. [72] Aus diesem Grund sind die Teilbereiche des gemeindepsychiatrischen Versorgungsystems in der nachfolgenden Tabelle mit der Schnittstelle „Kooperation und Koordination“ miteinander verbunden.

 

 

 

Tabelle 2: Säulen der gemeindepsychiatrischen Versorgung (eigene Darstellung)

 

4.3.1 Stationäre und teilstationäre Versorgung


 

Die erste Säule des gemeindepsychiatrischen Versorgungssystems beinhaltet den Bereich der stationären und teilstationären Grundversorgung von psychiatrisch kranken Menschen. Dieser wird von psychiatrischen Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern oder von Fachkrankenhäusern (den ehemaligen psychiatrischen Großkrankenhäusern) unter der Trägerschaft von Ländern, Kommunen oder freigemeinnützigen und privaten Anbietern wahrgenommen. Diese krankenhausorientierte Form der Versorgung zielt insbesondere auf Patienten ab, welche eine Akutbehandlung bzw. eine besondere Behandlungsintensität bedürfen.[73] Die Krankenhäuser sind seit 1997 dazu verpflichtet, für ein exakt definiertes Einzugsgebiet den Versorgungsauftrag zu übernehmen, was eine wohnortnahe stationäre Behandlung sicherstellen soll.[74] Die Finanzierung der zu erbringenden Leistungen am Patienten werden von den zuständigen gesetzlichen und privaten Krankenkassen gemäß Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) erbracht.[75] Das Entgeltsystem für stationäre und...

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